»Where is my mind?«

Es dauerte eine halbe Ewigkeit, bis Sebastian Moriarty endlich fand und die Zeit reichte aus, damit er sich alle möglichen Szenarien ausmalte, wobei ein jedes ihn noch mehr beunruhigte als das zuvor. Er dachte an eine Entführung oder daran, dass Moriarty ihn doch als Last ansah und deshalb zurückgelassen hatte oder dass sein Boss sich gelangweilt und auf Menschenjagd gegangen war oder-

Er fand Moriarty etwas abseits des Gebäudes an einem knorrigen Baum lehnen, der aussah, als wäre er nicht nur einmal von einem Blitz getroffen worden.

Sebastian öffnete den Mund, um Moriarty zu fragen, wieso zur Hölle er einfach weggegangen war, aber Moriarty musste ihn schon bemerkt haben, denn ohne in seine Richtung zu blicken, hob er mahnend einen Zeigefinger und da sah Sebastian das Handy, das er sich ans Ohr hielt. Missmutig verschränkte er die Arme und positionierte sich demonstrativ einen Meter von Moriarty entfernt hin und versuchte, seine schlechte Laune darüber, dass Moriarty ihn so lange nach ihm suchen lassen hatte, möglichst weit auszustrahlen.

Im selben Moment begann es zu nieseln und er zog die Schultern an, während Moriarty auf den Baum starrte, als wolle er ihn dazu zwingen, ihn ja trocken zu halten. Was ihn angesichts der kargen Blätterbestände einiges an Mühe kosten könnte.

„Das scheint nicht, als wäre es mein Problem, Schätzchen.“ Beinahe wäre Sebastian zusammengezuckt, als Moriarty sein Gespräch wieder aufnahm – gleichzeitig trat er langsam noch einen Schritt näher, denn Moriartys Ton war auf gefährliche Weise gut gelaunt und spie auf subtile Weise Gift und er wollte wissen, mit wem Moriarty da telefonierte.

Kurz lauschte Moriarty seinem Gesprächspartner, eine Art ironisches Lächeln auf den Lippen, dann unterbrach er, zu wem auch immer er sprach: „Ah, ah. Ich muss überhaupt nichts, wenn ich es nicht als wichtig erachte.“ Er legte den Kopf schief und obwohl dieser drohende Unterton nicht gegen ihn gerichtet war, wurde Sebastian dennoch etwas nervös. Er starrte zu den dunkelgrauen Wolken, die sich über ihm aufbäumten, als könnten sie jederzeit auf die Erde niederstürzen und sie verschlingen, und er redete sich ein, dass er Respekt vor Moriarty hatte – aber keine Angst. „Wirklich, du machst so ein Drama daraus.“ Moriarty lachte auf und drehte sich ruckartig zu Sebastian um, um ihm eine übertrieben genervte Grimasse zu schneiden, als wolle er, dass Sebastian mit ihm übereinstimmte. Da Sebastian jedoch keine Ahnung hatte, worüber und mit wem Moriarty redete, blieb seine Miene ausdruckslos.

Moriarty verdrehte unterdessen die Augen. „Vielleicht hast du schon einmal von dieser tollen Erfindung namens öffentlichen Verkehrsmitteln gehört. Busse, Bahnen, der ganze Quatsch. Soweit ich weiß, wurde da noch nie einem Rollstuhlfahrer die Mitfahrt verweigert.“

Sebastian runzelte die Stirn. Wovon zur Hölle redete Moriarty da überhaupt?

Der Regen wurde heftiger, die Tropfen nun groß genug, um Sebastians Haare in Sekundenschnelle an seinem Kopf kleben zu lassen. Moriarty starrte auf einen Wasserfleck auf seiner Schulter, als hätte der ihn persönlich beleidigt. „Ich lege jetzt auf. Er wird einen Weg finden, wenn du das unbedingt von ihm möchtest, aber ich spiele sicherlich nicht Fahrdienst. Bye, bye!“ Zum Ende hin sprach Moriarty immer lauter, als wolle er die Widersprüche auf der anderen Seite der Leitung übertönen und schließlich hielt er sich das Handy nicht einmal mehr ans Ohr, sondern legte einfach auf und begann, ohne wirklichen Übergang, über den Regen zu fluchen.

Aus einer Kurzschlussreaktion oder vielleicht aus der Sorge heraus, dass Moriarty seinem Ärger über das Wetter an ihm auslassen könnte, zog Sebastian seinen Blazer aus und hielt ihn Moriarty entgegen. Der hob kurz die Augenbrauen, dann schnappte er sich die Jacke, als hätte Sebastian sie ihm schon viel früher geben müssen.

