Kapitel 1
Als ich an diesem Morgen in den Spiegel sah, konnte man mir die Müdigkeit an den Augen ablesen. Noch in Jogginghose und T-Shirt stand ich hier und überlegte, was ich an diesem Tag mit mir anstellen sollte. Ich entschied mich ziemlich schnell für schlichte offene Haare, schminkte mich dazu dezent und bereitete mich innerlich auf den bevorstehenden Tag vor. Ich arbeitete jetzt schon seit vier Jahren für den Verlag Desmond und ging noch immer so gern zur Arbeit wie am ersten Tag, weil ich meinen Job und auch meine Kolleginnen und Kollegen einfach liebte. Ich hatte als einfache Angestellte in der Verwaltung angefangen, aber zu meiner großen Überraschung relativ schnell eine Beförderung bekommen, weil man mir großes Talent zuschrieb. So kam es, dass ich mit vierundzwanzig Jahren Abteilungsleiterin wurde, da mein damaliger Chef in Rente ging.
Auf dem Weg in die Küche kam ich an meiner Bücherwand vorbei. Noch ein Vorteil, wenn man in einem Verlag arbeitete. Ich vergötterte Bücher und hätte inzwischen ein noch größeres Vermögen dafür ausgegeben, wenn ich nicht die Vergünstigungen über den Verlag bekommen hätte.
Ich schnappte mir mein aktuelles Buch und ging damit in die Küche, um mir meine morgendliche Dosis Koffein einzuflößen.
Ich versank völlig in meiner Lektüre, die ich kaum aus der Hand legen konnte. Die Zeit, es fertig zu lesen, hatte ich leider nicht, wie mir ein Blick auf die Uhr verdeutlichte. Seufzend begab ich mich in mein Ankleidezimmer. So etwas hatte ich mir schon als kleines Mädchen gewünscht, und da ich allein wohnte, konnte ich ein Zimmer genau nach meinen Wünschen dafür umbauen.
Ich suchte mir von der rechten Wand ein graues Kostüm und eine weiße Bluse aus, bevor ich mich nach links drehte und sich ein seliges Lächeln auf meinem Gesicht breitmachte.
Vielleicht hatte ich einen ganz kleinen Schuhtick. Aber nur vielleicht.
Unter den vielen farblich sortierten Reihen suchte ich mir ein paar graue Pumps mit einer silbernen Schnalle aus und zog mich an.
Ich schnappte mir meine Tasche und die Autoschlüssel und verließ gut gelaunt meine Wohnung. Ich wusste, dass ich mich glücklich schätzen konnte, meinen Job so sehr zu lieben. Zwanzig Minuten später befand ich mich vor dem Haupteingang des Verlages und traf dort auf Damian, einen Azubi aus der Marketingabteilung.
»Ich wünsche Ihnen einen wunderschönen guten Morgen«, begrüßte er mich galant, öffnete mir die Tür und verbeugte sich.
»Witzbold«, meinte ich nur und ging durch die Tür. Damian war ein kleiner Charmeur, und wir verstanden uns trotz des Altersunterschiedes von fünf Jahren prächtig.
»Na, bereit für den neuen Geschäftsführer?«, fragte er, als wir gemeinsam die Treppen in den zweiten Stock hochstiegen.
»Heute muss ich erst einmal unseren jetzigen Geschäftsführer verabschieden«, erwiderte ich und dachte ein wenig wehmütig an Charles, mit dem ich ganze vier Jahre zusammengearbeitet hatte. Fast zwanzig Jahre war er der Geschäftsführer dieser Firma gewesen. Jetzt wollte er in Rente gehen und mehr Zeit mit seiner Frau und seinen Kindern und Enkelkindern verbringen. Heute war sein letzter Tag, und es würde oben im Großraumbüro der Verwaltung eine kleine Abschiedsfeier geben. Vorher standen noch zahlreiche Meetings an, damit alles für Montag bereit wäre, wenn der neue Chef seinen Job antrat.
