26. Zweifel, Ablenkung und eine Erklärung
Nachdem Hermine ihrer Hauslehrerin mitgeteilt hatte, warum sie die ganze Nacht nicht auffindbar gewesen war und dafür fünf Punkte Abzug hatte hinnehmen müssen, saß sie nun zur Mittagspause mit ihren Freunden in der großen Halle. Sie hatte sich nur wenig von der Lasagne auf den Teller geschaufelt und beeilte sich schnell fertig zu werden, damit sie Severus noch in der Mittagspause eine Antwort schrwiben konnte. Das mit dem Beeilen gestaltete sich allerdings schwierig, da sie nach jedem Bissen über das Verschwinden ihres Freundes ausgequetscht und mit den aktuellen Gerüchten darüber konfrontiert wurde.
"Sarah Chester meinte heute morgen, dass Schniefelus überstürzt abgehauen wäre, weil er wohl mit seinen Zimmergenossen nicht auskäme", gab Sirius gerade das nächste Gerücht zum Besten, "Und Ruby Mayers meinte, dass er von der Schule geflogen wäre."
"Und warum sollten sie ihn bitte rausschmeißen?", fragte Lily genervt, "Du weißt selbst, dass er sich an die Regeln hält. Also hör auf so einen Mist zu erzählen."
"Ich wollte euch nur einen Überblick über den aktuellen Tratsch geben", meinte dieser und setzte ein Engelsgesicht auf.
"Was stimmt denn nun?", wandte sich James nun an Hermine.
"Alles was ich dazu sage, ist, dass alles, was ihr bisher gehört habt, Quatsch ist", stellte sie klar und damit auch, dass sie ihnen den wahren Grund nicht sagen würde. Das stand ihr nicht zu, das war Severus' Angelegenheit.
"Ach, komm schon, wir sind doch Freunde", bohrte Sirius weiter und legte ihr einen Arm um die Schulter, "Wir erzählen es auch nicht weiter."
"Und ich bin der Kaiser von China", meinte Hermine genervt und nahm seinen Arm von ihrer Schulter, "Ihr wollt euch doch nur wieder lustig machen. Was ich mich dabei aber die ganze Zeit schon frage; Wird euch das nicht irgendwann mal langweilig?"
"Über Schniefelus zu reden? Nie!", meinte Sirius schelmisch grinsend und Hermine hatte bereits den Mund geöffnet um etwas zu erwidern, als Harry sich zu Wort meldete.
"Jetzt lasst sie doch wenigstens in Ruhe essen", sagte er und schüttelte den Kopf, "Sie hat immerhin nicht gefrühstückt." Er konnte sich denken, dass sie einfach nur schnell in ihren Schlafsaal wollte um ihm zu schreiben. Ihm hatte sie, im Gegensatz zu den Anderen, gesagt was geschehen war. Er konnte sich vorstellen, wie es seinem zukünftigen Professor gehen musste. Es war nicht leicht ein Elternteil zu verlieren, auch wenn er über die Beziehung von ihm und seinem Vater nicht viel wusste.
"Wenn sie ihn rausgeworfen hätten, dann wüssten wir es sicher schon", meinte Peter nun und zuckte die Achseln.
"Stimmt, das wäre sicher nicht verborgen geblieben", sagte James, "Aber wenn es nicht das ist und er, wie Hermine sagt, nicht abgehauen ist, was dann?"
So war Hermine dazu verdammt, sämtlichen Theorien zu lauschen, während sie ihren Teller leerte und dann und wann die Augen verdrehte.
"Können wir vielleicht wieder über etwas Anderes reden?", bat Lily irgendwann, als auch ihr die Theorien zu wüst wurden.
"Lily! Jetzt verdirb uns doch nicht den Spaß", meckerte Peter.
"Ja, endlich passiert mal was spannendes hier", pflichtete Sirius ihm sofort bei.
"Ich frage mich ob du es auch so lustig fändest, wenn es um dich ginge, Peter?", warf Harry ein.