Während Moriarty daran arbeitete, den Blazer zu einem Regenschirm umzufunktionieren, bemühte Sebastian sich, nicht in dem Regen zu zittern oder daran zu denken, dass die Nässe sein weißes Hemd sehr schnell sehr durchsichtig scheinen ließ. Er verschränkte die Arme vor der Brust und drückte seinen Deskomfort zurück in seine Haut und zwang auch die Wärme, dort zu bleiben. „Mit wem hast du telefoniert?“

„Medea“, antwortete Moriarty, der sich nun die Jacke über den Kopf hielt und zurück zum Gebäude marschierte. Einen Moment verharrte Sebastian verblüfft auf der Stelle, dann beeilte er sich, mit Moriarty Schritt zu halten.

„Wie meinst du das? Sie hat sich bei dir gemeldet?“

„Das habe ich doch gerade gesagt.“

„Du hast nur gesagt, dass du mit ihr geredet hast. Was hat sie gesagt? Geht es ihr gut?“

Moriarty runzelte unter dem Schatten des improvisierten Regenschutzes die Stirn. „Danach habe ich nicht gefragt.“ Natürlich hatte er das nicht. Als würde es ihn interessieren, wie es Medea nach ihrer Entführung ging. Sebastian verdrehte die Augen und stolperte im nächsten Moment über einen Maulwurfhügel, was Moriarty mit einem amüsierten Blick bedachte. „O’Dowd hat sie anrufen lassen, um unseren Handel komplett zu machen. Sie lässt ausrichten, dass unser Flugzeug bereitsteht. Medea ist bald auf dem Weg.“

Ruckartig blieb Sebastian stehen. Wenn diese Polizistin Medea begleiten würde und wirklich so unzuverlässig war, wie Moriarty ihm gesagt hatte, und wenn sie hierherkam, zu Willard- „Auf dem Weg? Hierher?!“ Er wollte niemanden hierher geführt haben, der dem idyllischen Leben, das Willard sich aufgebaut hatte, gefährlich werden könnte. Er wollte nicht, dass Willard ins Kreuzfeuer geriet.

„Natürlich nicht.“ Moriarty wartete nicht auf ihn; er schüttelte Sebastians Blazer kurz aus, während er weiterstapfte. Über das Dröhnen des Regens musste Sebastian sich anstrengen, ihn noch zu verstehen, ehe er sich daran erinnerte, dass er ebenfalls weiterlaufen sollte. „Wir haben einen anderen Treffpunkt ausgemacht.“

„Und wo?“

„Dublin Airport. Sie ruft noch einmal an, um zu sagen, wann genau das Treffen stattfindet.“

Sie hatten die überdachte Terrasse erreicht, die an dem Festsaal grenzte und Moriarty ließ Sebastians Jacke sinken und blickte angewidert auf seine schlammigen Schuhe nieder. „Das hier ist ein weiterer Grund, O’Dowd bezahlen zu lassen.“

Sebastian verzichtete auf einen Kommentar, nahm seine völlig durchweichte Jacke entgegen und zog sie über sein ebenso klatschnasses Hemd. Er knöpfte sie vorn zusammen, damit die Welt nicht all seine Narben sah. Der Verband an seiner Schulter war verrutscht, das spürte er, und er hoffte, es würde keine Auswirkungen auf den Heilungsprozess haben, wenn die Naht der Schusswunde nass wurde. „Ist der Flughafen nicht ein zu öffentlicher Ort für diese Art von Treffen? O’Dowd könnte ganz einfach entkommen oder die Sicherheitsbehörden dort alarmieren oder-“

„Oh, das hat sie sicher auch vor. Sie weiß höchstwahrscheinlich, was ihr droht. Wüsste sie es nicht, hätte sie niemals auf ein persönliches Treffen bestanden.“ Sebastian wusste nicht, ob er diese Logik nachvollziehen konnte. Moriarty strich seinen Anzug glatt und rümpfte die Nase ob der vereinzelten Wasserflecken. „Aber noch ist es nicht so weit und das heißt, ich habe genug Zeit, einige Leute zu kontaktieren, die noch nichts von der jüngsten Krise wissen dürften und mir daher unbedenklich behilfreich sein können.“

Sebastian hob die Augenbrauen. „Du hast Kontakte beim Flughafen?“

„Darling, ich habe überall Kontakte.“ Moriarty wandte sich ab, der gläsernen Tür zu, die zurück in die Festhalle und ins Warme führte und offensichtlich war das Gespräch für ihn beendet, aber das »Darling« rief Sebastian wieder den Teil des Telefongesprächs in Erinnerung, den er aufgeschnappt hatte und er hoffte, Moriarty mit seiner Frage noch einmal zurückhalten zu können:

„Um wen ging es in deinem Gespräch mit Medea? Um jemanden mit einem Rollstuhl. Wer genau ist das?“

