»I tried to close the door at least a hundred times«
Willard lebte mittlerweile in einem kleinen, zweistöckigen Backsteinhaus, das mit kunstvoll verschlungenen Traubenranken geschmückt war und vor dem ein niedlicher kleiner Briefkasten in drei verschiedenen Farben stand. Der rote Stein der Fassade strahlte und die Fensterrahmen sowie die Tür waren in einem blendenden Weiß gestrichen.
Moriarty parkte ihren Wagen auf der anderen Straßenseite, um wenige Meter versetzt, und deutete zu Sebastian, der wie erstarrt auf der Rückbank saß und das Haus ansah, als wären ihm Hühnerbeine gewachsen. „Du solltest zuerst mit ihm sprechen, ich will nicht, dass er sofort misstrauisch wird."
„Wieso? Wo du doch ein so vertrauensseliges Antlitz hast", murmelte Sebastian und Moriarty hob warnend einen Finger, aber da schwang Sebastian sich schon kurzentschlossen aus dem Auto.
Draußen zögerte er erneut. Er spürte Moriartys Blick brennend auf sich ruhen, als er begann, seine Jeanstasche abzuklopfen und kurz darauf eine Packung Zigaretten hervorzog. Natürlich war ihm bewusst, dass es unvermeidlich war, Willard gegenüberzutreten, aber Sebastian ignorierte Moriartys Blick dennoch so gut wie möglich, während er auch ein Feuerzeug aus seiner Tasche kramte und seine Zigarette anzündete.
Er fand, er hatte sich diese eine Zigarette verdient, bevor er sich seiner Vergangenheit stellte. Seit heute Morgen hatte er nicht mehr geraucht, das letzte Mal kurz bevor er ein Gewehr auf seinen Vater gerichtet und abgedrückt hatte, und auch, wenn dieser Gedanke die Zigarette bitter schmecken ließ, tat das Nikotin dennoch seine gewöhnliche beruhigende Wirkung. Jedenfalls bis Moriarty gegen das Fenster der Beifahrerseite hämmerte und aus dem Auto heraus eine wegscheuchende Geste machte.
Sebastian zog demonstrativ noch einmal lang an seiner Zigarette, schnippste sie dann aber weg und marschierte kurzentschlossen auf die Tür - die blendend weiße, makellose Tür - zu; sein Finger schwebte über der kleinen, goldenen Klingel daneben, zögernd, sie zu betätigen. Der Name (Wallace), der darunter stand, war der richtige, aber Sebastian war dennoch der Überzeugung, dass das hier das falsche Haus sein musste. Willard war nicht ordentlich und bunt, er war ... Motoröl und Lederjacken. Oldtimer und angebrannte Nudeln.
Sicherheitshalber warf er einen Blick links über den Zaun, wo er ein hölzernes Carport entdeckt hatte. Darunter stand ein hochpolierter, blauer Oldtimer, für den Sebastians Kenntnisse ausreichten, um zu erkennen, dass es sich um einen Porsche 911 handelte - Willard hatte ihm früher immer von diesem Auto vorgeschwärmt, es aber nie besessen. Scheinbar hatte er sich diesen Traum mittlerweile erfüllt. Und offenbar war das hier wirklich sein Haus.
Sebastian wusste, dass Moriarty ihn von ihrem Wagen aus beobachtete und vermutlich würde seine Geduld nicht mehr lang anhalten. Daher atmete Sebastian tief durch, dann drückte er die Klingel durch. Ein langes, wohlklingendes Leuten ertönte, das durch Sebastians kräftiges Drücken etwas nachdrücklich klang.
Einen langen, quälenden Moment geschah überhaupt nichts. Dann begann, mehr als nur verspätet, ein Hund zu bellen, die Art von hohem Bellen, die auf einen kleinen Hund mit geringem Körperumfang hindeutete. Sebastian zuckte leicht zurück, als das Geräusch von Krallen im Inneren der Tür zu hören war, die versuchten, sich durch das Holz zu graben. Im Haus versuchte eine Stimme, den Hund zurückzudrängen und zum Schweigen zu bringen und schließlich schwang die Tür nach innen auf.
