»I can't talk«

Sebastian wusste nicht, wann er zuletzt ein solches gemeinsames Essen mit jemandem gehabt hatte. Ein ... Familienessen.

Vielleicht, als seine Mutter noch gelebt hatte. Wann immer sie und ihr Vater beide dagewesen waren, hatte sie darauf bestanden, dass die Familie gemeinsam zu Abend aß. Sie hatte ihnen Freiraum gegeben, was den Rest des Tages betraf, aber auf ein gemeinsames Abendessen hatte sie immer bestanden.

Nach ihrem Tod hatte ihr Vater hingegen darauf bestanden, Sebastian und Severin, wann immer sie nicht im Internat waren, zu jedem Essen bei sich zu wissen. Vielleicht, weil er glaubte, dass das von ihm als Vater erwartet wurde. Doch für Sebastian hatte es sich immer angefühlt, als wäre er einer der Diplomaten, mit denen sein Vater so oft zusammensaß; die gemeinsamen Mahlzeiten hatten nichts mit Familie zu tun gehabt und sie hatten sich wie ein Zwang angefühlt und als hätte sein Vater das Andenken seiner verstorbenen Frau ersetzen wollen.

Im Internat hatte er im ersten Jahr nur wenig Lust darauf gehabt, mit irgendwem etwas zu tun zu haben, und hatte zumeist allein gegessen. Dann war Jim gekommen und er war nicht mehr allein gewesen, aber das Essen in der Cafeteria hatte nur daraus bestanden, dass Sebastian sich möglichst viel an Essen in möglichst kurzer Zeit hineinstopfte und Jim entweder ihn oder die Leute um ihn herum verspottete. (Nicht, dass ihn das gestört hätte. Er hatte schon lang aufgegeben, zu versuchen herauszufinden, was genau ihm an Jim so gefallen hatte.)

Die Mahlzeiten an der Militärakademie waren ebenfalls in der Cafeteria gewesen, nur lauter, und später dann, auf den Einsätzen und in seiner kahlen Wohnung zwischen den Einsätzen, waren Mahlzeiten rar und fade und meist einsam oder mit paranoider Vorsicht eingenommen worden.

Nichts von alledem ließ sich mit dem Abendessen zusammen mit Willard und Hilda vergleichen.

Es duftete überall nach frisch gebackenem Brot; ebendieses war direkt vor seine Nase gestellt worden, genau wie ein Teller mit gebratenem Fischfilet, Kartoffeln und Gemüse und einer Schüssel mit einer süßlich riechenden Suppe.

Sebastian hatte keine Ahnung, wie er sich verhalten sollte. Er hatte sich von Hilda von der Tür und zu seinem Platz am Tisch führen lassen, hatte von Willard sein Essen serviert bekommen und nun saß er hier und seine Zunge lag seltsam schwer in seinem Mund und er wusste nicht recht, wie er über diese seltsame Situation fühlte.

„Alles in Ordnung, Sebastian?", fragte Hilda, die ihm gegenüber saß und lächelte ihm warm zu.

Zögerlich griff Sebastian nach seinem Besteck. „Ja", antwortete er, leicht verspätet. „Ich schätze, ich bin so etwas hier einfach nicht mehr gewöhnt."

„Gab es denn niemanden, mit dem du in den letzten Jahren deine Abende verbracht hast?", fragte Hilda weiter und es sollte wohl eine einfühlende Frage sein, aber Sebastian kam sich wie vor den Kopf gestoßen vor, obwohl er all die Jahre lang recht zufrieden mit seinem Leben gewesen war und auch damit, dass er eben niemanden gehabt hatte, mit dem er seine Abende hätte "verbringen" können.

„Ich meine ... Ich hatte einige Beziehungen, wenn du das meinst. Es hat aber nie gepasst." Sebastian schnitt konzentriert seinen Fisch und versuchte angestrengt, nicht in Willards Richtung zu sehen, der immer gewusst hatte, wann er log. Die Wahrheit war, dass er nicht glaubte, dass irgendjemand zu ihm passen konnte, dass irgendwann tatsächlich etwas Ernstes zwischen ihm und einem anderen Mann entstehen könnte. Es war ja nicht einmal so, dass er so etwas wollte und deshalb aktiv danach suchte. Er hatte sich schon lange damit abgefunden, dass all seine "Beziehungen" immer etwas Distanziertes, etwas Gelegentliches und vor allem etwas Endliches sein würden. Der Gedanke, sein Leben mit jemandem zu verbringen, war lächerlich und einschränkend.