»Wir sehen uns später«, sagte Damian und winkte mir zu, als wir im Flur getrennte Wege gingen.
»Arbeite heute mal ein wenig, ja?«, neckte ich ihn und sah noch, wie er mir als Retourkutsche den Mittelfinger zeigte, bevor ich durch die Tür zur Verwaltung ging. Ich grüßte meine Kolleginnen und Kollegen, die schon da waren, und ging zielstrebig zu meinem kleinen Büro.
»Hayley! Um sieben bei mir!«, hörte ich plötzlich Sophias Stimme hinter mir. Ich drehte mich zu meiner besten Freundin um und zeigte ihr einen Daumen hoch. Okay, den heutigen Abend würde ich also mit meinen Freunden verbringen anstatt mit meinem Buch.
»Wenn ich zu dem Zeitpunkt hier draußen bin«, meinte ich noch augenverdrehend, als sie bei mir ankam.
»Vielleicht will Charles heute auch einfach früh nach Hause. Hat er sich nach zwanzig Jahren verdient«, meinte sie munter und fuhr sich durch ihre roten Haare. Sophia und ich waren seit ein paar Jahren eng befreundet. Sie arbeitete in der IT-Abteilung und hatte mir einmal bei Problemen mit meinem Computer geholfen. Zum Dank habe ich sie auf ein Glas Wein eingeladen, aus dem schnell eine Flasche wurde, und nun ja, manchmal traf man auch in späten Jahren seine Seelenverwandte.
Dass ich Abteilungsleiterin in der Verwaltung war, störte unsere Freundschaft auch nicht, da ich nicht über Sophia stand. Ich war mir zwar sicher, dass wir auch das geschafft hätten, aber so, wie es jetzt war, passte einfach alles.
»Soll ich was mitbringen?«, fragte ich noch und lehnte mich an meinen Türrahmen.
»Ne, Lucas sorgt für Wein, Tess und Carl sorgen für das Fleisch und ich mache den Salat und das Zubehör.«
»Kommt Dylan nicht?«, fragte ich verwundert. Sophia zuckte mit den Schultern.
»Er hat noch nicht auf meine Nachricht geantwortet.«
»Mensch, Sophia, du solltest mit ihm reden. Am besten heute. So kann das zwischen euch ja nicht weitergehen.«
Dylan, den ich durch Sophia kennengelernt hatte und mit dem sie schon ewig befreundet war, hatte ihr vor zwei Wochen gestanden, dass er sich in sie verliebt habe. Sophia, die absolute Bindungsprobleme hatte, war ausgetickt und in Panik geraten, und seitdem hatten sich die beiden nicht gesehen.
»Ich weiß, das ist voll blöd. Ich vermisse ihn auch, nur ... Ich habe einfach immer noch keine Ahnung, was ich will, und deswegen ist es zwischen uns so komisch.«
»Ihr seid schon so lange befreundet, ihr müsst einfach offen miteinander reden.« Ich legte den Kopf leicht schief und musterte meine Freundin.
»Schon, aber ... Kennst du das, wenn du in deinem Kopf irgendwie ein Bild davon hast, wie ein perfektes Pärchen aussieht? Tess und Carl, zum Beispiel. Die gehören zusammen. Und das haben die schon in der Grundschule gewusst.« Carl arbeitete auch in der IT-Abteilung, und als Sophia und ich begannen, auch mit ihm abzuhängen, hatten wir seine Freundin Tess gleich mit ins Herz geschlossen. Sie gehörte zur Freundesgruppe, obwohl sie wie Dylan nicht bei Desmond arbeitete. Und ja, Carl und Tess passten einfach perfekt zusammen, sie waren so unglaublich harmonisch.