Vor Sebastian stand eine große, schlanke, ältere Frau mit hellblonden Locken und hellgrauen Augen und einem vor Aufregung zitternden schwarzen Chihuahua auf dem Arm. Sie war definitiv nicht Willard.
„Guten Tag. Kann ich Ihnen helfen?" Sie lächelte ein offenes, freundliches Lächeln und enthüllte eine Lücke zwischen ihren Schneidezähnen. Sie hatte einen Akzent, den Sebastian nicht zuzuordnen wusste.
„Äh ...", machte Sebastian und sah sich über die Schulter nach Hilfe um. Aber wenn er erwartet hatte, dass Moriarty plötzlich aus dem Nichts auftauchen und Smalltalk für ihn führen würde, hatte er sich geirrt. Moriarty saß mit verschränkten Armen im Auto und beobachtete das Geschehen, wirkte allerdings nicht so, als wolle er sich demnächst in irgendetwas einmischen. Sebastian wischte mit seinen Handflächen über seine Jeans und seine Schulter ließ einen stechenden Schmerz durch seinen Arm zucken, als wolle sie Sebastian damit zurück in die Gegenwart holen. Sebastian blinzelte. „Ähm", machte er noch einmal. „Ich suche eigentlich jemanden. Willard. Willard Wallace?"
Die Frau lächelte noch breiter. „Willard ist mein Mann. Er ist allerdings gerade einkaufen, wird aber in der nächsten halben Stunde zurückkommen. Sie möchten mit ihm sprechen?"
Sebastian nickte und fühlte sich wie ein verlegener Teenager. Er wischte sich erneut die Hände an der Hose ab.
„In Ordnung. Ich bin übrigens Hilda. Und Sie sind?"
„Oh, äh, tut mir leid." Er streckte die Hand aus, als ihm wieder einfiel, was Manieren waren. Hilda balancierte den Hund auf ihren linken Arm und nahm seine Hand an, während der Chihuahua misstrauisch daran schnupperte. Ihre Hand war warm. „Ich bin Sebastian. Sebastian Moran."
Hilda ließ seine Hand fallen, als hätte sie sich daran verbrannt und Sebastian trat einen verwirrten Schritt zurück. Da lachte Hilda jedoch auf und ergriff seine Hand gleich wieder. „Jetzt erkenne ich dich von den Fotos. Willard hat mir so viel von dir erzählt!"
Möglichst unauffällig zog Sebastian seine Hand zurück und rieb sich den Nacken. „Oh, naja, dann hoffentlich nur Gutes."
Hilda wank ab und das war weder ein Ja noch ein Nein und das beschrieb die Geschichten, die Willard über Sebastian erzählen konnte, vermutlich ganz gut. „Jetzt komm erst einmal herein. Willard würde sicher mit mir schimpfen, würde ich dich zu lang vor der Tür stehen lassen. Weißt du, er war sich nicht sicher, ob du zu seinem Geburtstag kommen würdest, aber er wird sich so freuen, dich wiederzusehen." Sie wandte sich bereits lächelnd ab, als Sebastian sie mit einem Räuspern zurückhielt. Daraufhin wurde ihr Lächeln etwas schwächer. „Oh. Du kannst nicht bleiben, oder?"
„Doch, doch!" Sebastian hob beruhigend die Hand und deutete dann sogleich auf den Mietwagen, mit dem er und Moriarty hergekommen waren. „Ich bin nur ... nicht allein hier."
Hilda reckte den Hals, um in den Wagen schauen zu können und als sie Moriarty erblickte, flüsterte sie verschwörerisch: „Dein Mann?"
Sebastians Gesicht wurde so heiß, dass es vermutlich wie eine Wärmelampe glühte. „Gott, nein. Er ist ... ein Freund."
„Ah, ein Freund", wiederholte Hilda mit einem vielsagenden Unterton und zwinkerte ihm dann zu. Sebastian beschloss, den Versuch fürs Erste aufzugeben und winkte Moriarty aus dem Auto heraus.
