»I killed you, I'm not gonna crack«

„Bereit", sagte Sebastian durch das Funkgerät, das er sich hinter das Ohr geklemmt hatte, und versuchte, den kalten Nieselregen, der auf seinen Nacken fiel, sowie den starken Wind zu ignorieren. Die Bedingungen waren nicht die besten und mehr als eine Chance würde Sebastian nicht bekommen, das hieß, er musste trotz der Widrigkeiten seine Konzentration aufrecht erhalten. Er blinzelte sich einige Regentropfen aus den Augen und verfluchte sich selbst, keinen trockeneren Ort gefunden zu haben.

Er ist gleich bei dir", ertönte Medeas Stimme in seinem Ohr. Sebastian legte sich tiefer, rutschte näher an den Dachrand, und blickte durch das Visier seines neuen Gewehrs, das perfekt und trotz des Regens fest in seinen Händen lag.

Sebastian hatte zunächst Bedenken gehabt, seine neue Waffe sogleich bei einem Auftrag zu verwenden, aber Moriarty hatte ihn geradezu dazu gedrängt. Vielleicht wollte er seine Investition testen, oder vielleicht wollte er es Sebastian schwerer machen, oder vielleicht vertraute er Sebastians Fähigkeiten mehr als dieser selbst.

Die letzten fünf Tage lang war Sebastian täglich für mehrere Stunden aufs Land gefahren und hatte sich mit dem Gewehr vertraut gemacht, während Moriarty und Medea irgendwelche Angelegenheiten erledigt hatten. Sie hatten ihn nicht gebraucht, aber Medea hatte es dennoch sichtlich missfallen, wann immer Sebastian das Hotel ohne sie verlassen hatte. Sebastian könnte das nicht egaler sein; er war nur hier, weil er eine Mission hatte und auf die hatte er sich so gut wie möglich vorbereitet. Er hatte sich also in die Felder gelegt und geschossen. Zunächst auf unbewegliche Hindernisse - Tannenzapfen und Baumlöcher, einzelne Blätter oder Baumstämme. Schon bei diesen Schüssen hatte er geradezu vibriert vor Aufregung: Nicht nur, dass das Gewehr auf jede kleinste seiner Bewegungen wie ein Organismus zu reagieren schien, oder dass es nur den leisesten Laut von sich gab, seine Durchschlagkraft war auch auf einer Ebene, die bei den Entfernungen, aus denen Sebastian schoss, unmöglich sein sollte. Nach den Trockenübungen hatte Sebastian aus fast zwei Kilometern auf einen Schwarm Schwalben gezielt und glatt durch zwei der Vögel hindurchgeschossen. Das Gewehr fühlte sich wie Magie in seinen Händen an und die letzten Tage war er in geradezu ekstasischer Stimmung gewesen.

Seine Euphorie war etwas abgeklungen, als Moriarty ihn am heutigen Morgen darüber unterrichtet hatte, dass es Zeit wurde.

Jetzt lag Sebastian auf einem zehnstöckigen Gebäude, beobachtete, wie Politiker in das Hotel vor ihm hineinschwirrten wie Ameisen in ihren Bau, und wartete auf seinen Vater. Medea folgte indes dem Auto, in dem er saß, und Moriarty war im Hotel geblieben, mit dem Hinweis Medeas, er solle sich am besten verhalten, als wäre er nicht da, oder als wären Medea und Sebastian noch bei ihm. Vermutlich fürchtete sie einen weiteren Angriff auf Moriartys Leben, aber dieser schien recht unbesorgt und deshalb hoffte Sebastian einfach, dass Medea und er bei ihrer Rückkehr einen lebendigen Moriarty und keinen durchlöcherten auffinden würden.

Er biegt ein. Mattgraue Audi A6 Limousine."

Sebastian hatte noch immer keine Ahnung von Autos, aber er sah einen Wagen mit der genannten Färbung auf die Straße unter ihm einbiegen. „Blickkontakt", sagte er. Er beobachtete durch das Visier, wie das Auto vor dem Hotel anfuhr und kurz darauf stehenblieb. Durch die Vergrößerung erkannte er sofort, dass der Mann, der sich einige Sekunden später aus dem Wagen schwang, während sein Wagen zum Parken fortgefahren wurde, tatsächlich sein Vater war.

Augustus Moran war alt geworden. Sebastian hatte natürlich gewusst, dass in all den Jahren, die er seinen Vater ignoriert hatte, dieser sich verändert haben musste. Immerhin war Sebastian auch nicht mehr der neunzehnjährige junge Erwachsene, den sein Vater zuletzt gesehen hatte. Aber irgendwie hatte Sebastian erwartet, dass sein Vater noch immer aussah wie damals. Streng und aufrecht und irgendwie stählern. Und all diese Eigenschaften trafen auch noch auf Augustus zu. Aber er war auch alt. Sein volles Haar war mittlerweile vollständig ergraut, er hatte an Gewicht verloren und er sah aus wie ein fremder Mann. Sebastian legte den Finger an den Abzug.