»Immer wenn ich versuche, mich mit einem Kerl zusammen zu sehen, vergleiche ich das irgendwie mit dem, was Tess und Carl haben. Und da kommen Dylan und ich einfach nicht ran. Verstehst du?«
Ich verstand sie nur zu gut. »Natürlich, aber das kann nicht gesund sein, dich und irgendjemand mit Carl und Tess zu vergleichen. Das, was sie haben, lässt sich nicht nachleben«, meinte ich ein bisschen wehmütig und lächelte schief. »So was werde ich bestimmt auch nie haben«, fügte ich hinzu.
»Vielleicht hast du recht ...« Sie schien zu überlegen. »Na ja, wir werden sehen. Bis später!« Sie drückte mir einen Kuss auf die Wange und verschwand aus der Abteilung.
Leicht grinsend ging ich in mein Büro und ließ wie immer die Tür offen. Ich hatte mich gerade auf meinen Stuhl fallen lassen und meinen Computer angemacht, als Sarah, meine Sekretärin, mit einem ganzen Stapel Papiere hereinkam.
»Morgen, Hayley«, begrüßte sie mich und überreichte mir den Stapel. »Das habe ich soeben von Ralph bekommen, er meint, das brauchst du für das Neun-Uhr-Meeting.«
Stöhnend nahm ich den Stapel entgegen. Ralph konnte mich mal! Das war mal wieder typisch von ihm, so eine Nummer abzuziehen. Er hatte natürlich so lange wie möglich damit gewartet, mir diese Dokumente zu geben, damit ich schlecht vorbereitet zu dem Meeting kam.
Ralph war um die dreißig und ein Idiot ohne Ende. Seit dem Tag, an dem ich zur Abteilungsleiterin wurde anstelle von ihm, hatte er versucht, mir das Leben zur Hölle zu machen. Bis jetzt hatte er nie wirklich Schaden anrichten können, doch das kam bestimmt noch irgendwann.
Ich sah auf meine Armbanduhr. Kurz nach acht. Ich hatte nicht einmal eine Stunde, um mir die Papiere anzusehen. Genervt holte ich mir erst einmal den zweiten Becher Kaffee an diesem Morgen. Ich legte alle meine Sachen, die ich für die Meetings brauchte, zurecht und konzentrierte mich dann auf den neuen Stapel.
Schnell hatte ich die ersten Seiten überflogen. Bis jetzt uninteressant. Ich merkte, wie der Ehrgeiz und mein Kampfwille in mir aufwallten. Ralph sollte mich auch dieses Mal nicht unterkriegen!
Kurz vor neun hatte ich mir einen Überblick verschafft und fühlte mich einigermaßen vorbereitet. Ich nahm meine Sachen, sah mich noch ein letztes Mal im Spiegel an, der hinter meiner Bürotür hing, und begab mich in den dritten Stock zum Konferenzraum.
»Wie immer bestens vorbereitet, nehme ich an?«, ertönte plötzlich Ralphs tiefe Stimme neben mir. Ich sah ihn nicht einmal an. Er war an sich ein recht gut aussehender Mann. Aber seine Art und Weise war mir einfach so unsympathisch. Sein Benehmen war so durchtrieben falsch, dass man kein Wort von ihm glauben konnte. Ich zumindest nicht.
»Auch dieses Mal bin ich bestens vorbereitet.« Ich betonte das »bestens« extra und beschleunigte meinen Schritt. Ich hatte normalerweise keine Probleme damit, mich professionell zu verhalten. Nur bei Ralph geriet ich immer wieder an meine Grenzen.
Vor dem Konferenzraum standen noch einige Kollegen, die ich freundlich begrüßte. Als ich den kleinen Saal betrat, blieb ich abrupt stehen und starrte zu den Personen am Fenster. Zu der Person.
Caleb Hunter.
Unser neuer Chef.