Für einen Moment reagierte Moriarty nicht; möglicherweise, damit es nicht so aussah, als würde er tatsächlich Sebastians Winken folgen. Schließlich öffnete er aber die Tür und stieg aus, das blaue Jackett wieder angezogen, in seinem teuren Anzug so viel besser anzusehen als Sebastian, der vermutlich nach Rauch stank und auf dessen Gesicht schon wieder der Schatten eines Bartes lag und der ein edles Jackett zu einer ausgewaschenen Jeans trug.
Moriarty schritt mit langen, sicheren Schritten auf sie zu und streckte seine Hand zum Gruß aus, noch bevor er ganz bei Hilda angekommen war. Vor Sebastians Augen verwandelte er sich in einen Gentleman der obersten Schicht.
Es war seltsam mitanzusehen. Sebastian kannte Moriartys Stimmungsschwankungen, aber das hier war etwas anderes. Er änderte von einem Moment auf den nächsten sein ganzes Sein; die Art, wie er ging, wie er sich hielt, wie seine Augen sich leicht verengten, als er charmant lächelte, wie er Hildas Hand noch mit der anderen umfasste beim Grüßen - alles vermittelte, dass er ein herzlicher, offener Mensch war, und hätte Sebastian nicht gesehen, wie Moriarty noch am selben Tag einen Menschen ohne weitere Reaktion erschossen hatte, wäre er beinahe selbst auf diese Scharade hereingefallen.
Er fragte sich, ob er auch so aussah, wenn er den Soldaten und Scharfschützen (den Mörder) in sich versteckt hielt.
„Freut mich sehr, ich bin Jim. Sie sind Mrs Wallace nehme ich an?"
Hilda musterte Moriarty von Kopf bis Fuß - eingehender, als sie es bei Sebastian getan hatte - ehe sie ihm wieder in die Augen blickte und lächelte. „Nenn mich doch Hilda. Dein Anzug gefällt mir sehr, er ist sehr stylisch."
Moriarty strich sich - scheinbar geschmeichelt (möglicherweise war er das sogar) - über den dunkelblauen Anzug. „Danke sehr."
Auf Hildas Arm fing der Hund wieder an zu bellen und als er die allgemeine Aufmerksamkeit hatte, reckte er sich schnüffelnd nach Moriarty, der ihm bereitwillig seine Hand hinhielt. „Na, du kleiner Kerl."
Der Chihuahua presste seine Nase an Moriartys Handfläche, dann wich er zurück und bleckte die Zähne und ließ ein leises Knurren hören. Sebastian musste sich ein Lachen verkneifen. Zumindest Tiere hatte Moriarty noch nicht zu täuschen gelernt. „Hush, Thor", sagte Hilda empört. Sie setzte den Chihuahua - Thor (Sebastian erinnerte sich noch an Willards früheren Hund, der Hulk geheißen hatte) - auf den Boden und scheuchte ihn mit wedelnden Händen ins Innere des Hauses. Thor zog den Schwanz ein, kläffte noch einmal und war dann im Haus verschwunden, das, wie Sebastian nun bemerkte, größtenteils in einem warmen Gelb gestrichen und lichtdurchflutet war.
„Das tut mir leid", sagte Hilda, wobei sie die Hand, die sie Moriarty gereicht hatte, nervös knetete. „Thor ist etwas ... eigen."
Moriarty lachte darüber hinweg. „Schon in Ordnung. Tiere mögen mich nicht besonders. Ich denke, ihnen gefällt der Geruch meines Aftershaves nicht."
Hilda nickte. „Ja, das ist möglich. Tiere haben wirklich empfindliche Nasen." Einen Moment schien sie nicht richtig zu wissen, was sie mit sich anfangen sollte, dann wanderte ihr Blick jedoch wieder zu Sebastian, der etwas verloren im Hintergrund stand, und ihr Lächeln kehrte zurück. „Jetzt kommt aber endlich rein. Wir wollen ja hier kein Lager aufschlagen."
Sie wirbelte herum und deutete ihnen, ihr zu folgen. Sebastian warf einen kurzen Blick auf Moriarty, aber der trat sich bereits die Füße auf der Willkommensmatte vor der Tür ab und folgte Hilda dann hinein. Schweigend tat Sebastian es ihm gleich.