Just in diesem Moment sah sein Vater zu ihm auf. Es war ein Zufall, musste es sein, denn eigentlich konnte er von Augustus' Standort nicht zu sehen sein und der Regen und die tiefhängenden, grauen Wolken sollten nur weiter dazu beitragen, dass Sebastian unerkenntlich auf dem Dach lag. Dennoch könnte er schwören, dass sein Blick sich kurz mit dem seines Vaters kreuzte. Durch das Visier konnte Sebastian sein Gesicht erkennen. Alt und streng und mit einem Zug um den Mund, der von Abscheu oder Enttäuschung oder davon sprach, dass er an Sebastian dachte. Wie sehr hatte er dieses Gesicht zu hassen gelernt. Nach Severins Tod war nur alles noch schlimmer geworden: Willard war weggezogen, er selbst hatte die Schule gewechselt, hatte Jim verloren und seine Freunde, und sein Vater war geblieben. Er hatte neu geheiratet, etwas mehr als zwei Jahre nach dem Tod von Sebastians Mutter. Sebastian hatte nicht zu der Hochzeit kommen wollen, er hatte nicht sehen wollen, wie Augustus so einfach weitermachte, wo er noch immer versuchte, nicht mehr zu straucheln, und stattdessen von allen Richtungen gestoßen wurde. Aber er war doch dort gewesen. Natalie, die neue Frau seines Vaters und seine ehemalige Assistentin, hatte ihn freudestrahlend empfangen und in den Arm genommen, als könnte Sebastian sie tatsächlich leiden. Die Hochzeitszeremonie war so ziemlich das langweiligste gewesen, was Sebastian je erlebt hatte. Viel schlimmer aber war die Feier danach gewesen: Er hatte eine heuchlerische Rede gehalten, dem Brautpaar gratuliert und sich dann betrunken. Irgendein Typ, ebenso betrunken wie er, hatte ihn am Büffet angeflirtet und Sebastian war darauf angesprungen, weil sein Gehirn von bitterer Wut und teurem Wein benebelt gewesen war. Sie hatten sich geküsst - oder vielleicht eher rumgemacht - und es hatte vielleicht zwanzig Minuten gedauert, ehe jeder auf der Hochzeit von den beiden Männern erfahren hatte, die sich in einer Ecke in der Nähe des Kuchens überhaupt nicht heterosexuell verhalten hatten. Nicht nur hatte Sebastian sich so vor versammelter Mannschaft geoutet (sein Vater hatte ihn nie auf seine Sexualität angesprochen und Sebastian hatte es so sehr gut gefallen), er hatte auch erfahren, dass der Typ, der ihn da gegen die Wand gedrückt hatte, der jüngere Bruder von Natalie gewesen war.

Sebastian hatte ein Taxi genommen und war zurück in das Hotelzimmer gefahren, das sein Vater für ihn gemietet hatte. Er hatte seine Sachen gepackt, von der Demütigung wieder nüchtern, und hatte einen Nachtflug zurück nach London ins Internat genommen. Das war das letzte Mal gewesen, dass er seinen Vater gesehen hatte. Anfangs hatte Augustus noch versucht, zu ihm durchzudringen, hatte ihn zu Weihnachtsessen eingeladen oder ihm Nachrichten geschrieben. Sebastian hatte keine beantwortet; zu groß der Hass auf seinen Vater und sich selbst. Augustus' Bemühungen waren sowieso nur eine Scharade gewesen. Er hatte zwar Sebastians Schulgebühren bezahlt, aber er war weder bei seinem Abschluss noch bei seinem Eintritt in die British Army zugegen gewesen. Sebastian hatte das gutgefunden. Es war sein Leben und er wollte seinen Vater nicht mehr darin haben.

Doch die Geschichte schien schlaufenförmig und dort, wo er wieder auf Jim - auf Moriarty - getroffen war, dort wartete am Ende auch sein Vater.

Augustus Moran sah zu seinem Sohn auf, oder vielleicht betrachtete er auch nur missmutig die grauen Wolken. Es war derselbe Gesichtsausdruck.

Sebastian atmete ein, dann aus, dann drückte er ab. Die Sekunde, bis die Kugel seinen Vater in die Stirn traf, schien sich ebenso in die Unendlichkeit zu ziehen, wie der Moment, als sich ihre Blicke gekreuzt hatten. Alles schien in Zeitlupe abzulaufen. Der Regen schien beinahe in der Luft zu stehen und das nächste Blinzeln schien Äonen entfernt. Sebastian fühlte in sich hinein und suchte nach Reue, aber er schmeckte stattdessen teuren Wein und bittere Wut und falsche Worte und den Kuss eines Mannes, den er aus Prinzip verachtete.