„Und was ist mit Jim? Passt das?", wollte Hilda nun wissen und Sebastian erstarrte einen Moment in der Bewegung, ehe er sich wieder fing.

Ehe er jedoch den Mund aufmachen konnte, räusperte sich Willard schräg neben ihm. „Hilda, nun hör schon auf, ihn so zu verhören. Das geht uns nichts an." Er wandte sich Sebastian zu und der sah widerwillig von seinem Essen auf, das er bisher nur zerlegt, aber nicht angerührt hatte. „Wie ist es dir in den letzten Jahren ergangen, Sebastian? Was macht deine Militärkarriere?"

Sebastian hob die Schultern und kostete nun doch von dem Fisch - er schmeckte beinahe nichts, lächelte aber dennoch in Hildas Richtung, um ihr zu zeigen, dass das Essen gut war, weil sie nichts dafür konnte, dass die Panik in seiner Kehle alle Geschmäcker verbarg. Er ließ sich Zeit mit dem Kauen und blickte dann wieder zu Willard, der geduldig wartete. „Also, naja, eigentlich habe ich die Armee vor knapp zwei Jahren verlassen."

Willards Augenbrauen schossen in die Höhe. „Oh, tatsächlich? Darf ich nach dem Grund fragen?"

Sebastian zuckte erneut mit den Schultern. „Eine ... Meinungsverschiedenheit. Ich konnte nicht mehr bleiben."

„Wirklich? Das tut mir leid zu hören."

„Mir auch." Sebastian aß weiter und versuchte den Groll, der sich neben seiner Panik häuslich niederlassen wollte, von sich zu schieben.

„Ich kann mir gar nicht vorstellen, so lang Soldat zu sein. Ist der Krieg denn nicht beängstigend?" Hilda blickte ihn aus großen Augen an.

„Doch, doch das ist er." Sebastian lehnte sich zurück. „Aber das ist ein Teil davon. Angst kann sogar hilfreich sein, sie lässt dich vorsichtig sein. Wer nicht vorsichtig ist, stirbt." Sebastian griff wieder nach seinem Besteck. „Ich will nicht sagen, dass man sich daran gewöhnt, aber man lernt, damit umzugehen."

„Du musst trotzdem durch so viel durchgegangen sein." Hilda deutete mit traurigem Ausdruck vage auf ihr Gesicht und Sebastian ging auf, dass sie auf die Narben in seinem eigenen anspielte. Seine Finger zuckten. Er war froh, dass sein Hemdkragen die sichelförmige Narbe an seinem Hals versteckte, denn er wollte nicht, dass Willard und seine Frau sahen, wie viel genau er bereits durchgestanden hatte. Er wollte kein Mitleid und außerdem war das seine persönliche ... Geschichte, die er mit niemandem teilen wollte, außer mit denen, die dabei gewesen waren. Obwohl vermutlich niemand seiner früheren Kameraden heute noch mit ihm reden wollen würde.

Sebastian wusste nicht, wie er auf Hildas Bemerkung antworten sollte, also blieb er still und für einen kurzen Moment aßen sie weiter in unangenehmen Schweigen. Er hätte nicht gedacht, dass es so schwer sein würde, Smalltalk zu führen, oder im Allgemeinen zu reden. Reden war nie etwas, das ihm schwergefallen war, jedenfalls früher nicht. In seiner Jugend hatte er in jedem und überall neue Freunde oder doch zumindest Bekanntschaften gefunden; Menschen dazu zu bringen, ihn zu mögen, war eine seiner Stärken gewesen.

Vielleicht hatte er das verlernt. Vielleicht hatte er es verlernt, mit Menschen zusammen zu sein, die keine Soldaten oder Verbrecher waren.

Ein Handyklingeln unterbrach schließlich die Stille. Willard runzelte die Stirn und griff in seine Hosentasche, während Sebastian ihn dabei beobachtete. Es musste eine eingegangene Nachricht sein, denn für einen Moment weiteten sich seine Augen und dann begann er zu lesen. Und seine Mimik wurde immer finsterer und finsterer und Sebastian hatte eine Ahnung, was er da gerade las.