Als er die Tür hinter sich schloss, kam er sich sofort eingesperrt vor und erschlagen von einem Leben, das ihm mehr als nur fremd war.
Das Haus war so ziemlich das absolute Gegenteil von seiner eigenen Wohnung. Wo bei Sebastian angefangene Alkoholflaschen und Aschenbecher standen, waren es hier mit bunten Blumen ausgefüllte Vasen und kunstvolle Glasschalen, in denen Bonbons oder kleine Steinchen lagen. Ein kurzer Flur mit Jackenständer und Schuhregal und Spiegel führte in das Wohnzimmer, in dem eine hellgraue Couch beinahe den gesamten Raum einnahm. Auf dem weißen Tisch davor, der Sebastian gerade bis zum Schienbein ging, lagen verschiedenste Automagazine, aber selbst die waren ordentlich gestapelt.
Überall hingen Bilder. Sebastian versuchte, nicht zu offensichtlich zu starren, aber es war schwer. Da waren Fotografien von Willard und seiner jetzigen Familie: Er und Hilda eingewickelt in Fellen auf einem Hundeschlitten. Willard, Hilda und zwei Teenagermädchen. Dieses zweite Bild musste schon etwas älter sein, denn Hilda wirkte jünger auf dem Foto und Willard sah beinahe genauso aus wie in Sebastians Erinnerung von vor etwa achtzehn Jahren, als Sebastian Willard das letzte Mal gesehen hatte. Er war für den Schulabschluss an der Militärakademie, an der Sebastian gelernt hatte, aus Norwegen gekommen.
Von diesem Tag gab es auch ein Bild, Sebastian hatte allerdings nichts von dessen Existenz gewusst. Er selbst stand auf der Bühne und schüttelte die Hand des Schuldirektors - ein Freund seines Vaters. Er trug eine Uniform (die war Pflicht am Internat gewesen) und er war jung und ohne Narben und er grinste so breit, dass Sebastian den Anblick von sich selbst nicht ertrug. Er wandte sich ab und das nächste Bild, das ihm ins Auge stich, war das seines zwölften Geburtstages. Seine Mutter hatte es geschossen, das wusste Sebastian noch: Willard, der den rechten Arm um Sebastian und den linken um Severin gelegt hatte. Neben Sebastian stand Cat, sein ehemaliger bester Freund, das Gesicht zu einer Grimasse verzerrt, und hinter ihnen ragte Filip über ihre Köpfe hinaus, breites Lächeln, ein lässiges Peacezeichen in die Luft reckend. Er sah aus wie ihr großer Bruder. Sebastian wurde übel und gleichzeitig war da etwas in ihm, etwas, das in seiner Kehle brannte wie Whiskey, etwas, das seine Faust zucken ließ, und seinen Abzugsfinger. Seine Hand schnellte vor und er wollte das Bild umstoßen oder umdrehen, verharrte dann aber in der Luft und ließ seine Hand schließlich langsam wieder sinken.
„Interessant, was die Zeit so anrichten kann, nicht wahr?", fragte Moriarty hinter ihm und Sebastian zuckte zusammen, denn für einen Moment war er in der Vergangenheit verloren gewesen: nicht an dem Tag seines Geburtstages, sondern in der Nacht mit dem Zigarettenrauch und dem gestohlenen Auto und der Waffe und Jim neben sich, bereit sich für ihn zu rächen oder möglicherweise auch nur bereit, einen Menschen zu töten, um sich etwas weniger zu langweilen (vielleicht würde Sebastian Moriarty irgendwann nach dem wahren Grund fragen).
Sebastian wusste nicht, wen Moriarty auf diesem Bild meinte, deshalb schwieg er. Moriartys Aufmerksamkeit war sowieso bereits weitergewandert - er folgte Hilda durch das Wohnzimmer und zur angrenzenden Küche.
Möglicherweise hatte er Sebastian nur provozieren wollen, oder vielleicht war es nur ein nebensächlicher Kommentar gewesen, aber Sebastians Gedanken blieben dennoch an Moriartys Worten hängen.
Es war nicht die Nachricht an sich, sondern die Art, wie Moriarty es gesagt hatte. Hätte er es nicht besser gewusst ...
