»So give me something sweet so I can make it through the week«

In der Straße, in der Cherrie wohnte, gab es tatsächlich ein Süßwarengeschäft und Sebastian kaufte die verlangten sauren Gummitiere und fragte sich, ob er so fehl am Platz wirkte, wie er sich fühlte. Er wanderte einige Minuten überfordert durch die knallbunten Regale, der süße Duft der Ware bescherte ihm noch schlimmere Kopfschmerzen und gleichzeitig meldete sich sein Magen wieder zu Wort.

Als Teenager hatte er ständig Süßkram und Chips gegessen, aber eines der ersten Dinge, was man ihm auf der Militärakademie eingebläut hatte, war, sich gesund zu ernähren, um fit zu bleiben. Und irgendwie hatte sich das gehalten, obwohl er nun seit knapp vier Jahren nicht mehr beim SAS war. Er hatte den gesunden Lebensstil zwar bis auf Sport nicht weiter beibehalten, aber an so etwas wie Schokolade und Gummitieren hatte er sich schon lang nicht mehr herangewagt.

Beinahe aus Trotz und durch seinen knurrenden Magen dirigiert, kaufte er jetzt einige Tafeln Schokolade und irgendwelche Gummitiere, einige davon mit Lakritze, die er noch nie gemocht hatte.

Mit seinen Einkäufen gerüstet, schlug er schließlich vor Cherries Wohnungstür auf und klingelte bei dem Namen Davy. Eine beunruhigend lange Zeit geschah überhaupt nichts. Dann meldete sich die Gegensprechanlage rauschend zu Wort: „Wer ist da?“

„Ich bin’s. Sebastian.“ Er sah sich in beide Richtungen um, aber niemand achtete weiter auf ihn und seine Süßigkeitenbeutel. Er hoffte, seine Jacke würde nicht verrutschen und seine Waffe entblößen. Er kam sich schon so furchtbar verdächtig und entblößt vor.

„Wer?“, fragte die Stimme.

Sebastian lehnte sich genervt etwas näher zum Mikro und wiederholte nachdrücklich: „Sebastian.

„Ich kenne keinen Sebastian. Sie haben die falsche Adresse, tut mir leid.“ Das Rauschen verstummte, die Gegensprechanlage wieder ausgeschalten. Sebastian starrte ungläubig auf den Lautsprecher und setzte an, erneut zu klingeln, als sein Handy es stattdessen tat.

Er ließ seine Hand wieder fallen und zog das Handy aus seiner Jackentasche, um den Anruf anzunehmen. „Hör auf meine Nachbarn zu belästigen, Sebastian“, ertönte Cherries Stimme am Ende der Leitung und Sebastian warf einen irritierten Blick auf das Klingelschild – dort stand Davy, genau, wie Cherrie gesagt hatte.

„Bitte?“

Cherrie seufzte. „Ich habe dir eine falsche Adresse gegeben. Ich wohne gegenüber. Name: Lawrence.“

„Wieso?!“, fragte Sebastian genervt und wandte sich einmal um seine eigene Achse, um das Gebäude gegenüber anzusehen. In einem Fenster wurde die Jalousie hochgezogen und Cherrie winkte ihm mit ihrem Handy am Ohr zu. Sebastian zeigte ihr den Mittelfinger, seine schlechte Laune nur noch schlimmer.

„Das ist unhöflich, Sebastian.“ Cherrie winkte ihn dennoch heran. Sebastian verdrehte die Augen, nahm seinen Einkauf aber dennoch wieder auf und lief zu dem anderen Hauseingang. „Sorry für die Verwirrung, aber ich musste sicher gehen, dass du allein kommst und dass dir niemand folgt. Man weiß nie, ob du nicht am anderen Ende der Leitung bedroht wirst. Du verstehst.“

Sebastian gab eine Art Grunzen von sich, das weder das eine noch das andere bedeutete, und klingelte nachdrücklich einige Male beim Namen Lawrence.

Cherrie legte auf und Sebastian klingelte noch dreimal, ehe er sich an die Hauswand lehnte, bis ihm das Surren der Tür bedeutete, eintreten zu können. Er trat in den aus dunklem Holz bestehenden Hausflur, der angenehm blumig roch.

„Zweiter Stock“, rief Cherrie zu ihm herunter, als hätte Sebastian das nicht schon anhand des Fensters, vor dem sie gestanden hatte, herausgefunden.