"Ja, immerhin gibt es auch die wildesten Theorien wo du immer bist, während du behauptest in der Eulerei oder der Bibliothek zu sein", sprang Lily auf den Zug auf und grinste Harry verschwörerisch an. Hermine warf beiden einen dankbaren Blick zu und kratzte den letzten Rest Lasagne auf ihrem Teller zusammen.
"Hey, was habe ich denn jetzt damit zu tun?", fragte Peter defensiv.
"Die Frage ist berechtigt", warf Remus ein.
"Da hat Moony Recht!", rief Sirius, "Niemand schreibt so oft seinen Eltern."
"Doch, ich!", meinte Peter verteidigend.
"Warum finden wir dich dann nie in der Eulerei?", ließ sich nun auch James von ursprünglichen Thema ablenken und Hermine ergriff die Gunst der Stunde und verließ ohne ein weiteres Wort und schnellen Schrittes die große Halle. Sie hörte noch wie Peter fragte, ob sie ihm nachspionierten, bevor sie außer Hörweite war. Die Antwort interessierte sie zwar brennend, aber Severus war jetzt wichtiger.
In ihrem Zimmer angekommen griff sie eilig Feder, Tinte und Pergament und setzte zu einer Antwort an, stockte dann aber. Was schrieb man jemandem der gerade seinen Vater verloren hatte? Vor allem wenn dieser Jemand eine solch schwierige Beziehung zu ihm gehabt hatte. Als wollte sie sie um Rat bitten, sah Hermine die pechschwarze Eule an, die noch immer auf dem Bettpfosten saß und sie ihrerseits aufmerksam musterte. Severus hatte ihr geschrieben, dass er selbst nicht wüsste was er fühlte, dass diese Gefühle verwirrend waren und er vor allem seiner Mutter in ihrer Trauer beistehen wollte. Aber was war mit seiner Trauer? Würde er sich auch Zeit dafür nehmen, sobald sie kam? Sie wünschte sie könnte jetzt bei ihm sein, ihn umarmen und ihm helfen alles für sich zu klären. Mit diesem Wunsch fing sie schließlich ihren Brief an. Drückte anschließend ihr Bedauern aus und forderte ihn auf, ihr immer zu schreiben ob Tag oder Nacht, oder mit seiner Mutter zu sprechen, wenn er sich mit seinen Gefühlen zu der Situation nicht sicher war. Sie schrieb, dass sie an ihn dachte und immer für ihn da sein würde, auch wenn sie selbst wusste, dass diese Aussage nicht ganz der Wahrheit entsprach. Denn in weniger als zwei Monaten würde sie ihn für eine sehr lange Zeit verlassen. Sie schob ihr schlechtes Gewissen jedoch vorerst beiseite und beendete den Brief und steckte ihn in einen Umschlag, den sie anschließend versiegelte und der Eule reichte. "Bring das zu Severus", sagte sie und trug sie auf dem Arm zum Fenster, wo sie den Vogel frei ließ.
Sie sank auf ihr Bett und seufzte. Wie gerne würde sie mehr für ihn tun, als ihm nur diese wenigen Worte zu schicken.
*
"Wie geht es Severus?", fragte Lily sie am Abend, als sie zusammen im Bad standen.
"Den Umständen entsprechend", meinte Hermine etwas ausweichend.
"Es ist sein Vater, oder?", fragte die Rothaarige und legte ihre Bürste zurück in ihr Kulturtäschchen.
Hermine überlegte kurz, ob sie ihr alles sagen dürfte, nickte dann aber.
"Ich wollte ihm vielleicht schreiben", sagte Lily und sah Hermine fragend an, als bäte sie um Erlaubnis.
"Mach das, er freut sich sicher darüber", antwortete sie und lächelte verbindlich.
"Oh gut, dann mache ich das. Ich wollte nur erst dich fragen, ob- Naja, ob es wohl angemessen wäre", meinte sie verlegen.
"Warum sollte es das denn nicht sein?", fragte sie überrascht.
