»Mama, just killed a man«

Alles begann als jemand Jim die Kopfhörer von den Ohren riss und Freddys Stimme laut verkündete: »Mama, just killed a man.«

„Lass das!", fauchte Jim seinen Bruder an, dem offenbar langweilig geworden war und der ihn nun nerven wollte.

„Was hörst du, Jimmy?", fragte Rich und setzte sich die Kopfhörer selbst auf, obwohl die Musik laut genug dröhnte, dass selbst ihre Eltern, die vorn im Auto saßen und noch kein Wort in den letzten anderthalb Stunden gesagt hatten, sie hören mussten.

Schon kurz darauf verzog Richard das Gesicht. „Du solltest deinen Musikgeschmack ändern. Von wann ist das? 1930?"

„1975", knurrte Jim genervt und entriss seinem Bruder die Kopfhörer. „Und mit meinem Musikgeschmack ist alles in Ordnung."

„Du weißt doch gar nicht, welche Lieder nach 1999 herauskamen. Du hörst immer nur dein blödes King und Gee Bees."

„»Queen« und »The Bee Gees«! Deine Dummheit tut weh, Richard!" Jim setzte sich die Kopfhörer auf und stellte seine Musik noch ein wenig lauter, ehe er seinen Kopf wieder an das kühle Glas des Autofensters lehnte und beobachtete wie die Landschaft immer weiter wurde.

Die Stadt hatten sie schon lang hinter sich gelassen und sie mussten sicher noch ein paar Stunden fahren bis sie ihr Ziel erreicht hatten. Ihr Ziel. Seine neue Schule.

Jim hatte schon länger geahnt, dass seine Eltern nach einer Möglichkeit suchten, ihn zu sozialisieren. Aber dass sie ihn und seinen Bruder dafür auf ein Internat schicken würden, das zweihundert Kilometer entfernt lag und quasi ein Heim für schwierige Jugendliche (so hieß es in der Broschüre) war - das hätte er nicht mal ihnen zugetraut.

Er ignorierte seinen Bruder, der ihn immer wieder ansprach oder in die Seite piekste, um seine Aufmerksamkeit zu erregen. Jim hätte es nicht einmal sonderlich schlimm gefunden, auf dieses Internat zu gehen, wenn er nicht auch mitgekommen wäre. Mit dem Ellenbogen wehrte er den Arm Richards ab und lehnte sich dann zurück.

Nur noch ein paar Stunden, dachte er und schloss die Augen. Dann kannst du einfach so tun, als würdest du ihn nicht kennen.

Natürlich war das nur Wunschdenken; sein Bruder und er sahen sich noch ähnlicher als normale Geschwister, Richard war nur ein wenig größer und muskulöser als Jim und noch dazu eineinhalb Jahre älter. Jedem würde die Ähnlichkeit zwischen den Beiden auffallen, egal wie oft Jim behaupten würde, ihn nicht zu kennen - an seiner alten Schule hatte das auch nie geklappt.

Er seufzte tief, blickte wieder aus dem Fenster. Sah weite Felder vor blassgrauem Himmel. Irgendwann schlief er ein.

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Richard schubste ihn aus dem Auto bevor Jim richtig wach war. Es war früher Nachmittag und sie hatten die Schule erreicht.

Jim ließ seinen Blick gelangweilt über die drei verblichenen Gebäudekomplexe schweifen, die vermutlich seit siebzig Jahren nicht mehr restauriert worden waren. Eigentlich waren es vier - das hohe Gebäude ganz links hatte einen kleineren Anbau, in dem vermutlich die Lehrer untergebracht waren (Jim bezweifelte, dass Schüler und Lehrer in ein Gebäude kamen; das wäre sicher fatal).

Sein Vater hatte am Rande des Grundstückes gehalten, als hätte er sich nicht getraut, weiter zu fahren. Große eiserne Tore führten auf das Gelände des Internates, ein Weg schlängelte sich einmal um den ganzen Hof, der beinahe wie ein kleiner Park wirkte und der Rasen war so grün und gepflegt wie auf den Bildern in der Broschüre, was Jim ziemlich nervte - er hatte gehofft, seinen Eltern schlechtes Gewissen bereiten zu können, wenn er hervorhob, dass das alles überhaupt nicht so aussah, wie es ihnen weisgemacht worden war.