Sebastian erklomm die Treppen drei Stufen auf einmal, wobei ihm die Tüte mit den Süßigkeiten gegen das Bein schlug. An Cherries Tür angekommen, erstarrte er sogleich wieder. „Ähm … Du trägst keine …“ Er deutete auf Cherries bloße Beine und wusste nicht so richtig, ob er hingucken oder weggucken sollte; Cherrie überschlug ihre sommersprossigen Beine und verschränkte ihre Arme vor dem dünnen Top, das neben ihrer Unterhose das einzige war, das sie trug.

„Ich weiß. Mir war warm.“ Cherrie trat einen Schritt nach hinten und deutete einladend in die Wohnung. „Kommst du rein?“

„Ich bin schwul“, platzte Sebastian hervor. Cherrie sah ihn an, als hätte er den Verstand verloren.

„Duh. Es ist ja nicht, als würdest du es geheimhalten. Und du vergisst wohl, dass wir dich überwacht haben und du und dieser Emmett, ihr seid nicht unbedingt leise-“

Okay, gut, dass das geklärt wäre“, unterbrach Sebastian sie mit erhobener Stimme und drängte sich schnell an ihr vorbei in ihre Wohnung. Cherrie schloss die Tür hinter ihm und führte ihn, als er im Flur wieder unschlüssig zum Stehen kam, in das Wohnzimmer, das direkt dort angrenzte.

Sebastian hatte eine kahle Wohnung erwartet, wo Cherrie gesagt hatte, dass sie so oft umzog, aber ihr Wohnzimmer war hell und modern und voll. Überall standen Töpfe mit Pflanzen – in einer Ecke sogar ein etwa zwei Meter hoher Elefantenbaum, die Lieblingspflanze seiner Mutter – und die Regale an den Wänden waren überladen mit Büchern. Eine Wand war vollständig von einem Wandbild eines Bambuswaldes bedeckt. Sebastian zählte etwa vier verschiedene Laptops, die zeitgleich angeschaltet waren, jede freie Fläche war mit Papieren verdeckt und überall sonst hingen oder standen Bilder.

Er blieb vor einem der Fotos stehen und betrachtete es: zwei junge Mädchen, etwa zehn Jahre mit dunklen Haaren, aber ebenso vielen Sommersprossen wie Cherrie und den gleichen geschwungenen Gesichtszügen. „Sind das-“

„Meine Töchter? Ja.“ Cherrie stellte sich zu ihm mit einem zufriedenen Lächeln auf den Lippen, als würde sie ein von ihr geschaffenes Kunstwerk betrachten. „Meine Schwester zieht sie auf. Sie leben in Argentinien.“

„Oh. Dann siehst du sie nicht sehr oft?“

Cherrie seufzte. „Das letzte Mal vor drei Jahren. Aber wir telefonieren häufig.“ Sie blickte wieder zu dem Bild der beiden Mädchen, ihr Lächeln eine Spur trauriger. „Sie sehen aus wie Zwillinge, oder? Aber Alex-“, sie deutete auf das linke Mädchen, das anders als das rechte mit Zähnen lächelte und etwas dunklere Augen hatte, „-ist ein Jahr älter als Elia. Ich hätte sie gern bei mir, aber …“ Sie zuckte mit den Schultern. „Ich würde sie nie gefährden. Und sie haben ein gutes Leben in Argentinien.“

„Was ist mit ihrem Vater?“, fragte Sebastian leise nach.

„Oh.“ Cherrie winkte ab. „Jim hat ihn umgebracht.“ Sie blickte zu ihm auf. „Willst du einen Tee?“

Sebastians Augenbrauen wanderten zu seinem Haaransatz. „Äh, nein. Danke.“ Er dachte kurz nach, ob er wirklich nachfragen wollte, war dann aber doch zu neugierig: „Umgebracht? Wieso?“

„Verschiedene Gründe, schätze ich. Ich gebe nicht vor, dass ich weiß, wie Jim tickt, aber ich bilde mir gern ein, dass er es vielleicht ein kleines bisschen für mich getan hat. Ihr Vater-“, sie nickte wieder zu ihren Kindern, „war ein ziemlicher Mistkerl. Das einzig Gute an ihm war seine Lebensversicherung, die ich meinen beiden Mädchen hinterlegen konnte. Es war ja nicht so, als hätte Jim mich nicht vor ihm gewarnt.“ Sie zuckte erneut mit den Schultern. „Willst du etwas anderes trinken?“