"Naja, er ist immerhin dein Freund und- Ach, ich weiß auch nicht", erklärte Lily, "Ich wollte wohl nur sichergehen, dass es okay ist."
"Ihr seid doch auch wieder Freunde", stellte Hermine klar und zuckte die Achseln.
"Ja, natürlich, irgendwie schon", murmelte die Rothaarige, "Aber du hast einmal gedacht, dass wir vielleicht etwas füreinander empfinden könnten, ich wollte nicht, dass du das falsch verstehst."
Daher wehte also der Wind, sie hatte Angst sie könnte sauer auf sie sein. Gerade nach der ganzen Streiterei mit James diesbezüglich, konnte sie nur zu gut verstehen, dass sie auf weitere Probleme verzichten konnte. Aber dachte sie wirklich, sie würde ihr Mut machen, wieder mit Severus zu sprechen, nur um dann eifersüchtig zu reagieren? Gut, wenn sie mal ehrlich war, war sie eifersüchtig gewesen, aber da war sie auch noch von einem anderen Sachverhalt ausgegangen, also schüttelte sie bestimmt den Kopf.
"Ich wollte doch, dass ihr euch wieder vertragt, also mach dir keine Sorgen."
"Oh, da bin ich erleichtert", meinte Lily lächelnd, "Ich könnte es nicht ertragen, wenn du böse mit mir wärst."
"Was glaubst du wie es ihm geht?", fragte Hermine und sah ihre Freundin forschend an.
"Ich weiß es nicht", gab Lily nach kurzem Überlegen zu, "Ich weiß nicht, was er dir alles erzählt hat, aber die Beziehung der beiden war etwas schwierig."
"Schwierig ist dabei noch ein Euphemismus", meinte Hermine seufzend, "Er sagte, er wusste nie, ob sein Vater ihn überhaupt geliebt hat."
"Das hat er, da bin ich mir sicher, er konnte es wahrscheinlich nur nie zeigen und jetzt wird er das nie wieder können."
"Das ist doch verdammt traurig", flüsterte Hermine.
"Ja, das ist es. Man sollte seine Gefühle nie verstecken, letztendlich gibt es nie einen wirklich guten Grund etwas zu verheimlichen."
Lilys Worte trafen Hermine härter als die Rothaarige es sich je hätte vorstellen können. Immerhin spielte sie seit einem halben Jahr jedem in ihrer Nähe etwas vor. Sie kannten nicht einmal ihren richtigen Namen, geschweige denn wussten sie, was sie wirklich hier tat. Schon seit das mit Severus angefangen hatte quälte sie das Wissen, dass es ihn verletzen würde, wenn sie ging.
"Komm, lass uns ins Bett gehen", flüsterte Lily und strich ihr leicht über den Arm, ihre plötzliche gedankliche Abwesenheit war ihr nicht verborgen geblieben, aber sie dachte, dass es mit der Sorge um ihren Freund zusammen hing, deswegen dachte sie sich nichts weiter dabei. Hermine nickte und folgte ihr in den, nur noch vom Mondlicht erhellten, Schlafsaal. Sie entledigte sich ihrer Strickjacke und kroch in ihr Bett, starrte an die Decke und hing weiter ihren Gedanken nach.
"Lily?", flüsterte sie nach einigen Minuten dann doch nochmal in den dunklen Schlafsaal.
"Hmm?", fragte die Rothaarige und Hermine hörte ein Rascheln aus Richtung ihres Bettes.
"Was hat Peter heute Mittag eigentlich noch gesagt?", wollte sie neugierig wissen. Erst jetzt fiel ihr wieder auf, dass er den Rest des Tages recht still gewesen war, selbst für sein unscheinbares Wesen. Aber niemand hatte ihr gesagt, was noch gewesen war.
"Oh, das wirst du nicht glauben", begann sie und ein weiteres Rascheln war zu hören, dann tapsende Schritte von Barfuß auf Stein.
"Rutsch rüber!", verlangte Lily als sie an Hermines Bett angekommen war. Der Aufforderung kam sie nach und Lily schlüpfte zu ihr unter die Decke.