Aus seinen Kopfhörern dröhnte noch immer Musik, weshalb er zunächst nicht mitbekam, dass sein Vater ihn angesprochen hatte. Erst als er ihm auf die Schulter klopfte, bemerkte Jim es.

Er stellte die Musik ab und blickte den Mann vor sich an. Er sah alt aus. Und grau. Gebrechlich. Jim weigerte sich zu glauben, dass er eines Tages auch so aussehen könnte. So verbraucht.

„James, wir müssen wieder los. Deine Mutter und ich wollen nicht zu spät wieder in Dublin sein."

„Ich heiße Jim", entgegnete Jim nur. Sein Vater nannte ihn nie Jim, egal wie oft sein Sohn ihm erklärte, dass er nicht James genannt werden wollte (dieser Name war so normal - er kannte drei James' von seiner alten Schule und mindestens zwei weitere James', die mit seinen Eltern befreundet waren.)

„Ich bin mir ziemlich sicher, dass das in deiner Geburtsurkunde anders steht", sagte sein Vater amüsiert und hockte sich dann vor ihm hin, wie er es immer getan hatte, als Jim noch klein gewesen war. Jim musste schwer an sich halten, nicht die Augen zu verdrehen - er war beinahe genauso groß wie sein Vater und es gab keinen Grund, wieso dieser sich hinhocken müsste, um mit ihm auf Augenhöhe zu sein. Aber er sagte nichts; er blickte verächtlich auf seinen Vater nieder und fragte sich, ob dessen Beine mittlerweile einfach zu schwach waren, um ihn zu halten.

Jim hasste Schwäche.

„Hör zu, Kumpel" Er redete auch noch mit Jim, wie er es getan hatte, als er klein gewesen war. Diesmal verdrehte Jim doch die Augen. „Ich weiß, du hasst mich und deine Mutter vermutlich, weil wir euch hierher gebracht haben. Aber so ist es für uns alle leichter und wir sehen uns immerhin in den Ferien und jedes zweite Wochenende." Sein Vater lächelte ihn warm an und Jim biss sich auf die Zunge, um nicht damit herauszuplatzen, dass er nicht vorhatte, fünf Stunden mit dem Zug zurück nach Dublin zu fahren, nur um die Menschen zu sehen, die ihm zufälligerweise das Leben geschenkt haben (immerhin sollten sie dann doch verstehen, dass er dieses Leben nicht so verschwenden konnte).

Als Jim noch immer nicht antwortete, verblasste das Lächeln auf dem grauen Gesicht seines Vaters. Ächzend hievte er sich hoch und streckte Jim die Hand entgegen. Dieser schüttelte sie und zwang sich ein schiefes Lächeln auf die Lippen.

„Pass auf deinen Bruder auf, James. Und pass auch auf dich auf. Und bevor du jetzt etwas sagst; ich weiß, dass ich mir keine Sorgen um dich machen sollte, aber ich bin dein Vater - das ist meine Aufgabe. Also... Stell einfach nichts an, wofür du ins Gefängnis kommen könntest, okay?" Sein Vater zwinkerte ihm zu. Jim musste grinsen. Dieser Mann wusste genauso wenig über die Machenschaften seines Sohnes wie über die seiner Frau. Aber Jim war nicht der, der ihm das erklären würde.

Der Abschied von seiner Mutter lief kurz und schmerzlos ab - ein Händeschütteln, einige geheuchelte Tränen ihrerseits, falsches Lächeln seinerseits.

Innerhalb kürzester Zeit standen Jim und Richard im Staub des davonrasenden Autos und Jim könnte schwören, dass er seine Eltern noch nie so erleichtert gesehen hatte, wie als sie ihre Kinder vor dem alten Tor zurückgelassen hatten.

Naserümpfend drehte Jim sich weg und fuhr den Griff an seinem Reisekoffer aus. „Komm schon, Rich! Ich will mir die neue Anstalt ansehen."

Sein Bruder folgte ihm wie ein treuer Schoßhund.