Sebastian drängte den Gedanken zurück, straffte den Rücken und lief weiter, die Bilder seiner Jugend hinter sich lassend, wie er es auch liebend gern mit seinem alten Leben tun würde. Und dennoch war er hier, in Willards Haus, bei seiner Frau - mit Moriarty. Er beschloss, sich auf diesen Fakt zu konzentrieren: Er war nicht um der Vergangenheit Willen hier, sondern weil es nicht anders ging. Moriarty war sein Boss, er war in Gefahr und hier waren sie sicher, und wollte Sebastian am Leben bleiben, sollte er dafür sorgen, dass dem auch so blieb.
„Wie lange bist du schon mit Willard verheiratet?", fragte Sebastian, in dem ungeschickten Bemühen, Smalltalk zu führen, während er sich in der weiß-hellblauen Küche umsah. In Schränken und Regalen waren ordentlich Gewürze und Teller und Kochutensilien gelagert, doch die Arbeitsfläche war mit Mehl bestäubt und ein Teigklumpen lag darin, vergessen und zurückgelassen für den plötzlichen Besuch.
Hilda lächelte. „Wir haben uns vor etwa sechzehn Jahren in Norwegen das erste Mal gesehen. Leider haben wir viel zu lang gebraucht, um zueinander zu finden, aber mittlerweile sind wir seit acht Jahren verheiratet." Sie strich sich, weiterhin (fast verlegen) lächelnd, einige lose Haarsträhne ihrer hellen Locken hinter die Ohren und diese Geste wirkte an ihr beinahe mädchenhaft und außerdem ließ sie ihren Ehering aufblinken, den Sebastian anstarrte wie etwas, das er noch nie zuvor gesehen hatte. Er ermahnte sich, sich zusammenzureißen. Hilda deutete mit einer Handbewegung auf die Arbeitsfläche. „Verzeiht das Chaos. Ich war gerade dabei Brot zu backen."
„Das hier soll Chaos sein?" Moriarty lachte erneut auf und dieses Mal ließ der Laut etwas in Sebastians Innerem erstarren - vielleicht, weil er sich fragte, ob er sich damals auch so leicht von Moriarty hatte täuschen lassen, wie Hilda es nun tat. „Du solltest sehen, wie es bei Sebastian aussieht. Dagegen ist das hier beinahe klinisch."
Sebastian wollte nicht wissen, wieso Moriarty den Zustand seiner Wohnung kannte.
„Ach, Willard ist genauso schlimm. Ich bin ständig dabei, ihm hinterherzuräumen. Aber er hat andere Vorzüge und über fehlende Ordnung kann ich hinwegsehen."
Es war seltsam, Willard sich mit dieser Frau vorzustellen. Nicht, weil sie nicht zu ihm passte, sondern weil Sebastian Willard nur als ... Willard kannte und nicht als Teil eines Doppelgespanns, das sich gegenseitig ergänzte.
„Wollt ihr vielleicht etwas trinken?", fragte Hilda, während sie bereits zu einem Schrank ging und zwei Gläser hinausnahm.
„Ein Glas Wasser wäre großartig, danke", antwortete Moriarty und Sebastian nickte nur zustimmend.
Er fuhr mit dem Zeigefinger eine Spur im Mehl nach und bemerkte dabei, dass noch etwas Blut unter seinen Fingernägeln klebte. Schnell verrieb er das Mehl und ließ seine Hand wieder sinken. Dabei fiel ihm erneut seine Schusswunde ein und fast, als hätte sie darauf gewartet, dass Sebastian an sie dachte, begann sie wieder zu stechen. Er tastete unauffällig seinen Arm entlang, aber der Verband schien noch zu sitzen.
„Darf ich fragen, wie lang ihr beide schon zusammen seid?" Hilda stellte ihnen zwei mit Wasser gefüllte Gläser hin und blickte zwischen Moriarty und Sebastian hin und her und Sebastian öffnete den Mund, um etwas zu sagen, aber Moriarty kam ihm zuvor:
„Wir arbeiten seit etwas mehr als einem Jahr miteinander. Aber eigentlich kennen wir uns auch aus unserer Jugend." Dieser Fakt kam ihm so leicht über die Lippen, als wäre er auch eine Lüge und fast schien es, als wäre es allein deswegen eine Lüge, weil Moriarty die Worte sprach und weil er Hildas Annahme, sie wären ein Paar, geschickt umging, Raum für Deutungen offenließ, aber nicht zu viel.