"Kennst du Regulus Black?", fragte sie leise, um ihre Freundinnen nicht zu wecken.
"Sirius' Bruder? Er ist zwei Jahre unter uns und in Slytherin, oder?", fragte sie.
"Genau, Sirius und er sind sich nicht gerade grün, neben Sirius ist er der Goldjunge der Familie. Er ist in Slytherin und hat die gleichen Ansichten adaptiert wie seine Eltern, was Hexen und Zauberer mit unserem Blutstatus angeht", informierte sie sie.
"Deswegen redet Sirius also nie über ihn", folgerte sie. Natürlich kannte sie die Geschichte über Regulus Arcturus Black - alias R. A. B. in der Nachricht aus dem falschen Horkrux. Dass er irgendwann zur Vernunft kommen und die Ideale der Todesser verraten würde, wusste ja noch niemand.
"Jedenfalls, halt dich fest, sind er und Peter wohl befreundet", sagte Lily, wie ein völlig aufgeregter Radiosprecher der die neusten Rugbyergebnisse durchsagte.
"Ernsthaft? Aber warum hat er das dann nicht einfach gesagt?", fragte Hermine überrascht.
"Angeblich hat er Angst, dass die Anderen ihn dafür verurteilen, mit jemandem befreundet zu sein, den sie verachten. So wie sie es bei dir, mir und Severus tun", flüsterte sie weiter.
"Kommt mir aber irgendwie schon logisch vor. Weißt du noch wie nervös er war, als du und James euch gestritten habt?", gab Hermine zu bedenken. Es widerstrebte ihr Peter zu verteidigen, aber sie mussten ihm weiter vertrauen, damit Sirius ihn als Finte vorschlagen und Lily und James darauf eingehen würden und ihn zum Geheimniswahrer machten.
"Ich weiß ja nicht", sagte Lily zweifelnd, "Ich meine, warum haben die beiden überhaupt was miteinander zu tun?"
"Ich habe keine Ahnung", flüsterte Hermine.
"Sirius hat da eine eigene Idee", teilte Lily ihr nun zögernd mit, "Ich weiß aber nicht, was ich davon halten soll."
"Was glaubt er denn?"
"Naja, Sirius sagt, dass die Tatsache, dass sein Bruder homosexuell ist, das dunkelste Geheimnis von ihm ist. Er hat wohl Angst, dass seine Eltern das verurteilen könnten und er nicht mehr der Goldjunge ist und er hat ja schon mal den Verdacht geäußert, dass Peter auch vielleicht eher an Männern als an Frauen interessiert sein könnte. Jetzt denk da mal weiter."
"Er glaubt Peter ist in ihn verliebt und trifft sich deswegen ständig mit ihm?", entfuhr es Hermine etwas lauter als beabsichtigt und sofort schlug sie sich die Hand vor den Mund. "Er glaubt die beiden haben was miteinander und halten es wegen Regulus' und Sirius' Eltern geheim?", setzte sie nun etwas leiser hinten dran.
"Wäre auf jeden Fall eine Erklärung", meinte Lily, schien aber nicht ganz davon überzeugt.
"Nun ja, wo die Liebe hinfällt", kommentierte Hermine die Theorie.
"Aber er?", fragte Lily kritisch, "Naja, das Herz will wohl, was das Herz will, schätze ich."
"Aber Peter hat euch die Theorie nicht bestätigt?", fragte Hermine sicherheitshalber nochmal nach.
"Wo denkst du hin? Es war schon schwer genug ihm das Zugeständnis, dass er sich mit ihm trifft, aus den Rippen zu leiern."
"Hmm.. Also ist das eine sehr unsichere Theorie", murmelte Hermine.
"Aber die beste die wir haben", seufzte Lily, "Na jedenfalls ist das jetzt geklärt, warum er uns das verschwiegen hat. Was die beiden jetzt nun wirklich verbindet, das weiß nur Gott. Aber es ist okay, ich meine, ein bisschen verstehe ich es ja."