Er nahm einen Schluck Wasser. Hilda lächelte ihm erneut zu, setzte an, etwas zu sagen, aber da erhob Willard sich abrupt und blickte zu Sebastian. „Sebastian. Kann ich kurz mit dir reden?"

Sebastian setzte das Wasserglas ab und mimte einen ahnungslosen Ausdruck. „Ja, natürlich." Mit einem entschuldigenden Blick in Richtung Hilda erhob er sich ebenfalls und ließ sich von Willard nach draußen auf eine kleine Terrasse führen. Draußen war es mittlerweile vollständig dunkel geworden und ein kalter Wind wehte. Sebastian versuchte, nicht zu erschaudern.

Willard schloss die Tür hinter ihnen und bot Sebastian im nächsten Moment eine Zigarette an, die dieser mit hochgezogenen Augenbrauen annahm - eigentlich hatte Willard nie geraucht. Entweder tat er es jetzt oder er hatte Zigaretten für Sebastian besorgt. Sebastian wusste nicht, was er von beiden Möglichkeiten halten sollte, und zündete seine Zigarette einfach mit einem dankbaren Nicken und dem Feuerzeug aus seiner Jeanstasche an. Er nahm einen tiefen Zug und seine Panik ebbte allein bei dieser vertrauten Geste etwas ab. „Was ist los?", fragte er, während er Rauch ausstieß.

Wortlos hielt ihm Willard sein Handy hin und das erste, was Sebastian sah, war ein Bild seines Vaters: kühles Lächeln auf den Lippen, ernster, stählerner Blick, ergrautes Haar. Darunter die Schlagzeile: Ceann Comhairle Augustus Moran ermordet - von Attentäter erschossen.

Es so niedergeschrieben zu sehen, ließ ihn kurz den Atem anhalten und in Folge daraus an dem Zigarettenrauch verschlucken.

Willard verschränkte die Arme, während Sebastian hustete und dann den Rest des Artikels las, der aufgrund der fehlenden Informationen recht kurz ausfiel. Es hieß darin, Augustus Moran sei kurz vor einer Versammlung vor dem Eingang seines Hotels von einem Scharfschützen erschossen worden. Die Polizei suche nach Spuren und Hinweisen und bat die Bevölkerung um Mithilfe, die sich bei ihr melden sollte, falls sie etwas Ungewöhnliches gesehen hatte (Sebastian hoffte, er war unauffällig genug gewesen). Derzeit ging man von einem politischen Mord aus, da dem Unterhausvorsitzenden zuletzt Parteilichkeit und Bestechlichkeit vorgeworfen worden war.

Sebastian nahm die Zigarette aus dem Mund und übergab das Handy wieder Willard, während er zusah, wie die Zigarette langsam abbrannte.

Er versuchte einmal mehr das Gefühlsgewirr in seinem Inneren zu entknoten und zu verstehen, wie er über seinen Mord an seinen Vater empfand, ob er ihn belastete, ob er ihm gleich war, ob er so etwas wie Genugtuung spürte. Aber alles, was er entziffern konnte, war die Verwirrung darüber, dass seine Taten in den Nachrichten waren. Für ihn, dessen Job es war, unauffällig und unter dem Radar zu bleiben, und dessen Ziele Terroristen in fremden Ländern oder unbekannte Kriminelle der Unterwelt gewesen waren, war das eine seltsame Erkenntnis - dass die Welt dieses Mal hinschauen würde.

Schließlich war seine Zigarette abgebrannt und Sebastian trat sie aus, woraufhin er wieder den Blick Willards auf sich spürte. Beinahe erwartete er, dass Willard ihm sagen würde, dass er wusste, dass Sebastian es getan hatte - und die Beweislage gegen Sebastian hätte es sogar schwierig gemacht, es abzustreiten: Er hatte seinen Vater immer gehasst, er war erst vor kurzem in Irland eingetroffen und er hatte die militärische Ausbildung eines Scharfschützens durchlaufen.

Doch alles, was Willard sagte, war: „Es tut mir leid."

Sebastian hob seinen zertretenen Zigarettenstummel auf und suchte nach einem Ort, wo er ihn entsorgen konnte, ohne die Terrasse zu verschmutzen - immerhin war er nur ein Gast. „Ich habe seit Jahren keinen Kontakt mehr zu ihm", antwortete er ausweichend. Willard deutete auf einen Grill am anderen Ende der Terrasse und Sebastian hob den Deckel und warf seine Zigarette in die rußige Schüssel.