Dann stürzte Augustus endlich nieder. Sebastian beobachtete, wie er fiel. Beobachtete, wie er aufschlug, tot, und nicht in der Lage, sich aufzufangen. Über den Funk hörte er Rauschen, aber er war sich ziemlich sicher, dass es eigentlich Medeas Stimme war und sie sagte: „Gut gemacht."

„Das lässt sich einrichten", sagte Jim in seinen Erinnerungen.

Es hat sich einrichten lassen. Sein Vater war tot. Sebastian hatte ihn getötet. Augustus Moran war tot.

Das Gewehr in seinen Händen wurde schwer und er zog es zurück und rollte sich vom Rand des Daches. Er sah gerade noch, wie die ersten Menschen zur Leiche seines Vaters stürzten, dann blickte er in den Himmel und Regentropfen perlten von seiner Haut.

Komm zum Treffpunkt, Sebastian. Pass auf, dass niemand dich sieht."

Sebastian erlaubte es sich, einen Moment liegen zu bleiben, dann stemmte er sich vom kalten, nassen Stein auf. Er wischte sein Gewehr so gut es ging trocken und legte es anschließend vorsichtig in den Koffer, den Von Herder ihm als Schutz mitgegeben hatte und der von außen wie eine normale Reisetasche aussah, und von innen mit genügend Taschen für Patronen und Ergänzungen für das Gewehr, sowie dem Gewehrkoffer ausgestattet war. Sebastian ließ sich mehr Zeit mit dem Zusammenpacken als sonst, und er beeilte sich auch nicht, zu dem Fahrstuhl zu kommen. Als er durch den Hinterausgang auf die Straßen trat, raste gerade ein Krankenwagen mit drehenden blauen Lichtern an ihm vorbei. Sebastian sah ihm nach, in dem Wissen, dass er doch nur einen Toten transportieren würde.

Er wandte sich ab und schritt durch die Straßen, die Tasche mit seinem Gewehr über die Schulter gelegt.

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Medea wartete in einem Wagen vor einem kleinen Cafè auf ihn und als sie ihn kommen sah, stieg sie aus und nickte in Richtung Cafèeingang. Sebastian folgte ihr hinein und setzte sich an einen freien Tisch mit zwei einander gegenüberliegenden Stühlen, auf den Medea mit einer kurzen Handbewegung wies.

Während Sebastian sich setzte, die Tasche vor seine Füße gelegt, stellte Medea sich hinter die kurze Schlange vor dem Verkaufstresen. Sebastian ließ den Blick schweifen, versuchte, sich jedes Gesicht einzuprägen und einzuschätzen, ob irgendjemand der Anwesenden eine Gefahr sein könnte, doch sie alle schienen nur wie Menschen, die ihren Morgenkaffee brauchten und die Nachricht des Mordes an einen Politiker kurz überfliegen und dann als Smalltalk-Thema nutzen würden.

Draußen verwandelte der Nieselregen sich in Platzregen. Sebastian wischte sich die Nässe aus Gesicht und Nacken und trommelte leicht mit den Fingern auf die Tischplatte. Vor dem Cafè kam ein Polizeiauto angefahren und einen Moment stockte Sebastian der Atem, doch dann schaltete es die Sirene an und rauschte in die Richtung davon, aus der Sebastian gekommen war.

Ein Kaffeebecher wurde vor ihm abgestellt und Sebastian richtete den Blick auf Medea, die sich ihm gegenüber niederließ. „Der Boss will, dass ich sichergehe, dass du ganz bei dir bist", sagte sie. Sie nahm den Deckel von ihrem Becher und rührte etwas Zucker in ihren Kaffee. „Bist du ganz bei dir?"

Sebastian nahm einen Schluck von seinem Kaffee und hob die Augenbrauen. „Wie genau beobachtet ihr mich eigentlich, dass du weißt, wie ich meinen Kaffee trinke?"

Medea hob nur die Schultern. Ihre neongrünen Haare hatte sie sich zu einem strengen Dutt zusammengebunden; ein Bild, das schon an sich widersprüchlich wirkte. „Versuch gar nicht erst, abzulenken. Es ist wichtig, dass du konzentriert bist."

„Das bin ich immer." Und das stimmte. Sebastian war konzentriert. Er nahm wahr, dass einer der Verkäufer Medea von hinten musterte, dass die junge Studentin in der hinteren, linken Ecke weinte, während sie auf ihr Handy starrte, dass das Licht über dem Verkaufstresen leicht flackerte und die zweite Verkäuferin sich einen Kaffee mit Milch machte. Er erkannte Medeas Ungeduld daran, dass sie ihren Kaffee in einer Schnelligkeit hinunterstürzte, die bei der Temperatur des Getränks unangenehm sein musste - nein, es war keine Ungeduld, es war Hektik. Sebastian zog die Augenbrauen zusammen. „Was ist los?"