„Nein, schon gut.“ Dieses Mal ging Sebastian auf den Themenwechsel ein und wandte sich wieder von dem Bild ab, was Cherrie nach einem weiteren langen Blick ebenfalls tat. „Ich habe dir deine Gummitiere mitgebracht.“ Er hob die Tüte an und stellte sie auf einen halbwegs leeren Platz auf dem kleinen Glastisch vor Cherries mit Decken bevölkerter Couch ab (wenn sie dort gesessen hatte, wunderte es Sebastian nicht, dass ihr warm gewesen war). „Und, naja, ich bin hungrig einkaufen gegangen, also habe ich vielleicht auch noch ein paar andere Dinge geholt.“

Cherrie warf einen Blick in den Beutel und grinste dann zu Sebastian auf. „‘Ein paar andere‘? Ich glaube, Jim füttert dich nicht gut genug.“

„Er meinte, er hätte keine Zeit zum Essen, jetzt, wo wir wieder in London sind.“

Cherrie verdrehte die Augen. „Natürlich.“ Sie hob einen Finger als Zeichen, dass er warten sollte, und verschwand nach links in die anschließende Küche, die, nach dem eingeschränkten Blick, den Sebastian auf sie hatte, deutlich ordentlicher und leerer war – vielleicht war also nur Cherries Wohnzimmer so chaotisch und überfüllt. Während sie den Geräuschen nach im Kühlschrank wühlte, sprach sie laut weiter mit ihm: „Jim ist nicht wirklich gut darin, sich um sich selbst zu kümmern. Einmal sind wir zusammen nach Ungarn gereist und ich schwöre dir, der Typ hat eine ganze Woche nichts gegessen. Ich habe mir solche Sorgen gemacht, dass ich ihm etwas gekocht habe.“ Cherrie schnaubte. „Nicht, dass er es großartig gewürdigt hätte, aber ich hatte wirklich Angst, dass er einfach wegklappt.“

Sebastian erinnerte sich nur zu gut daran, wie Jim tatsächlich einmal ins Krankenhaus gemusst hatte, weil er kaum etwas gegessen hatte – Sebastian hatte sich damals so verdammt schlecht gefühlt, weil er gewusst hatte, dass Jim wenig aß, es aber immer irgendwie abgetan hatte. Danach hatte sich jeder Bissen Essen, den Jim unter seinem wachsamen Blick zu sich genommen hatte, wie ein Sieg angefühlt. Aber Jim, geschwächt und zerbrechlich in seinem Krankenhausbett … Er hatte lang gebraucht, damit diese Erinnerung ihm nicht mehr den Magen umdrehte.

Es wunderte ihn kaum, dass Moriarty zu solchen ungesunden Gewohnheiten zurückgekehrt war. Er konnte sich vorstellen, dass er seine Arbeit vor alles stellte – selbst vors Essen.
 
Cherrie kehrte zurück und hielt einen Pizzakarton in der Hand, der, als sie ihn öffnete, eine halbe Pizza entblößte. Sebastians Magen gab ein Grollen von sich und Cherrie ließ den Karton grinsend auf den Glastisch fallen, auf einen Haufen Papiere, der hoffentlich nicht allzu wichtig war. „Bedien‘ dich. Ich muss noch kurz einige Dokumente für Jim zusammensuchen. Hat er schon gesagt, wann er den Stick holen will?“

„Stick?“, wiederholte Sebastian leicht abgelenkt, das erste Pizzastück schon in der Hand. Cherrie wuselte um ihn herum und sammelte hier und da einige Blätter vom Boden oder vom Fensterbrett oder vom Tisch und der Couch zusammen – entweder hatte sie ein erstaunliches Gedächtnis, oder dieses Chaos hatte tatsächlich System.