Beziehungsweise war ich ziemlich davon überzeugt, dass dieser äußerst gut aussehende Mann der neue Geschäftsführer war, denn ich hatte ihn noch nie hier gesehen. Charles' Rente hatte krankheitsbedingt vorgezogen werden müssen, sodass die gesamte Einarbeitungszeit des neuen Chefs immens gekürzt worden war.
»Was, hattest du nicht daran gedacht, dass unser neuer Boss heute auch da ist?«, fragte Ralph mich in dem Moment leise, und ich zog nur eine Augenbraue nach oben. Seine zurückgegelten schwarzen Haare waren fast so schleimig wie seine Stimme.
»Natürlich. Denkst du, er kommt Montag völlig unvorbereitet und zum ersten Mal in die Firma, die er leiten soll?« Ich ließ Ralph stehen und begab mich zu Charles, der mit Caleb redete. Ich hatte wirklich nicht erwartet, Caleb jetzt schon zu treffen. Auf keine der Outlook-Einladungen war bekannt gegeben worden, dass auch er an den Meetings teilnehmen würde. Aber das ergab natürlich Sinn.
»Hayley!« Charles war auf mich aufmerksam geworden und umarmte mich kurz.
»Solche Begrüßungen werde ich vermissen.« Mit einem herzlichen Lächeln auf den Lippen sah ich ihn an.
»Werde ja nicht sentimental!« Er hatte ein lustiges, lautloses Lachen, bei dem sein ganzer Körper bebte. Dann wandte er sich seinem Gesprächspartner zu und stellte mich vor. »Das hier ist Hayley Morrison, die Abteilungsleiterin der Verwaltung.«
Ich wandte mich zu Caleb und gab ihm die Hand. Er sah mich freundlich, wenn auch ein wenig verhalten an. Er hatte einen starken, selbstsicheren Händedruck.
»Sehr erfreut, Ms Morrison«, vernahm ich Calebs äußerst angenehme Stimme und staunte ein wenig darüber, dass er mich nicht beim Vornamen nannte, wie es eigentlich hier im Verlag allgemein üblich war. Wir waren also noch nicht beim Du.
»Gleichfalls!« Ich versuchte einen netten und seriösen Eindruck zu vermitteln, während ich ihn unauffällig musterte. Er konnte kaum älter als dreißig sein. Er war frisch rasiert, und seine dunklen Haare lagen geordnet auf seinem Kopf. Obwohl ich hohe Schuhe anhatte, war er trotzdem noch einen halben Kopf größer als ich. Er wirkte ... verschlossen. »Herzlich willkommen«, fügte ich hinzu. »Wir sind sehr gespannt darauf, mit Ihnen zusammenzuarbeiten.«
Caleb, oder Mr Hunter, nickte nur, sagte jedoch nichts.
Okay.
»So, ich denke, wir können das Meeting beginnen.« Charles neben mir klatschte in die Hände, während ich immer noch zu Caleb sah. Gesprächig schien er nicht gerade zu sein.
Ein wenig enttäuscht von dem ersten Eindruck setzte ich mich an den Konferenztisch und versuchte mich zu konzentrieren. Ich musste einen guten, einen gebildeten Eindruck machen. Ich war nicht der Schleimertyp, aber Caleb sollte mich von Anfang an als wertvolle Mitarbeiterin betrachten.
Vielleicht sollte ich ihn auch gedanklich Mr Hunter nennen, wenn er schon so auf höfliche Distanz ging.
Ich nahm mir eine der Wasserflaschen, die in der Mitte des Tisches standen, und sah zu Charles, der vor einer Powerpoint-Präsentation stand und jetzt gleich sein letztes Meeting abhalten würde. Mein Blick rutschte ein Stück weit nach rechts zu Mr Hunter, der konzentriert dasaß. Und irgendwie konnte ich meinen Blick kaum von ihm lösen.