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„Ihre Zimmernummern", sagte die gelangweilte Dame, in deren Büro Jim und Richard standen. „Die meisten Schüler werden erst morgen eintreffen und am Montag ist dann der erste Schultag. Wenn Sie irgendwelche Fragen haben, können Sie ältere Schüler oder Ihre Lehrer fragen." Was so viel bedeuten sollte, wie: Verschwindet endlich, den Rest findet ihr schon selbst raus.

Jim nahm schweigend das Papier entgegen und öffnete dann die Tür. „Danke!", hörte er seinen Bruder noch sagen (dieser Dummkopf und seine blöde Höflichkeit), ehe die Beiden wieder auf dem dunklen Flur standen.

„Tja, Jimmy." Richard legte einen Arm um die Schulter seines jüngeren Bruders, woraufhin dieser sich sofort verspannte und ihn böse anfunkelte. Das ignorierte der Ältere jedoch gekonnt - nach sechzehn Jahren war er daran schon gewöhnt. „Scheint so, als wären wir momentan fast die Einzigen an dieser gottverdammten Schule... Was wollen wir anstellen?"

Jim grinste - so schlimm war sein Bruder manchmal doch nicht und er kannte ihn besser als irgendwen sonst. „Ich finde", sagte Jim langsam, „wir sollten uns mal diesen Schul-Kiosk ansehen, den sie erwähnt hat. Aber vorher will ich diesen blöden Koffer loswerden."

Also liefen sie noch einmal quer über den Rasen, um zu dem gegenüberliegenden längeren Gebäude zu gelangen, in welchem sich die Schlafräume der Schüler befanden. (Jim hatte mit seiner Vermutung Recht behalten - Lehrer und Schüler hielt man hier lieber getrennt.) Es sah - wie Jim unwillig zugab - wirklich beeindruckend aus. Die Fenster waren hoch und blank geputzt und an der Fassade kletterten Schlingpflanzen empor - nicht dieses Gestrüpp, welches man so oft sah, sondern dicke, grüne Stränge, die im Sommer sicher Blüten trugen.

Durch eine schwere Tür aus Eichenholz traten sie ins Innere des Gebäudes und fanden sich direkt gegenüber einer breiten Treppe, wie sie in Schlössern aus Filmen immer zu sehen war.

Richard pfiff beeindruckt und der Laut hallte von den Wänden wider. Jim sah auf den Zettel. „Dein Zimmer ist Nummer 234 und meins 221, das müsste also auf derselben Etage liegen. Komm!"

Zwei Stufen auf einmal nehmend stolperten die beiden Jungen, die Koffer hinter sich her schleifend, schon beinahe ins zweite Stockwerk. Der Korridor auf den sie dann traten unterschied sich nicht von dem aus dem ersten Stock - nur eine Ritterrüstung, die unten nicht gestanden hatte, zeigte, dass sie sich nun weiter oben befanden. Jim ließ seinen Koffer stehen.

Nachdenklich schritt er auf die Rüstung zu und betrachtete sein verschwommenes Spiegelbild auf dem blanken Metall. Die Rüstung war größer als er, da sie auf einer Art Podest stand, was ihn irgendwie störte. Probehalber zog er an dem Schwert, auf das der Ritter sich stützte. Mit einem lauten Quietschen kippte es ihm entgegen.

„Spinnst du?!", fragte Richard erschrocken und eilte ihm zu Hilfe, als Jim wegen des Gewichts des Schwertes strauchelte. Lachend ließ Jim los, sobald sein Bruder das Metall berührte und mit einem unschönen Knirschen, fiel das Schwert endgültig aus den Händen des Ritters und auf seinen überraschten Bruder.

„Aua!", beschwerte er sich, als er verdutzt auf den Hintern plumste und das Schwert laut scheppernd neben ihm auf dem Boden landete. Jim schlenderte zu ihm und bückte sich nach dem Schwert - hob es dann beinahe mühelos auf. Richard rappelte sich auf und riss es ihm aus der Hand.

„He! Das ist ja gar nicht so schwer, wie du getan hast!", empörte sich sein Bruder. Jim zuckte lediglich mit den Schultern.