„Mhm“, machte Cherrie. Sie legte sich auf das schwarze Parkett (das einzig dunkle in diesem Raum) und zog unter der roséfarbenen Stoffcouch eine Ordnungsmappe hervor, in die sie die zusammengesammelten Papiere legte. Sebastian verschlang sein Pizzastück in zwei Bissen und versuchte, bei der Sache zu bleiben – zur Hölle, er hatte so lang keine Pizza mehr gegessen. Sein Magen machte Freudensprünge. „Jim meinte, er hätte mit dir schon über Belkov geredet. In den letzten Tagen ist er etwas … wagemutiger geworden. Er fängt an, die Grenzen auszutesten, sucht nach Schwächen in Jims Netz, die er für sich nutzen kann.“ Sie kroch noch einmal halb unter die Couch und zog etwas hervor, das wie ein Wanted-Steckbrief aussah, und legte es ebenfalls in die Mappe. Wenn es tatsächlich ein System gab, begann Sebastian es anzuzweifeln. „Deshalb wollte Jim den USB-Stick so schnell wie möglich holen. Ich habe ihm zwar gesagt, dass deine Wohnung schon seit Tagen überwacht wird, aber er besteht darauf, dass es nicht ohne den Stick geht. Irgendetwas damit, dass man sein Schwert nicht zu Hause lassen sollte, nur, weil man eine gute Rüstung hat.“ Cherrie warf ihre Hand nach hinten, als würde solch figurative Sprache ihre Kompetenz übersteigen. Sebastian konnte sowieso nicht mehr folgen.

„Meine Wohnung wird überwacht? Von welchem Stick sprichst du?“

Cherrie blickte von den Akten, die sie nahe des Fensters durchblätterte auf – es war schwer, ihren Standpunkt zu verfolgen. Als würde man einen Kolibri, der von einer Seite zur anderen schwirrte, beobachten. „Oh, dann war Jim wohl noch nicht so weit, dir Details zu nennen. Wusstest du, dass er dich heute Morgen drei Sicherheitsstufen nach oben gesetzt hat? Kein Wunder, dass du noch nicht alles weißt. Ich meine, du bist nur noch eine Stufe unter mir und ich habe Jahre gebraucht, bis ich alle Informationen zusammenhatte. Apropos Informationen …“ Sie blickte kniend um sich und sprang dann auf, um wieder zur anderen Seite des Raumes zu hasten. Auf dem Weg dorthin zog sie die sauren Gummitiere aus dem Beutel und steckte sich eines in den Mund. Mit vollen Backen fragte sie Sebastian: „Hascht du hier irgendwo einen roten Hefter geschehen? Beschriftet mit Ische Man.“

Sebastian runzelte die Stirn und warf einen kurzen Blick um sich, nicht in der Lage, irgendetwas in dem Durcheinander auszumachen. „Nein …“ Er sah wieder zu Cherrie. „Du hast meine Fragen nicht wirklich beantwortet.“

„Hm.“ Cherrie hob einen Stapel gelblicher Dokumente hoch, sah darunter und ließ die dann frustriert wieder fallen, wobei der Haufen zur Seite kippte und eine Welle aus Papier sich über das Parkett ergoss. Cherrie trat einfach einen großen Schritt darüber. „Was hast du nochmal gefragt?“

„Von welchem Stick redest du die ganze Zeit?“, wiederholte Sebastian genervt. „Und was zur Hölle hat er mit Belkov und meiner Wohnung zu tun?“

Cherrie deutete mit dem Zeigefinger auf ihn. „Richtig. Der USB-Stick. Er ist eine Art Versicherung. Enthält die wichtigsten Informationen, die Jim über die Jahre über seine Gegner gesammelt hat, in digitaler Form. Das meiste speichert Jim hier drin“, sie tippte sich gegen die Schläfe, „aber manchmal sind sichtbare Drohungen einfach effektiver und glaubwürdiger. Dafür ist der Stick.“

„Er ist das Druckmittel“, ging es Sebastian auf, der sich an ein Gespräch mit Moriarty vor einer schieren Ewigkeit zurückerinnerte – sie hatten über Belkov geredet und dass er eine Gefahr für Moriarty werden könnte. Moriarty hatte angekündigt, Sebastian zu einem Treffen mit Belkov zu schicken, wobei Sebastian als Lockmittel fungieren sollte, da Belkov schon früher einmal Interesse an ihm gezeigt hatte. Der Plan war gewesen, Belkov dazu zu bringen, sich nicht gegen Moriarty zu stellen, während der bereits gegen sein eigenes Reich angehen musste. Moriarty hatte angedeutet, dass er das richtige Druckmittel dafür hätte, es aber erst holen musste – er hatte also von diesem Stick geredet. „,Und wo ist er?“