***
Ich stand mit Sophia an einem der Stehtische und spielte mit meinem Sektglas. Solche Arbeitstage waren hin und wieder auch ganz angenehm. Es war gerade einmal kurz nach Mittag, aber nachdem heute Vormittag bereits Mr Hunter vorgestellt wurde und dann alle ein wenig gearbeitet hatten, fand nun in der Verwaltung die offizielle Verabschiedung von Charles statt.
»Es ist schon wirklich schade, dass Charles jetzt geht«, meinte ich leise seufzend, aber Sophia reagierte nicht. Stirnrunzelnd sah ich sie an und folgte ihrem Blick. Amüsiert stellte ich fest, dass sie ihre Augen anscheinend nicht von unserem neuen Chef wenden konnte.
»Na, schon bis über beide Ohren verliebt?«, neckte ich sie so leise, dass niemand unser Gespräch belauschen konnte. Ein wenig ertappt sah sie mich an, fing sich jedoch sofort wieder. Sophia war eigentlich nichts peinlich. Deswegen konnte man mit ihr auch so unglaublich viel Spaß haben.
»Also du musst zugeben, dass er ein absolutes Sahneschnittchen ist.« Ich musste laut lachen. So ein Satz konnte einfach nur von Sophia kommen.
»Mag sein«, gab ich zu. »Aber er ist langweilig.«
Sophias empörten Blick konnte man nicht falsch interpretieren. »Er ist doch bestimmt nur schüchtern! Mit seinem Aussehen braucht er das zwar definitiv nicht zu sein, aber na ja.« Sie wackelte spielerisch mit den Augenbrauen und sah dann zu ihm.
»Ladyyyys!« Damian kam in dem Moment zu uns und stieß mit uns an.
»Was machst du hier? Azubis sind nicht eingeladen«, ärgerte ihn Sophia.
»Ich wollte meinen neuen Konkurrenten begutachten«, sagte er ernst und zeigte dabei mit seinem Glas unauffällig auf Caleb, woraufhin Sophia losprustete.
»Das ist gar nicht lustig«, meinte er weiter. »Ich sehe doch, wie sämtliche Frauen in diesem Raum Mr Hunter anschmachten. So wie sie es sonst alle bei mir tun.« Jetzt musste ich auch lachen. Damian war einfach so unglaublich unterhaltsam, wenn er in der richtigen Stimmung war.
»Wird auch Zeit, dass du mal Konkurrenz bekommst«, stichelte Sophia humorvoll weiter, aber Damian verdrehte nur die Augen und wandte sich mir zu.
»Ich soll übrigens von Sadie grüßen.«
Überrascht hob ich eine Augenbraue. »Ihr seid noch in Kontakt?«
»Ab und zu. Sie hat jetzt einen Freund«, fügte er ein wenig geknickt hinzu und brachte somit Sophia und mich wieder zum Lachen.
»Sadie hatte dich ziemlich im Griff und dir gezeigt, wo's langgeht. Ich mochte die Kleine«, gestand ich.
»Ja, ich auch«, seufzte Damian gespielt traurig, die kleinen Grübchen in seinen Wangen verrieten ihn jedoch.
Sadie hatte bei den meisten hier in der Firma einen guten Eindruck hinterlassen, als sie vor ungefähr zwei Monaten ihr Praktikum absolviert hatte. Und sie hatte Damian auf humorvolle Weise in die Schranken gewiesen, was seinem ein klein wenig zu groß geratenen Ego nicht unbedingt geschadet hatte. Ich hoffte sehr, dass ihr das Praktikum so gut gefallen hatte, dass sie sich vielleicht nach der Schule hier für einen Ausbildungsplatz bewerben würde.
In Sadie sah ich fast ein kleines bisschen mich noch einmal, wie ich vor einigen Jahren gewesen war. Wissbegierig und fleißig, mit einer schnellen Auffassungsgabe – ohne mich dabei jetzt selbst loben zu wollen. Man hatte gemerkt, dass ihr die Arbeit Spaß gemacht hatte und sie mit vollem Elan dabei gewesen war.