„Oh, eine Wiedervereinigung also? Wie süß." Zu Sebastians Entsetzen schien sie dies ernst zu meinen. Er nahm einen Schluck Wasser.
Sebastian beschloss, lieber nichts zu sagen. Egal, was Moriarty für ein Spiel zu spielen beabsichtigte, es wäre wohl für alle Beteiligten besser, würde Sebastian ihn einfach machen lassen. Und er wusste, dass seine einstige Beziehung zu Jim spätestens mit der Ankunft Willards angesprochen werden würde und das Willard möglicherweise zu ähnlichen Schlüssen kommen würde wie seine Frau. Das hatte er bereits auf der Fahrt hierher überlegt und beschlossen, dass er solche Annahmen auch nutzen konnte, um Fragen zu entgehen, aber jetzt war er nicht mehr ganz von diesem Plan überzeugt. Er fühlte sich nicht direkt unwohl dabei, Moriartys Partner zu spielen, er fühlte sich nur nicht ... wohl.
Außerdem war Sebastian vielleicht ein geübter Lügner, aber eine Beziehung vorspielen hatte er noch nie gemusst - abgesehen davon, dass Moriarty ihm wahrscheinlich ein Körperteil abhacken würde, würde Sebastian um der Rolle Willen versuchen, ihm näher zu kommen.
Vorsichtshalber trat Sebastian einen Schritt zur Seite und besah sich scheinbar interessiert das Gewürzregal. „Wie gefällt dir Irland eigentlich, Hilda?"
Sebastian sah aus dem Augenwinkel, wie Moriarty ihm einen Blick zuwarf, der ziemlich dafür sprach, dass er Sebastian Vorwürfe für solch ungeschickte Plaudereien machte. Er versuchte, es von sich abprallen zu lassen. Er hatte seit Jahren keinen Smalltalk mehr führen müssen und es war nicht seine Schuld, dass er deshalb so miserabel darin war.
„Um ehrlich zu sein, vermisse ich Norwegen sehr", gestand ihnen Hilda. Sie wusch sich kurz die Hände und begann dann während des Redens, den Brotteig zu kneten. „Hier in Irland herrscht einfach eine ganz andere Mentalität und das ist nicht unbedingt schlecht, aber ... Es ist nicht dasselbe, versteht ihr?" Sebastian war froh, dass Hilda auf sein Gesprächsthema (das nur ganz subtil von seiner angeblichen Beziehung zu Moriarty ablenken sollte) ansprang, aber er hörte ihren Ausführungen nur mit einem Ohr zu. Moriarty blickte auf seine Armbanduhr und Sebastian verstand es als Zeichen dafür, dass seine Geduld langsam zu Ende ging. „Vor allem vermisse ich die Landschaften. Nein, streicht das, ich vermisse meine Familie. Glücklicherweise besuchen mich meine Töchter ab und zu, oder ich sie, also wird die Sehnsucht nie unerträglich."
Hilda streute noch etwas mehr Mehl auf ihre Hände und den Teig und knetete dann weiter. „Die beiden werden auch an Willards Geburtstag kommen und dann kann ich sie endlich wieder richtig umarmen." Sie blickte wieder hoch. „Bleibt ihr für den Geburtstag?"
„Dafür sind wir hier", sprang Moriarty wieder ein. Sein Lächeln wirkte ebenso charmant wie zuvor, aber sein Blick hatte etwas Abwesendes. „Leider haben wir uns im Vorhinein keine Gedanken über eine Unterkunft gemacht - es war eine recht spontane Entscheidung, hierherzukommen - aber es gibt hier doch sicher einige empfehlenswerte Hotels, nicht wahr?"