„Bis vor diesen ganzen Unruhen hatte der Boss ihn. Aber nachdem man es so nah an ihn herangeschafft hatte, befürchtete er, wenn jemand es wirklich jemals schaffen sollte, Moriarty zu töten, würde dieser jemand auch sogleich an den Stick kommen. Ohne Moriarty würde das Netz vermutlich zerfallen. Wer aber diesen Stick hat, hat … den Code zum Funktionieren des Netzes, wenn man so will. Moriarty will sein Reich an niemand anderen verlieren, also hat er den Stick woanders versteckt.“ Sie nickte Sebastian zu. „Es war ein ziemliches Glück, dass du dir es von Anfang an mit vielen im Netzwerk verscherzt hast, als du Garry getötet hast.“

„Notwehr“, murmelte Sebastian und aß etwas mehr von seiner Pizza.

Cherrie überging ihn. „Andauernd ist jemand bei dir eingebrochen. Sie wussten, was geschehen würde, würden sie dir etwas antun, aber sie haben ihren Unmut über dich trotzdem dadurch ausgelassen. Gestohlene Zigaretten, leergetrunkener Alkohol, manche haben in deine Badewanne gepinkelt.“

Sebastian verschluckte sich. „Bitte?!“

„Naja, und weil so viele gefährliche Menschen ständig bei dir ein- und ausgingen, würde nie jemand vermuten, dass du etwas Wichtiges dort versteckt hättest. Aber das schlechteste Versteck ist manchmal das beste.“ Cherrie lächelte schief. „Oder hast du jemals bemerkt, dass wir den Stick bei dir versteckt haben?“

„Bei mir?“, wiederholte Sebastian ungläubig.

Cherrie nickte. „Natürlich konnten wir nicht wissen, wie schwer es sein würde, den Stick wieder zu beschaffen. Ich habe schon zwei gute Leute in den Tod geschickt, als sie versuchten, sich deiner Wohnung zu nähern. Ich weiß nicht genau, warum sie deine Wohnung so gut bewachen lassen – oder wer sie bewachen lässt – aber sie machen mir ganz schön das Leben schwer.“

Sebastian runzelte die Stirn. Er dachte an Emmett, dem er nicht einmal gesagt hatte, dass er verreisen würde, und stellte sich vor, wie er an seiner Tür klopfte und dafür ermordet wurde. „Wie genau bewachen sie die Wohnung?“

„Oh, das wird dir gefallen.“ Cherrie grinste. „Auf dem gegenüberliegenden Dach ist ein Scharfschütze. Ironisch, nicht?“

Sebastian rümpfte die Nase. Er empfand es eher als persönliche Beleidigung, dass ein anderer Scharfschütze seine Wohnung so belagerte. „Habt ihr schon versucht, ihn auszuschalten?“

„Versucht und gescheitert. Jim hat mit dem Gedanken gespielt, das andere Gebäude einfach mit dem Schützen zusammen in die Luft zu sprengen, aber das würde zu viel Aufmerksamkeit der Behörden erregen. Besonders, da dein lieber Nachbar dich als vermisst gemeldet hat.“

„Emmett hat-?“ Sebastian fuhr sich mit der Hand über das Gesicht und stöhnte leise. „Es waren kaum zwei Wochen! Ich könnte auch einfach in den Urlaub gefahren sein!“

„Ohne ihm Bescheid zu sagen und ohne seine Nachrichten zu beantworten“, erinnerte Cherrie ihn. „Er macht sich Sorgen, Sebastian. Normale Menschen verschwinden nicht einfach ohne ein Wort.“

„Das war ja nicht meine Idee!“, protestierte Sebastian. „Aber Mo- Jim hat mein Handy weggeworfen.“

Cherrie seufzte. „Wie auch immer. Jedenfalls konnten wir diesen Scharfschützen noch nicht loswerden. Drohnen schießt er aus der Luft und er lässt niemanden näher als hundert Meter an seine Position heran, bevor er sie erschießt. Es war so anstrengend, all diese Leichen verschwinden zu lassen, das kannst du mir glauben, Sebastian.“

„Ihr habt keine Kopie von dem Stick?“

Ein Kopfschütteln war seine Antwort. „Wie ich bereits beschrieben habe, ist ein einziger solcher Stick bereits ein unheimliches Risiko für Jim. Zwei zu haben wäre … tödlich.“

Sebastian brummte zustimmend und aß die letzten Pizzareste auf, während er nachdachte. Cherrie ging wieder dazu über, weitere Dokumente in die Mappe zu packen und legte sie Sebastian schließlich neben die Füße, während der vor sich hinstarrte.