„Oh, richtig.“ Moriarty tippte sich an die Schläfe und drehte sich zu Sebastian um. „Ich habe dir bereits von Medeas kleiner, nervigen Schwäche erzählt, richtig? Sie hat mir die Ohren vollgeheult, ihn mitzunehmen, damit er sicher ist. Deshalb wird ihr Bruder uns begleiten – vorausgesetzt, er schafft es rechtzeitig zum Flughafen. Auf ihn warten werde ich sicher nicht.“

„Medea hat einen Bruder?!“ Er wusste nicht, wieso ihn das so verwunderte. Vielleicht, weil Medea eine Aura wie ein Einzelkind hatte, das sich nie irgendetwas mit irgendwem teilen hatte müssen, oder weil er einfach nicht geglaubt hatte, dass irgendjemand in diesem Berufsfeld lebende nahe Verwandte haben könnte.

„Das soll vorkommen, Sebastian. Du hattest auch einst einen, falls du dich erinnerst.“ Moriarty grinste ihn unschuldig an, wohl in dem Wissen, dass diese einfachen Worte wie ein Stich mitten in Sebastians Herz waren.

„Ich erinnere mich gut, vielen Dank“, grollte er, was Moriartys Grinsen nur breiter werden ließ. Er fragte sich wirklich, wieso Moriarty es so genoss, ihn zu quälen, wieso er Sebastian immer wieder daran erinnern musste, was er alles verloren hatte. Vielleicht lieferte Sebastian ihm einfach eine zu gute Vorlage. Vielleicht war das Moriartys verdrehte Art von Scherzen. Oder vielleicht war er auch einfach nur ein Arschloch.

Gern hätte Sebastian Moriarty zurück in den Regen geschubst und ihm dabei zugesehen, wie er sich über Wasserschäden auf seinem verdammten Anzug aufregte, aber stattdessen zwang er seine verärgerte Miene zu einer neutralen und blickte Moriarty in die Augen und sagte: „Du würdest keine solchen Witze machen, hättest du jemals eine so wichtige Person in deinem Leben verloren.“

„Oh, Sebastian.“ Moriarty zog eine Schmolllippe. Sebastian stellte sich vor, wie er an Moriartys Krawatte zog, bis der blau anlief und es reichte gerade aus, damit er nicht auf ihn losging. „Ich bin eben nicht so sentimental wie du. Keine Angst, das macht dich sympathisch: So süß, wie du deiner Vergangenheit hinterhertrauerst – Willard und Severin und Cathal. Das war doch Cat, richtig? Dein alter bester Freund? Nach so vielen Jahren eine Wiedervereinigung, wirklich rührend. Traurig, dass sie nicht von Dauer sein wird; aber daran hast du dich ja gewöhnt, nicht wahr?“ Er wischte sich gespielt eine Träne von der Wange und Sebastians Wut schoss heiß und bitter seine Kehle hinauf und Moriarty blickte ihm in die Augen, als würde er das Feuer dahinter brennen sehen. „Oh nein, habe ich etwa etwas Falsches gesagt?“

Sebastian wusste kaum, wie ihm geschah, da hatte er Moriarty bereits am Hals gepackt und so hart gegen die geputzte Wand neben der Tür geworfen, dass Moriarty hörbar die Luft aus den Lungen gepresst wurde. Moriarty lachte auf und Sebastian drückte seine Kehle fest zusammen, bis das Lachen erstarb. Manchmal vergaß er, wie stark Moriarty ihm körperlich unterlegen war. Moriarty testete kurz Sebastians Griff um seinen Hals, ließ seine Hände dann an seine Seiten fallen und verschränkte sie kurz darauf hinter seinem Rücken. „Stehst du mittlerweile auf so etwas hier?“, würgte er hervor, kaum verständlich, und Sebastian wusste, dass er ihn provozieren, ihn ablenken wollte und sein Zorn wischte die Worte gleichsam fort, wie sie ihn auch weiter anfachten.

„Du bist wirklich krank“, zischte er, die Zähne zusammengepresst, der Kiefer verkantet. Er spürte, wie Moriarty unter seinem Griff versuchte, einen Atemzug zu nehmen, und als er das nicht schaffte, grinste er nur noch breiter zu Sebastian auf. „Ich habe deine Launen und deine beschissenen Sticheleien lang genug ertragen und das hört jetzt auf, also entweder fängst du damit an, einmal in deinem Leben die Klappe zu halten, oder diese verdammte Odyssee ist vorbei und ich sage all deinen netten Freunden, wo du bist-“

„Würdest du … nicht“, krächzte Moriarty hervor und Sebastian drückte ihn noch einmal nachdrücklich gegen die Wand.