„Er war dennoch dein Vater", hörte er Willard hinter sich. Einen Moment lang sah Sebastian durch die Dunkelheit zu dem erleuchteten Fenster der kleinen Ferienhütte, in der Moriarty gerade seinen Geschäfte nachging und vermutlich versuchte, eine Lösung für sein aufständisches Königreich zu finden.

„So habe ich ihn nie gesehen", sprach Sebastian erstmals in die Nacht hinaus aus, was er dachte seitdem er ein Junge gewesen war und erkannt hatte, dass er für seinen Vater immer nur eine Enttäuschung sein könnte, egal, was er tat.

Er drehte sich abrupt um und sah, dass Willard näher gekommen war, seine rechte Hand etwas erhoben, um sie Sebastian auf die Schulter zu legen und Trost zu bieten. „Wir sollten wieder reingehen und weiteressen."

„Bist du dir sicher?" Willard ließ seinen Arm wieder sinken und Sebastian blickte ihn an, den Mann, der ihn durch all seine schwersten Zeiten gebracht hatte, an den er noch hatte denken müssen, wenn er sich ermahnt hatte, es nicht mehr zu tun, den er so lang nicht mehr gesehen hatte und den er eigentlich nur für Moriartys Zwecke nutzte. Er fühlte sich schuldig, dass er sich bisher kaum bemüht hatte und er nahm sich vor, das zu ändern, denn er wusste nicht, was noch kommen würde und wann und ob er Willard ein weiteres Mal sehen würde, doch er war es ihm schuldig, seine Dankbarkeit für alles, das Willard je für ihn getan hatte, zum Ausdruck zu bringen. Er wollte keinen weiteren Gedanken an seinen Vater verschwenden, denn alles, was der ihm je gegeben hatte, waren Selbsthass und die Neigung zu schlechten Entscheidungen gewesen.

„Ich bin mir sicher." Sebastian blickte über seine Schulter noch einmal kurz zu der Hütte im Garten und dann wieder zum warm erleuchteten Innerem, in dem Hilda mit verwundertem Gesichtsausdruck auf sie wartete.

Willard klopfte ihm beim Hineingehen leicht auf den Rücken, Sebastian nickte ihm zu. Sie kehrten ins Haus zurück.

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Anfangs war es weiterhin schwer, freiheraus zu reden, sich preiszugeben, aber dann brachte Willard nach dem Essen eine Flasche Whiskey aus einem kleinen Schränkchen im Wohnzimmer und mit steigendem Alkoholpegel fiel es Sebastian auch leichter, in ihren Gesprächen aufzugehen. Er erfuhr mehr über Willards Zeit in Norwegen und erzählte seinerseits von den Ländern, die er während seiner Auslandseinsätze nicht nur im Kampf hatte kennenlernen können. Willard und Hilda erzählten, wie sie sich beim Tannenbaumschlagen kennengelernt hatten, als sie beide denselben Baum hatten haben wollen. Sebastian erzählte von einem Weihnachten im Irak, das er gemeinsam mit seinem Schwadron bei Sonnenschein und 20°C verbracht hatte und das in einem Trinkwettbewerb mit den Amerikanern ausgeartet war. Hilda schwärmte über ihre Töchter und Willard über Hilda und Sebastian hörte sich selbst plötzlich von Emmett erzählen, seinem Nachbar, mit dem er ein Etwas am Laufen hatte und dem er nicht einmal erzählt hatte, das er in London war und der ein Lächeln wie ein Jungbrunnen hatte.

„Was ist mit Jim?", fragte Hilda da mit großen Augen und sah durch die Tür zur Terrasse in Richtung Garten, doch die Hütte ließ sich vom Wohnzimmer aus nicht entdecken.

Sebastian winkte ab, während er sich einen weiteren Schluck Whiskey eingoss. Sein Griff war etwas zu locker und einige Tropfen gingen daneben. Er lachte und wischte sie mit dem Ärmel fort. Seine Schulter protestierte, aber der Schmerz war dumpf, sein Gehirn wie in Watte gepackt. Vermutlich sollte er langsam aufhören zu trinken (er kannte seine Grenzen und wusste Geheimnisse auch im betrunkenen Zustand zu bewahren, aber er wollte keine Risiken eingehen). Dennoch setzte er das Glas wieder an die Lippen und leerte es in einem Zug. „Tatsächlich ist er mein Vorgesetzter."