Er konnte sich ebenso wenig wie Cherrie einen Reim daraus machen, wieso jemand seine Wohnung bewachen sollte, wo er doch sowieso die ganze Zeit über in Irland festgesessen hatte und offenbar niemand von dem dort versteckten USB-Stick wusste – immerhin wäre er dann schon längst gestohlen worden und niemand müsste das Gebäude weiter überwachen. Und dass der Scharfschütze offenbar nur Moriartys Leute tötete und keinen der anderen, die in dem Gebäude wohnten (jedenfalls hoffte Sebastian das), ließ ihn vermuten, dass der Schütze ebenso wenig erpicht darauf war, dass die Behörden auf die ganze Angelegenheit aufmerksam wurden.

Sebastian spielte mit dem Gedanken, Emmett darum zu bitten, ihm den Stick zu bringen, aber dann klingelten ihm plötzlich Moriartys Worte in den Ohren nach: dass Emmett eine potentielle Gefahr war, dass er möglicherweise Kontakte zu ebenjenen Behörden hatte, die sie gerade zu jedem Preis meiden sollten, wollten sie neben der inneren Krise nicht auch noch eine mögliche Aufdeckung des Netzwerkes managen. Und er konnte Emmetts Neugier nicht abschätzen. Würde er sich nach zwei Wochen ohne Kontakt plötzlich melden und von Emmett verlangen, dass er einen dubiosen Stick aus seiner Wohnung für ihn holte, standen die Chancen recht hoch, dass Emmett den Inhalt des Sticks anschauen oder ihn sogar zur Polizei bringen würde. Das war ein Risiko, das sie nicht eingehen konnten.

Er verwarf den Gedanken also wieder und stattdessen trat eine Erinnerung an seinen Platz: Sein erster Auslandseinsatz bei der British Army. Damals war er noch nicht einmal Scharfschütze gewesen, aber er hatte Scharfschützen bei der Arbeit erlebt – unglücklicherweise waren es die der gegnerischen Seite gewesen, die immer mehr seiner Kameraden ausgeschalten hatten, ohne, dass jemand die Angriffe hätte kommen gesehen. Sie hatten Geiseln befreien sollen, aber niemand war auch nur in ihre Nähe gekommen. Schließlich hatte ihr Captain es versucht. Was ihn auf diesen Gedanken gebracht hatte, wusste Sebastian bis heute nicht. Aber er war aufgestanden, als hätte er keinerlei Angriffe zu befürchten und er hatte überdeutlich auf die Insignien an seiner Uniform gedeutet, die ihn als Captain ausgezeichnet hatten. Und die Scharfschützen hatten das Feuer eingestellt. Es waren Verhandlungen geführt worden und sie hatten die Geiseln befreit und sich dafür aus dem Gebiet zurückgezogen.

Der Scharfschütze bewachte seine Wohnung. Aber vielleicht hatte das weniger mit der Wohnung und mehr mit Sebastian zu tun. Vielleicht wollte er an Sebastian heran. Vielleicht würde er das Feuer auf Sebastian einstellen.

Es war nur eine Vermutung und eine ziemlich schwach gestützte dazu, aber es war ein Versuch wert. Er vermutete sowieso, dass Moriarty ihn früher oder später damit beauftragt hätte, wären seine anderen Leute weiter erfolglos. Immerhin konnte Sebastian sich zumindest ziemlich gut in die Rolle eines Scharfschützen hineinversetzen.

Er blickte zu Cherrie, die den gesuchten roten Hefter unter einer Kommode vorzog und auf die Mappe legte, die Sebastian abwesend an sich genommen hatte. „Ich könnte versuchen, den Stick zu beschaffen.“

Cherrie aß ein weiteres Gummitier. Sie ließ sich Zeit mit dem Kauen und der Antwort. „Ich weiß nicht, ob der Boss eines seines wertvollsten Spielzeuge kaputtmachen will.“

Sebastian knirschte mit den Zähnen. „Ich bin kein Spielzeug. Und vielleicht ist der Scharfschütze wegen mir dort. Dann hätte ich die beste Chance.“