Medea kippte den Rest ihres Kaffees hinunter und lehnte sich vor. Sebastian tat es ihr gleich. Der Verkäufer wandte sich ab. „Ich habe eine Nachricht von einem Kontakt bekommen. Ich muss noch einige Tage in Irland bleiben und die Sache regeln, aber für den Boss ist es nicht sicher hier. Deshalb musst du allein mit ihm zurückfliegen. Ich habe die Piloten bereits benachrichtigt. In einer Stunde sind sie abflugbereit."

„Ich dachte, du bist der Begleitschutz", sagte Sebastian, aber der Spott, den er nutzen wollte, klang wie Unsicherheit und vielleicht ging Medea ihm deshalb nicht an die Kehle.

„Hör zu, ich würde das nicht tun, wenn es kein Notfall wäre. Aber das ist es, und ich muss wissen, dass ich dir vertrauen kann, dass du den Boss beschützen kannst. Also, Sebastian, bist du wirklich ganz bei dir?"

Sebastian hatte soeben seinen Vater getötet, weil sein Boss und der Junge, den er in seiner Jugend geliebt hatte, das von ihm verlangt hatte. Er hatte es nicht hinterfragt, hatte Befehle befolgt und es war einfacher gewesen, als er es erwartet hätte. Noch immer suchte er nach dem schlechten Gewissen, das ihn plagen sollte, doch alles, was er fand, war Nervosität, weil Medea ihm so viel Verantwortung übertrug.

Er nickte kurz.

Etwas Anspannung schien von Medeas Schultern zu fallen. „Gut, dann vertraue ich dir. Nimm du das Auto, hol den Boss und fahr dann so schnell es geht zum Flughafen. Ruf mich an, wenn ihr da seid, damit ich weiß, dass er in Sicherheit ist. Ich werde dir weitere Anweisungen geben."

Sebastian nickte erneut. Das klang einfach genug. Das würde er schaffen.

Medea schob ihm die Autoschlüssel über den Tisch zu. „Ich weiß nicht, wie ernst die Lage ist, aber wir sollten lieber übervorsichtig als nicht vorsichtig genug sein. Achte darauf, dass niemand sieht, wie ihr das Hotel verlasst; das Auschecken übernehme ich. Der Jet steht auf dem gleichen Flughafen, auf dem wir gelandet sind. Noch einmal: Ruf unbedingt an, bevor ihr an Board geht. Hoffentlich weiß ich bis dahin mehr."

„In Ordnung." Sebastian nahm den Schlüssel, trank seinen Kaffee aus und nahm seine Tasche wieder unter dem Tisch hervor. Er zögerte jedoch, ehe er sich erhob. „Wie unsicher ist es für ihn?"

Medeas Gesicht war ernst. „Erinnerst du dich, dass du gesagt hast, du würdest einen Kugelhagel für ihn abfangen? Ich hoffe, das meintest du so."

Sebastian nickte erneut, stand auf und trat kurz darauf in den Regen hinaus. Die Nässe und Kälte war eine gute Erinnerung daran, wie real das alles hier war und Sebastian beschloss, seine Überlegungen bezüglich seiner Gefühle gegenüber des Mordes an seinen Vater fürs Erste völlig zu verdrängen. Es gab Wichtigeres.

Er schwang sich in das Auto, legte seine Tasche sicher auf den Beifahrersitz und fuhr dann so schnell er es wagte, ohne zu sehr aufzufallen, zum Hotel, um Moriarty abzuholen.

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Hallo :)

Tut mir leid, dass dieses Kapitel so spät kommt, aber letzte Woche war so viel bei mir los. Ich war in Rom (was unglaublich schön, aber auch unglaublich stressig war) und dann gestern auf dem My Chemical Romance - Konzert (aka einer der besten Momente meines Lebens) und irgendwie habe ich da zwischendrin keine Zeit gefunden, zu updaten.

Da hole ich jetzt dafür nach mit einem Kapitel, das ziemlich, ziemlich wichtig ist, wie ihr euch vielleicht denken könnt. Ab jetzt wird die Sache nämlich etwas verzwickt ;)

Über Theorien und sonstige Kommentare freue ich mich sehr. Ich wünsche euch noch einen wunderschönen Abend!

Liebe Grüße,
Tatze.

PS:

Hier einige Bilder aus Rom, der ewigen Stadt :)


Sorry for that photo dumb but ... eh, actually not. Enjoy. :)

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