„Ihr seid nicht zusammen?"

Sebastian schnaubte. „Zusammen unterwegs? Ja. Zusammen wie in zusammen in einer Beziehung? Sicher nicht."

„Ich erinnere mich an Jim", warf Willard da plötzlich ein. Er hatte etwa genauso viel wie Sebastian getrunken, nuschelte aber schon hörbar und hielt seinen Kopf mit seinen Händen gestützt, als würde er zu schwer werden. Er schien Schwierigkeiten zu haben, Sebastian zu fokussieren, suchte aber eindeutig seinen Blick. „Ich meine, von damals, als ihr wirklich zusammen wart."

Sebastian schob sein leeres Glas vor sich hin und her und griff dann doch noch einmal nach der Flasche (die erste war schon längst geleert und die zweite wurde auch immer leichter). „Das ist schon ewig her."

„Ich hab ihm eine Rede gehalten." Willard hickste und gluckste dann leicht los. Seine Frau tätschelte ihm den Arm und zog dabei unauffällig sein Glas außer Reichweite. „Dass er dir nicht wehtun soll. Ein paar Monate später ging es dir dann so schlecht wie nie zuvor."

„Das war nicht Jims Schuld." Der Alkohol schmeckte schon lang nach nichts mehr, dafür füllte er ihn von innen mit Wärme. „Ich hatte Severin verloren und erfahren, dass du gehen würdest und Jim war ... zu viel geworden. Es war alles zu viel geworden. Ich musste mich erst wieder fangen."

„Du musstest schon so viel Leid ertragen." Hilda hatte sich mit dem Trinken etwas mehr zurückgehalten, ihr Blick wirkte aber dennoch etwas stumpf, selbst, als sie nun Tränen wegblinzelte. „Du armer Junge."

„Ein Junge bin ich nun wirklich lang nicht mehr", sagte Sebastian und lachte die Trübseligkeit im Raum fort. Das letzte, was er wollte, war über die Tragik seines Lebens zu reden.

„Wieso hast du deinen Vorgesetzten mitgenommen? Wie habt ihr euch nach all den Jahren überhaupt wiedergetroffen?" Willard griff nach seinem Glas, das nicht mehr dastand und seine geschlossene Faust fiel nutzlos auf den Tisch.

„Wir haben uns nicht wirklich getroffen", sagte Sebastian, war sich bewusst, dass das hier ein heikles Thema war, dass jedes falsche Wort, in Trunkenheit gesprochen, fatal sein konnte. Er testete die Worte vorsichtig aus: „Nach meinem Austritt aus der Armee hat er mich ... gefunden." Er überlegte, wie er erklären sollte, dass Moriarty nun hier war, wusste allerdings, dass ihm nichts anderes übrigblieb, als zu lügen. In seinem Zustand würde Willard dies vermutlich sowieso nicht mehr bemerken. Hoffte er zumindest. „Er muss hier einige geschäftliche Angelegenheiten klären", fing er an und schmückte diese Wahrheit weiter zur Lüge aus: „Wir sind in einem Gespräch irgendwann auf das Thema deines Geburtstages gekommen und er hat wohl gemerkt, dass ich Angst hatte, dir wieder gegenüberzutreten. Also hat er angeboten, mich zu begleiten. Und da wir sowieso hierhermussten, habe ich sein Angebot angenommen ... und jetzt sind wir hier."

„Ihr wärt ein gutaussehendes Paar", seufzte Hilda aus dem Zusammenhang gerissen und Sebastian lachte erneut, dieses Mal eher verlegen. Er wollte sich nicht vorstellen, was Moriarty bei diesen Worten tun würde, wäre er nun hier.