Hermine nickte vor sich hin. Ja, es war eine Erklärung mit der die Anderen leben konnten. Ob es nun wirklich vielleicht auch irgendwie der Wahrheit entsprach, wer wusste das schon. Vielleicht war das auch der Grund, warum Peter einmal den Todessern beitreten würde. Es gab scheinbar nichts, was es nicht gab. Erneut wurde ihr klar, wie wenig sie über alles, was zu dieser Zeit geschehen war, tatsächlich wussten.
Lily gähnte ausgiebig neben ihr und sie kicherte. "Na komm, lass uns auch schlafen", schlug Hermine vor und Lily brummte etwas unverständliches bevor sie verkündete: "Mein eigenes Bett ist jetzt wieder kalt, ich bleib einfach bei dir, wenn das okay ist, keine hundert Zentauren kriegen mich jetzt nochmal auf die Beine."
"Ist schon gut, schlaf schön", sagte Hermine und drehte sich auf die Seite, versank wieder in ihren Gedanken, während Lily ihr noch eine gute Nacht wünschte und sich ebenfalls umdrehte.
Wie Hermine so da lag stieg ihr der Geruch von Rons Shirt in die Nase und sie schlang die Arme fest um ihren Körper. Lange hatte sie ihn nicht mehr so intensiv wahrgenommen. Eigentlich war es auch mehr als seltsam, dass sie das Shirt überhaupt noch trug, aber sie brauchte es, um nicht zu vergessen, was sie eigentlich hier zu tun hatte. Seit langer Zeit weinte sie wieder stille Tränen. Warum musste das alles so schwer sein? Warum mussten sie ausgerechnet hier landen? Warum musste sie sich ausgerechnet in Severus Snape verlieben? Wie konnte alles nur so schief laufen? Jetzt kam auch noch das mit Peter dazu. Diese ganzen Gedanken waren ihr seit einiger Zeit nicht mehr durch den Kopf gegangen, die Zeit mit Severus hatte ihr so unglaublich gut getan, dass es ihr ein leichtes war, die Gedanken an ihre Aufgabe weiter nach hinten zu schieben und zu verdrängen, alle Zweifel und alles Bedauern. Nur mit Harry sprach sie noch ab und an darüber, aber in ihrem Kopf und ihrem Herzen hatte sie sie weggesperrt.
Sie stellte sich vor wie perfekt alles wäre, wären Ron, Fred, Tonks und Remus noch am Leben, wäre alles anders gelaufen und dies hier könnte einfach ihre Realität sein und ließ sich langsam davon in den Schlaf tragen.
*
Severus lag in seinem Bett in Spinners End, im Haus seiner Eltern und starrte an die Decke, an der die Straßenlaterne vor seinem Fenster durch die Bäume unheimliche Schatten warf. Übermorgen sollte sein Vater beigesetzt werden und heute hatten sie die Urne, in der seine Asche seine letzte Ruhe finden würde, ausgesucht. Sie war anthrazit und sehr schlicht, kein Kreuz, kein Schriftzug, nur kahler Stein. Sein Vater wollte es laut Testament aber wohl auch nicht anders. Er war nie wirklich gläubig gewesen und sah den Tod immer als eine Nebenwirkung des Lebens an, daher war ihm seine Beisetzung auch nie wichtig gewesen. 'Hauptsache nichts Aufwändiges', hatte seine Mutter ihn am Morgen noch zitiert und er hatte es einfach hingenommen und nicht hinterfragt. Trauerfeiern, so verstand er jetzt, waren ohnehin nicht für die Toten gedacht, sondern eher für die Lebenden, um einen Abschluss zu finden. Also hatte er seiner Mutter beigestanden und sie getröstet, hatte ihr soweit es ging geholfen, damit die Beisetzung für sie eine angemessene Zeremonie wurde, um sich verabschieden zu können. Denn die Trauerfeier an sich würde wohl, ebenso wie die Urne, nur sehr schlicht werden. Dabei wären nur seine Mutter, ein paar wenige Freunde und er selbst. Großeltern auf Seiten seines Vaters hatte er nicht mehr, auch hatte er sonst keine Familie mehr gehabt und die Eltern seiner Mutter würden vermutlich lieber an Drachenpocken erkranken, als zur Beisetzung eines Muggels zu gehen. Bis heute fand er es grausam, dass sie seine Mutter, ihre eigene Tochter, von sich gewiesen hatten und sie aus der Familie verbannt hatten. Auch das Ableben seines Vaters würde da vermutlich nichts mehr dran ändern.