»Hayley, du kennst Mr Hunter ja schon. Sophia und Damian, darf ich euch offiziell euren neuen Chef vorstellen!« Charles war an unseren Tisch getreten und hatte einen kühl dreinblickenden Mr Hunter im Schlepptau. Als wir ihm vorgestellt wurden, setzte er ein Lächeln auf, von dem ich das Gefühl hatte, dass es seine Augen nicht erreichte. Er sah mit keinem Blinzeln zu mir, sondern wandte sich an Sophia und Damian.
»Hunter«, stellte er sich noch einmal knapp selbst vor und machte damit abermals deutlich, dass er mit Nachnamen angesprochen werden wollte. Schien ja ein gemütlicher Zeitgenosse zu sein. »Ich freue mich schon auf die Zusammenarbeit mit Ihnen allen«, fügte er ein wenig freundlicher hinzu, und ich meinte ein Blitzen in seinen Augen gesehen zu haben. Anscheinend freute er sich doch auf seine neue Stelle. Na gut, auf die würde ich mich auch freuen. Zwar viel Verantwortung, in den meisten Dingen jedoch freie Hand und ein durchaus ansehnliches Gehalt. Wer konnte sich da schon beschweren.
Als sich Charles und er abwandten, sah er tatsächlich noch kurz zu mir.
»Was für ein überheblicher, arroganter und langweiliger Kerl«, murmelte Damian so leise wie möglich, und Sophia und ich begannen wieder zu lachen, wie eigentlich immer, wenn Damian in der Nähe war. »Pff, der stellt doch absolut keine Konkurrenz dar!«
Ich legte meinen Arm um Damian und drückte ihn einmal an mich. »Damian, du solltest dir sowieso ein Mädchen außerhalb der Firma suchen.«
»Jaja, schon klar, ich hatte auch nicht vor, jemanden von euch zu daten«, erklärte er. »Das würde nur zu unnötigem Drama und Eifersucht führen. Aber ihr dürft mich trotzdem begehren.« Er nahm zufrieden einen Schluck von seinem Sekt.
»Du hast definitiv zu viel Selbstbewusstsein für einen Neunzehnjährigen!« Sophia kniff ihm in die Wange.
»Hey! Lass das! Das machen nur Omas bei kleinen Kindern.« Damian rieb sich leicht genervt über die Wange. Anscheinend hatte Sophia doch ein wenig fester zugekniffen.
»Dann benimm dich einfach mal erwachsener«, stichelte sie zurück, und ich lauschte amüsiert dem Geplänkel zwischen den beiden.
»Na, hat sich das Kind wieder unter die Erwachsenen gemischt?« Lucas gesellte sich in diesem Moment zu uns.
»Du weißt, dass man hier über achtzehn sein muss?«, fügte Carl hinzu, der hinter Lucas auftauchte. Während wir anderen lachten, murmelte Damian irgendwas von »Mobbing am Arbeitsplatz«.
»Na, sind die Meetings überstanden?«, fragte mich Lucas und stellte sich neben mich.
»Nein, nach der kleinen Feier hier steht noch ein kurzes Meeting an«, seufzte ich und sah ihn an. Lucas war wahrscheinlich das, was man als meinen besten Kumpel bezeichnen konnte. Wir kannten uns auch erst, seit ich bei Desmond arbeitete, aber die Freundschaft hatte sich im Laufe der Jahre vertieft.
»Ich hebe dir heute Abend eine Flasche Wein auf«, beruhigte er mich. Ich schlug ihm leicht gegen den Arm. Ich war in meiner Freundesgruppe als die Weintrinkerin bekannt. Es lag nicht unbedingt an der Menge, sondern daran, dass ich zu einem Gläschen nie Nein sagte. Und das war natürlich ein ausreichendes Fundament dafür, regelmäßig geärgert zu werden.