„Es ist nicht mehr wie früher. Wir haben uns beide zu sehr verändert und daher wäre so etwas wirklich undenkbar. Und das ist auch gut so." Sebastian versuchte nicht zu sehr darüber nachzudenken, dass Moriarty in seinen Augen noch immer attraktiv war, denn Attraktivität konnte nicht darüber hinwegtäuschen, zu was Moriarty geworden war. Er war wie eine Naturgewalt und Sebastian wusste, dass er ihn in Stücke reißen würde, würde Sebastian versuchen, näher zu kommen. Und Sebastian war nicht versucht. Wüsste er weniger über Moriarty und sein Geschäft, wäre Moriarty mehr wie früher, dann ... Dann vielleicht. Aber Moriarty war vielleicht ein gutaussehender Dämon, doch sicher kein Mann, an dem Sebastian sich die Finger verbrennen wollte - oder, was wohl eher zutreffen würde, das Leben verlieren.

„Er hat etwas Seltsames an sich", bemerkte Hilda nun. Am Kopfende des Tisches fielen Willard immer wieder die Augen zu. „Er ist charmant, aber ... auch seltsam. Ungewiss, wenn du verstehst, was ich meine."

Das Wort »ungewiss« beschrieb Moriarty mehr als nur treffend, obwohl viele andere Adjektive ebenfalls gepasst hätten: »gefährlich«, »falsch«, »berechnend«. Aber vor allem war er ungewiss, denn es ließ sich einfach nicht hervorsagen, was er als nächstes tun oder sagen, denken oder fühlen würde. Ein Blick in seine Augen war, als würde man in zwei Abgründe starren, ohne Boden, mit ungewissem Inhalt. Sebastian wusste noch immer nicht genau, auf was er sich eingelassen hatte, als er Moriartys Netzwerk beigetreten war. Möglicherweise würde er sich irgendwann wünschen, die andere Option des Todes gewählt zu haben, anstatt für ihn zu arbeiten. Es war ungewiss, was Moriarty noch mit ihm vorhatte.

„Ohja, das verstehe ich." Sebastian schob sein Glas entschieden von sich. Mit einem Blick auf Willard, der wirklich aussah, als würde er sogleich mit dem Gesicht voran auf den Tisch knallen und einfach weiterschlafen, erhob er sich, vorsichtig seine Balance austestend: „Ich sollte langsam gehen."

„Bleib doch noch", murmelte Willard kaum verständlich, aber Hilda nickte und lächelte ihn an.

„Wir sehen uns morgen?"

„Sicher. Immerhin wohne ich zurzeit in eurem Garten." Sebastian grinste schief, sah hinaus in die Nacht und fragte sich, wie er angetrunken sicher den Weg zur Hütte finden sollte. Immerhin hatte er nicht einmal mehr ein Handy, mit dessen Taschenlampe er die Wiese beleuchten könnte.

„Möchten du und Jim vielleicht mit uns frühstücken?"

Sebastian zögerte, wusste, dass Moriarty vermutlich dagegen wäre, wollte aber auch nicht sogleich verneinen. „Ich weiß es noch nicht. Ich kann es vorschlagen, aber wir haben noch einiges zu erledigen, deshalb ..." Er ließ die Erklärung offen im Raum stehen und zuckte mit den Schultern.

Hilda machte eine wegwerfende Handgeste. „Das verstehe ich. Ihr könnt es euch überlegen, aber es ist kein Zwang. Gute Nacht, Sebastian."

„Gute Nacht, Hilda." Er hob eine Hand zum Abschied und lief langsam zur Terrassentür, wobei er an Willard vorbeikam und diesem kurz die Schulter drückte. „Gute Nacht, Willard ..." Er atmete kurz durch. „Ich bin froh, dass ich hier bin."

Willard legte umständlich seine Hand auf Sebastians. „Ich auch, Sebastian. Ich auch."

Mit weiteren Worten des Abschieds trat Sebastian schließlich nach draußen, zog die Tür hinter sich zu und atmete tief die kalte Luft ein, die geradezu in seinen Lungen brannte. Eigentlich sollten die Temperaturen langsam steigen, immerhin war es Frühling, aber diese Botschaft schien in Irland noch nicht ganz angekommen zu sein.

Sebastian störte es nicht. Die Kälte half ihm, wieder etwas klarer im Kopf zu werden, während er von der Terrasse strauchelte und dann zur Hütte stapfte, hinter deren Fenstern noch immer Licht brannte. Er schaffte es, nur einige Male zu stolpern und gelangte schließlich vor die Tür, hoffte, dass Moriarty ihn um diese Uhrzeit (es musste einiges nach Mitternacht sein) noch einließ.