Er meinte fast Hermines bedauerndes Flüstern zu hören, als sie ihm sagte, wie traurig sie es fand, dass seine Mutter das hatte ertragen müssen.
Er vermisste seine Freundin, wünschte sich, dass er mit ihr über alles reden könnte. Sicher hätte sie die richtigen Worte gefunden und gewusst, was er jetzt tun sollte, denn er selbst wusste es nicht. Er konnte nicht sagen, wie er sich gerade fühlte, fand keine Worte dafür, obwohl er für die sonst ein gewisses Geschick hatte. Er fühlte sich gleichzeitig leer und überfüllt, was keinen Sinn ergab. Er vermisste seinen Vater nicht, trotzdem war es komisch ohne ihn in diesem Haus zu sein. Als er es betrat, hatte er fast mit einem halbherzigen Gruß von ihm gerechnet, bis ihm klar wurde, dass dies nie wieder passieren würde. Er würde nie wieder sehen, wie er die Augen verdrehte und schnaubte, wenn er von Hogwarts erzählte. Er würde nie mehr den ungläubigen Blick sehen, wenn er von Lily erzählte und beteuerte, dass ihre Eltern, die auch Muggel waren, im Gegensatz zu ihm, stolz auf die Gabe ihrer Tochter waren. Nie würde er erfahren, ob sein Vater nicht insgeheim doch etwas an ihm gelegen hatte, dass er vielleicht doch stolz auf ihn war, seinen Sohn, sein eigen Fleisch und Blut.
Seine Mutter redete ständig über ihn, als müsse sie das, damit er nicht ganz fort wäre und sie tat es derart, als wäre es sonnenklar gewesen, dass sein Vater ihn irgendwie geliebt hätte.
Dass er selbst stolz darauf gewesen wäre, dass Tobias Snape sein Vater war, konnte er nicht behaupten, aber dennoch war er sein Vater gewesen. Er hatte ihn großgezogen und ihm mit vier Jahren schon versucht das Fußballspielen beizubringen, auch wenn sich schnell herausgestellt hatte, dass Sport überhaupt nicht sein Ding war. Irgendwie hatte er sich ja doch um eine Verbindung zu ihm bemüht, wenn auch mit der Zeit immer halbherziger. Was sagte diese Geste über ihn aus? Was sagte es über ihn selbst aus, dass er mit der Zeit so gleichgültig gegenüber seinem Vater geworden war? War er womöglich genauso schuld an ihrer schlechten Beziehung gewesen? Hätte er versuchen sollen auf ihn zuzugehen, als er es nicht mehr tat und stattdessen immer mehr Angst vor ihm und seinen Fähigkeiten hatte? Aber wie hätte er das tun sollen? Er war ein Kind gewesen, hatte es doch damals selbst nicht einmal verstanden, warum er sich immer weniger mit ihm beschäftigte und fast nur noch auf Geschäftsreisen fuhr. Irgendwann war es dann zur Normalität geworden, seine Mutter das einzige Bindeglied zwischen ihnen. Angestrengt versuchte er zu rekonstruieren, was er als Kind gefühlt hatte, ob es ihn verletzt hatte, ob er nur verwirrt war oder auch da schon so gleichgültig gewesen war, aber er konnte es nicht. Er konnte sich nur noch an das Gefühl von Ärger und Enttäuschung erinnern, die bis heute alles Andere überschatteten und ihn daran hinderten, wirklich zu trauern.
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