„Die beste Chance erschossen zu werden, meinst du?“ Sebastian starrte sie finster an und sie seufzte. „Hör mal, das ist ein nettes Angebot. Aber du wirst erst einmal für wichtigere Dinge gebraucht. Und diese wichtigeren Dinge sind, Jim zu schützen.“ Sebastian wollte sagen, dass er dafür jetzt auch wieder Medea hatte, aber Cherrie wurde lauter, um seine Einsprüche zu übertönen: „Ich verspreche, ich werde darauf zurückkommen, wenn ich wirklich an einer Sackgasse angelangt bin. Aber jetzt machst du erst einmal nur die Aufgaben, die dir Jim aufgetragen hat.“ Sie deutete auf die Dokumente in seinen Armen. „Bring die zu Jim und behalt ihn im Auge, ja? Pass auf, dass er genug isst.“

„Was bist du, seine Mutter?“, brummte Sebastian etwas verstimmt, dass sein Vorschlag so schnell abgelehnt worden war.

„Nein.“ Cherrie stützte ihre Hände in die Hüften und blickte ihn streng an. „Aber seine Assistentin, die keinen Job mehr hat, wenn er stirbt.“

Einer plötzlichen Eingebung folgend, fragte er höhnisch: „Es geht also nur um den Job, ja?“

Cherries Miene verfinsterte sich und sie nahm den Beutel mit den restlichen Süßigkeiten vom Tisch und drückte ihn Sebastian gegen die Brust, bis der sie an sich nahm. „Es geht immer um den Job, Sebastian. Vergiss das nie.“

Sie klang plötzlich so feindselig, dass Sebastian versuchte zurückzurudern: „Cherrie-“

„Sebastian. Du weißt, dass der Boss nicht gern wartet. Du solltest dich also lieber auf den Weg machen.“

Sebastian biss sich auf die Zunge und wandte sich ab, aber Cherrie hielt ihn doch noch einmal zurück. „Warte.“ Er blickte sie erwartungsvoll an, aber sie nahm ihm nur den Beutel wieder ab und griff hinein, zog eine Packung von dicken Gummischnüren hervor und warf Sebastian einen schnellen Blick zu. „Die mag ich auch.“

„Okay.“ Er drehte sich wieder zur Tür.

„Hey.“ Sebastian wandte sich erneut zu Cherrie um. „In welchem Hotel seid ihr?“

Sebastian nannte ihr die Adresse und Cherrie verzog kurz das Gesicht. „Wow, dann viel Spaß mit Jims schlechter Laune.“

Sebastian schnaubte. „Ja. Danke.“ Er öffnete die Tür und trat auf den Flur. „Denk über mein Angebot nach“, sagte er dann über seine Schulter. „Ich glaube wirklich, es könnte funktionieren.“

Cherrie gab einen vagen Laut von sich und schloss die Tür.

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 Aloha! :)

Dieses Mal habe ich es geschafft, mal am Sonntag wie geplant zu updaten (was nur an freyaYdarja liegt, die meinem Aufruf um Unterstützung für mein schwächelndes Gedächtnis nachgekommen ist - danke nochmal an dieser Stelle xD).

Hach, Leute, ich weiß, viel habt ihr noch nicht von Cherrie mitbekommen, aber ich liebe es, sie zu schreiben. Ich liebe es generell, dass ich mehr weibliche Figuren in diesem Buch eingebracht habe - irgendwie waren all meine anderen Bücher etwas sehr Testosteron-lastig xD
Hoffentlich lernt ihr sie auch noch zu schätzen und hoffentlich könnt ihr dieser Geschichte weiter folgen. Ich weiß, es könnte langsam etwas viel werden - wer zur Hölle war z.B. nochmal Belkov?
Belkov ist ein (mutmaßlich) russischer Mafioso, der seine Geschäfte auf London ausweiten will und dabei ein Auge auf Moriartys Netzwerk geworfen hat. Er hat unter anderem versucht, Sebastian von Moriarty abzuwerben - und ist natürlich gescheitert, denn Sebastian hat Klasse ;)
Moriarty will sich aus offensichtlichen Gründen irgendwann mal um ihn kümmern.

Also, ja, es sind viele Informationen, denn irgendwie ist dieser Plot teilweise zu allen Seiten ausgeufert - aber ich verspreche euch, dass wir zumindest einem Plot folgen und dass ihr noch gespannt bleiben dürft ;D

Ich freue mich darauf, euch zu lesen!

Habt eine schöne nächste Woche.
Alles Liebe,
                      Tatze.

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