Als er anklopfte, spürte er die Schmerzen in seiner Schulter nur erneut, dieses Mal etwas heftiger und weniger dumpf.

Die Tür wurde aufgerissen und Sebastian stolperte zurück. Moriarty stand vor ihm, rümpfte die Nase und verschränkte die Arme vor der Brust. „Du hast getrunken."

„Darf ich das nicht?" Sebastian kämpfte sich aus seinem Jackett und blickte auf seine linke Schulter. Der Verband unter seinem dünnen Hemd schien noch zu sitzen, aber Sebastian erwartete beinahe, dass sein Hemd genauso blutdurchtränkt war wie das andere, in dem er angeschossen worden war.

„Wenn du morgen einen Kater hast und daher unbrauchbar für mich bist, kannst du etwas erleben", sagte Moriarty beinahe nachlässig, aber er musterte Sebastian dabei, als fände er bereits Möglichkeiten, ihn möglichst schmerzhaft für seinen Alkoholkonsum leiden zu lassen. Sebastian versuchte, es von sich abprallen zu lassen, die Drohung nicht auf sich wirken zu lassen.

„Ich bekomme keinen Kater, ich bin das gewohnt." Er sah an Moriarty vorbei ins warme Innere der Hütte und versuchte, seine Glieder vom Zittern abzuhalten.

„Ist Alkoholismus wirklich etwas, womit du prahlen solltest, Moran?"

„Ich bin kein Alkoholiker", fuhr Sebastian ihn an, ehe er sich zurückhalten konnte, aber Moriarty zuckte nicht mit der Wimper. Sebastian schluckte seine Wut hinunter und nickte ins Innere der Hütte. „Dürfte ich jetzt vielleicht netterweise eintreten?"

„Darfst du nicht." Moriarty deutete vage hinter sich. „Ich habe noch zu tun und deine Präsenz würde mich stören. Außerdem hasse ich den Geruch nach Alkohol." Er deutete vielsagend auf Sebastian, der nicht ganz glauben wollte, was er da gerade hörte - vielleicht erlaubte Moriarty sich einen Spaß mit ihm oder er hatte doch mehr getrunken als gedacht und verstand irgendetwas falsch.

„Wo soll ich dann bitte bleiben?"

Moriarty machte eine wegwerfende Handbewegung, als wäre das nicht sein Problem. „Bettel bei unseren Gastgebern oder schlaf' im Auto, das ist mir völlig gleich."

Sebastian lachte hohl auf. Er blickte zurück zu Willards und Hildas Haus, in dem in der kurzen Zeit bereits alle Lichter erloschen waren - ganz sicher würde er sie nicht auch noch darum anflehen, bei ihnen zu übernachten, weil Moriarty sich "von seiner Präsenz gestört" fühlte. „Komm schon, das ist nicht dein Ernst, oder?"

„Mein voller Ernst." Moriarty trat einen Schritt zurück und zwinkerte ihm zu. „Gute Nacht, Sebastian." Damit schlug er ihm die Tür wieder vor der Nase zu.

„Hey!" Sebastian pochte erneut an die Tür, in der Hoffnung, Moriarty doch noch erweichen zu können. Als Antwort wurde die kleine Blümchengardine vor dem Fenster neben der Tür zugezogen.

Sebastian stand vor der Hütte und starrte ungläubig auf die Tür, die sich nicht wieder öffnete und ihn hineinließ. Er wollte dagegen treten, aber damit würde er es vermutlich nur schlimmer machen und außerdem war er viel zu verblüfft und beschwipst, um wirklich wütend zu sein.

Vielleicht hätte er so etwas erwarten sollen. Immerhin war das hier Moriarty, bei dem so eine Aktion nicht wirklich verwunderte. Es war wohl Sebastians Müdigkeit zu verschulden, dass er Moriarty für einen Moment als normalen, vernünftigen Menschen mit so etwas wie einem Gewissen eingeordnet hatte - es machte keinen Sinn, mit ihm diskutieren zu wollen.

Er fuhr sich durch die Haare, starrte einen Moment ratlos in die Dunkelheit und stapfte dann durch den Garten davon zum Auto.

Hoffentlich war sein Gewehr nicht nur praktisch zum Schießen, sondern könnte ihn auch irgendwie in der Nacht warmhalten.

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