„-oder ich breche dir dein verdammtes Genick. Ist mir egal, ob mich jemand erwischt. Lieber wandere ich ein Leben lang ins Gefängnis, als mich von dir weiter vorführen zu lassen. Such dir eine andere Scheiß-Beschäftigung.“

Moriarty versuchte mit seinem Grinsen darüber hinwegzutäuschen, aber seine Mundwinkel zuckten hinauf und hinunter und seine Augen rollten immer wieder kurz nach oben. Sebastian starrte ihn noch einen Moment finster an – war sich plötzlich nur allzu bewusst, wie viele Menschen er bereits getötet hatte, und wie einfach es wäre, Moriarty mit hinzuzuzählen – und ließ von Moriarty ab. Der konnte sich gerade noch an der Wand abstützen, bevor er zu Boden sank und wartete noch einen Moment länger, ehe er einen betont ruhigen, aber zittrigen Atemzug nahm, der schnell gieriger wurde. Gegen den Instinkt, zu atmen, schien selbst Moriarty noch keine Lösung gefunden zu haben. Irgendwo war er eben doch menschlich.

Sebastian fühlte in sich hinein und fand die Wut dort noch immer vor; sie nagte an seinen Knochen und brannte in seinen Venen und seine Hand erinnerte genau der Form von Moriartys Kehle und wie leicht es gewesen war, ihn zu überwältigen, und er fühlte sich gleichzeitig wie unbesiegbar, wie ein anderer Mensch, und unglaublich dumm, dass er seinen Zorn nicht kontrolliert hatte, dass er auf Moriarty von allen Menschen losgegangen war.

Er beobachtete, wie Moriarty atmete, wie seine Hand zu seiner Kehle zuckte und dann wieder fort, als wolle er Sebastian nicht die Genugtuung geben, seinen Hals zu betasten.

Irgendwann richtete er sich schließlich wieder vollständig auf aus seiner halbübergebeugten Position. Sebastian blickte ihn mit verschränkten Armen an. Moriarty starrte zurück, das Lächeln mittlerweile erloschen, ehe er seine gelockerte Krawatte demonstrativ fester zog, um die leichte Rötung an seinem Hals zu verstecken.

„Nächstes Mal …“ Moriarty begann zu husten, ehe er seinen Satz beenden konnte und Sebastian spürte so etwas wie Genugtuung. Er wusste, dass er Moriarty nicht ernstlich verletzt hatte (er wusste, wie er jemandes Kehlkopf tatsächlich schädigen konnte) – aber Reden und Schlucken würden in nächster Zeit unangenehm für ihn sein und wenn Sebastian auch noch immer die Konsequenzen, die sein Handeln haben würde, im Hinterkopf hatte, konnte er nicht anders, als die positive Auswirkung auf Moriartys grausame Gesprächigkeit anzuerkennen.

Moriarty räusperte sich, hustete noch einmal und blickte dann wieder zu Sebastian auf. Seine Stimme war rau, als er sprach. „Nächstes Mal … kannst du einfach nett fragen.“

Sebastian beugte sich zu ihm vor. „Nettigkeit steht leider nicht in deinem Code geschrieben.“

„Langsam kann ich sehen, woher diese unehrenhafte Entlassung kam.

„Langsam kann ich sehen, woher der Drang deines Netzwerkes kommt, dich zu töten.“

„Wie schlagfertig.“

„Der Gedanke, dich zu schlagen, kam mir auch.“

Und da stahl sich wieder ein Lächeln auf Moriartys Lippen; nicht ganz so wahnsinnig und übertrieben wie das zuvor, eher bitter und ironisch. „Wagst du es noch einmal, mich auf diese Weise anzufassen, werde ich dich erschießen, Sebastian.“

„Wir werden sehen, wer schneller am Abzug ist.“ Sebastian wandte sich ab und der Tür zu und er bemerkte erst jetzt, dass von innen laute, fröhliche Musik zu ihnen schallte. Er musste sie über das Rauschen seines Blutes nicht gehört haben. „Ich stelle in Frage, dass du das bist.“

Er ließ Moriarty draußen stehen.

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Haha, das ist eins meiner liebsten Kapitel. Einfach. Sebastian. Moran. Gahh, ich liebe ihn so sehr und ich hoffe, ich werde ihm gerecht, sodass ihr ihn genauso liebt wie ich.

Das ist das vorletzte Kapitel für heute und dann werde ich mir Mühe geben, ganz viel weiterzuschreiben. (Hab am Montag eine achtstündige Fahrt nach Dänemark vor mir, auf der ich auf jeden Fall versuchen werde, so viel wie möglich zu schreiben.)

Ich hoffe, euch hat das Kapitel gefallen! Bis später noch einmal :)

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