Generell foppten wir uns in der Freundesgruppe recht viel – und Damian bekam das oft zu spüren. Er war so was wie der Star der Firma. Er war in seinem ersten Lehrjahr und hatte mit seinem Charme alle Herzen im Sturm erobert.
Carl mit seinen einunddreißig Jahren hatte irgendwann einmal angefangen, Damian wegen seines jungen Alters zu ärgern. Er nannte ihn »Baby-Dam« oder »Damianchen«, was zwar kaum auszusprechen war, aber für einigen Spaß sorgte. Damian war unglaublich leicht zu provozieren, da er so gern zu den Großen gehören wollte. Es war einfach nur sehr amüsant. Und zum Glück sah Damian selbst das genauso, sonst hätten wir schon längst damit aufgehört, ihn derart aufzuziehen.
Ich nahm noch einen Schluck vom Sekt und ließ meinen Blick durch das Büroschweifen. Ralph, dieser eklige Schleimer, unterhielt sich natürlich mit Mr Hunter. Meine Sekretärin Sarah und einige andere Kolleginnen standen einige Meter entfernt und beobachteten die beiden mit großen, funkelnden Augen.
Ich schüttelte innerlich den Kopf. So würde ich definitiv nie dastehen. Nicht wegen Ralph, diesem Idioten, und erst recht nicht wegen unseres neuen Chefs.
Ein Blick auf die Uhr sagte mir, dass ich noch eine halbe Stunde bis zum Meeting hatte. »Leute, ich muss mich noch für das nächste Meeting vorbereiten. Wir sehen uns heute Abend!« Ich leerte mein Glas, wuschelte Damian durch seine Haare und verließ den Stehtisch, um mich zu meinem Büro durchzudrängeln. Da die Verwaltung so offen gestaltet war, benutzte man meistens diesen Raum für interne Veranstaltungen. Schön und gut, jetzt wollte ich meine Ruhe.
Ich schloss die Tür hinter mir, um das Gerede und Gelache nebenan besser ausblenden zu können, und machte mich an meinen Unterlagen zu schaffen. Ich las noch einmal meine Powerpoint-Präsentation durch, die ich halten sollte, und sammelte dann meine Sachen zusammen. Als ich mein Büro gerade wieder verlassen wollte, stieß ich beinahe mit Mr Hunter zusammen.
»Ms Morrison, ich möchte bitte gern, dass Sie die Tür zu Ihrem Büro immer offen lassen.« Ich sah ihn von der Seite an, während wir durch die jetzt mittlerweile fast leere Verwaltung gingen.
»Das habe ich normalerweise immer, jetzt gerade war es nur weg...«
»Schon gut«, unterbrach er mich, ohne mich anzusehen.
War das gerade sein Ernst?
Ich schritt stumm neben ihm her, überlegte, ob ich noch etwas dazu sagen sollte, beließ es aber vorerst dabei. Es würden sich bestimmt noch mehr Gelegenheiten ergeben, ihm meine Meinung zu sagen. Und zwar gehörig.
»Ich bin sehr gespannt auf Ihre Präsentation«, sagte Mr Hunter dann zu mir, als wir die Treppe in den dritten Stock hinaufstiegen. »Nach all dem Guten, was ich über Sie gehört habe, freue ich mich darauf zu sehen, ob Sie ihrem Ruf gerecht werden.«
»Einfach zurücklehnen, entspannen und genießen.« Ich lächelte ihn charmant an, wobei ich versuchte, die Stimmung aufzulockern.
Er verzog keine Miene.
Innerlich stöhnte ich auf. Er machte uns den Start nicht gerade einfach.
»Mal sehen«, erwiderte er doch noch, als er mir die Tür zum Konferenzraum aufhielt.
Mit hocherhobenem Haupt ging ich durch sie durch und war mehr als bereit, einen ordentlichen Eindruck zu hinterlassen.
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