Er lief zu der Tür, die am nächsten war und sah auf die Zimmernummer. „Das hier ist 209, also sind wir schonmal richtig." Er drehte sich zu Richard um, der verzweifelt versuchte, dem Ritter sein Schwert wieder in die Hände zu drücken. „Lass es doch einfach da liegen."

„Nein! Da sind doch unsere Fingerabdrücke dran!", erklärte Richard schon beinahe panisch, woraufhin Jim bloß den Kopf schüttelte.

„Warum zum Teufel, sollte jemand nach Fingerabdrücken suchen? Es wird einfach so aussehen, als wäre jemand versehentlich dagegen gestoßen und dann ist das blöde Ding eben runtergefallen. Jetzt komm schon, sonst lasse ich dich hier."

„Oh nein", entgegnete sein Bruder sarkastisch und lehnte das Schwert rechts vom Ritter an die Wand. „Mein blöder, kleiner Bruder lässt mich ganz allein in diesem verwunschenen Schloss voller Monster zurück und dann auch noch in der berüchtigten zweiten Etage! Ich scheiß' mir gleich ein."

Jim verdrehte genervt die Augen. „Halt die Klappe."

Gemeinsam schlenderten sie weiter den Flur entlang bis sie an Nummer 221 angelangt waren. Jim drehte sich schwungvoll zu Richard um. „Ich will nur noch einmal wiederholen, dass ich ab morgen nur noch mit dir rede, wenn es wirklich wichtig ist. Und wenn du mich irgendwem gegenüber erwähnst oder mich als deinen Bruder vorstellst, setze ich dir in der Nacht Würmer ins Bett, die deinen Arm durchlöchern."

Richard machte große Augen. „Sowas gibt's?"

Jim rümpfte die Nase. „Hast du verstanden?"

„Jawohl, Sir. Niemand darf wissen, dass der düstere Psycho-Junge, der mir so ähnlich sieht, mein Bruder ist. Ich weiß nicht, ob du nicht eher mir einen Gefallen damit tust. Vermutlich ist es sowieso leichter Freunde zu finden, wenn du ihnen nicht drohst, ihnen Würmer in die Betten zu setzen."

Jim verdrehte die Augen. „Ich will nur nicht, dass jemand denkt, ich wäre so ein Dummkopf wie du."

Richard klopfte ihm auf die Schulter und erntete erneut einen bösen Blick. „Danke, Bruderherz. Du bist rührend. Und jetzt will ich endlich dein Zimmer sehen, in das ich danach vermutlich nie wieder rein darf."

Bevor Jim den Mund aufmachen und sagen konnte, dass er auch jetzt nicht in sein Zimmer durfte, hatte Richard bereits die Tür aufgerissen (das erste, was Jim machen würde: die Tür abschließen).

„Huch!", entfuhr es ihm nach einem kurzen Blick in den Raum und stirnrunzelnd blickte Jim an ihm vorbei in das Zimmer. Sonderlich viel sah er nicht - Richard stand mitten im Weg - also drängte er ihn genervt zur Seite.

Das Zimmer war relativ groß und ausgefüllt mit zwei Schreibtischen, die zwischen zwei Betten und zwei Schränken standen. Jims Stirnrunzeln vertiefte sich. Wieso gab es hier alles zweimal...? Sein sonst so schnelles Gehirn kapierte nur langsam, dass seine Eltern ihm einen wichtigen Punkt verschwiegen hatten - es war nie die Rede von einem Zimmergenossen gewesen!

Dann schweifte sein Blick zu dem Bett an der linken Wand, das nahe einer geschlossenen weißen Tür stand, welche offenbar in ein Badezimmer führte. Er blinzelte überrascht.

In dem Bett, versteckt unter zerknitterten Decken und Kissen, lag jemand. Ein Junge. Sein Zimmergenosse.

Zunächst dachte Jim, er würde schlafen und hätte sie noch nicht gemerkt, doch dann grummelte eine tiefe Stimme: „Tür zu, es zieht!"

Richard und Jim wechselten einen kurzen Blick. Dann feixte Jims älterer Bruder und packte die Türklinke.

„Dann lass ich euch mal allein!" Damit zog Richard die Tür hinter sich zu und ließ Jim mit einem Fremden zurück.

„Was zur Hölle tust du denn hier?!"

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