„Hotels?!" Hilda schien plötzlich empört zu sein. „Ihr müsst doch nicht extra so lang für ein Hotel aufkommen. Wir haben eine kleine Hütte in unserem Garten, eigentlich vermieten wir sie als Ferienwohnung. Aber zurzeit wohnt niemand darin und ich müsste mich als Gastgeberin schämen, würde ich euch darin nicht unterbringen dürfen."
„Das ist wirklich nett, aber ...", setzte Moriarty an.
„Ah, kein aber!", ermahnte Hilda und hob einen mehligen Finger. „Ich tue das gern, wirklich. Und ich bin mir sicher, Willard wird so viel Zeit wie möglich mit Sebastian verbringen wollen."
Sebastian erwiderte ihr Lächeln und versuchte, nicht zu schuldig dreinzublicken. Moriarty senkte leicht zum Dank den Kopf und lächelte ebenfalls, etwas schmaler, ein etwas echteres Lächeln, und Sebastian erkannte daran, dass er mit sich selbst zufrieden und das Gespräch so verlaufen war, wie er es sich gewünscht hatte. Sebastian schluckte das schlechte Gewissen, Willard und seine Frau so auszunutzen, hinunter. „Das ist wirklich unglaublich nett."
„Das ist eine Selbstverständlichkeit", korrigierte Hilda. „Weißt du, Willard hat dich immer wie einen eigenen Sohn gesehen. Auf eine Weise hat er dich immer so vermisst, wie ich meine Familie vermisse."
Sebastian schluckte erneut, dieses Mal aus einem anderen Grund. „Ich habe ihn auch vermisst." Und er stellte fest, dass das der Wahrheit entsprach. So sehr er versucht hatte, seine Vergangenheit ruhen zu lassen, musste er zugeben, dass er sich die guten Dinge - Willard, seine alten Freunde, Irland - irgendwo tief in seinem Inneren immer herbeigesehnt hatte. Aber er wusste auch, dass das alles nicht mehr in sein Leben passte. Am heutigen Morgen hatte er seinen Vater erschossen. Jetzt schützte er einen Verbrecher. Jetzt ging ihm, in diesem friedlichen Haus bei einer so freundlichen Frau, auf, dass er selbst auch ein Verbrecher war, egal, wie häufig er sich einredete, dass er weiterhin nur Befehlen folgte.
Das Geräusch eines Schlüssels im Schloss ließ ihn zusammenfahren.
„Das muss Will sein!", sagte Hilda erfreut, klopfte sich die Hände ab und lief los, um ihren Mann zu begrüßen.
Sebastian blieb wie verwurzelt auf der Stelle stehen und war sich plötzlich mehr als nur bewusst, dass er seine Vergangenheit nicht nur hinter sich hatte lassen wollen, sondern auch, dass er Angst davor hatte.
Er war nicht bereit dafür, dass Willard sah, was aus ihm geworden war.
<>
Hi!
Wieder ein neues Kapitel, dieses Mal am Sonntag. Ich schätze, es gibt jetzt wirklich keinen festen Updatetag mehr ':)
Jetzt folgt erst einmal eine kleine Familienvereinigung, die ich vor allem für mich geschrieben habe, weil ich fand, dass Sebastians Geschichte keinen Sinn machen würde, würden die (guten und schlechten) Geister seiner Vergangenheit nicht wieder darin auftauchen. Solche "Rückblenden" (wenn man es so nennen kann), wird es in diesem Buch öfter geben und vielleicht ist es für euch ja ganz interessant, die Geschehnisse aus dem ersten Teil aus Sebastians Sicht wahrzunehmen :)
Okay, nun ist Sebastian also zu Willard zurückgekehrt, den er so lang nicht gesehen hat, nachdem er seinen Vater erschossen hat, dem er entfremdet war. Ist es euch schon einmal passiert, dass ihr zu einem Menschen sehr lang keinen Kontakt mehr hattet und ihn dann aber wieder neu "kennengelernt" habt? Wenn nicht, könntet ihr es euch vorstellen? Vor allem, wenn es um Familie geht?
Mit diesen Fragen lasse ich euch wieder in Ruhe, wünsche euch ein wunderschönes Rest-Wochenende und hoffe, ich lese euch bald wieder!
Eure
Tatze.
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