Kapitel 41

Das ganze Wochenende über ertappte ich mich dabei, wie ich ein schlechtes Gewissen wegen Jason bekam. Meist passierte es immer, wenn ich ihn sah, wie auf dem Gang oder im Speisesaal. Ich hatte ihm nicht erzählt, dass ich einer der Angreifer gesehen hatte, aber ich war dennoch erleichtert, als ich ihn am nächsten Morgen gesund und munter vor seinem Frühstück sitzend gesehen habe.

"Lass ihn Kate.", sagte Jessy, die meinen Blick zu ihm bemerkt hatte. Wir saßen im Gemeinschaftsraum für die Oberstufe, der ziemlich zentral gelegen ist, und Jason kam herien, um Monique abzuholen. Händchen haltend und über das ganze Gesicht strahlend verließen sie den Raum.

"Er ist ein Arschloch.", fügte Amanda hinzu und ich wandte mich wieder meinen Freundinnen zu. Ich hatte ihnen alles erzählt. Auch das mit Luke. Sie hießen es zwar nicht gut, verstanden mich aber.

"Ich sollte mich entschuldigen.", meinte ich.

"Nichts da!", brauste Jessy sofort auf. "Das geschieht dem Mistkerl ganz recht."

"Ja, keine Angst Kate. Der kriegt sich schon wieder ein.", beruhigte mich da Christal und ich lächelte sie alle berührt an.

"Lasst uns Schach spielen.", schlug ich heiser vor und alle nickten. Wir spielten in Teams. Ich und Amanda gegen Jessy und Christal. Und während wir so da saßen und lachten und spielten, musste ich mir die Wahrheit eingestehen.

Ich hatte Jason nicht angesprungen, weil ich Angst hatte, dass er mir Luke wegnahm. Zumindest war das nicht der einzige Grund. Ich hatte viel mehr Angst, dass Mr. Miller mich im hohen Bogen raus schmiss, wenn er von meinen nächtlichen Ausgängen erfuhr.

Und obwohl ich anfangs so fest entschlossen war, alles zu tun, um so schnell wie möglich wieder zurück in mein altes Leben zu gelangen, musste ich jetzt feststellen, dass ich das gar nicht mehr unbedingt wollte. Ich hatte hier Freunde gefunden und es machte mir Spaß. Das wollte ich nicht aufgeben.

"Guter Zug.", lobte Jessy plötzlich Amanda, als sie für mich spielte. Ich klinkte mich wieder ein und sah, dass wir schon gut dabei waren. Plötzlich setzte sich Alex zu uns.

"Ihr spielt Schach?!", fragte er ungläubig. Und zu unser aller Verwunderung antwortete Chrissy schlagfertig: "Ja, es ist ein sehr feministisches Spiel."

"Feministisches Spiel?", prustete Alex und starrte sie ungläubig an. Auch wir anderen waren ziemlich verwirrt.

"Setz dich hin und guck zu.", forderte sie und nach dem Alex ihr noch einmal prüfend ins Gesicht geschaut hatte und sah, dass sie es ernst meinte, ließ er sich neben sie nieder.

"Schau. Die Dame ist die einzig weibliche Figur unter allen anderen und-", setzte sie an, doch Alex unterbrach sie.

"Das beweist doch, dass es ein sehr männliches Spiel ist."

"Zur der Zeit als Schach erfunden wurde, konnte man sich als Frau auch nicht auffällig erheben. Deshalb tat man es im Verborgenen. Hier, schau. In 5 Zügen kann ich Am und Kate schlagen.", meinte Chrissy stolz.

"Was?!", rief Amanda entsetzt und starrte verbissen auf das Brett, um den Fehler zu suchen.

"Die Dame ist die einzige Figur, die die meiste Macht hat.", fuhr Christal mit ihrem Vortrag fort.

"Aber erst wenn der König fällt, ist das Spiel vorbei.", entgegnete Alex.

"Und macht ihn das stark? Die Dame beschützt ihn. Sie hat die Macht, auch wenn es letztendlich um den König geht.", konterte sie und wir alle begannen darüber nachzudenken.


Auch Sonntagabend lag ich wach in meinem Bett und grübelte über die Worte von Chrissy und Alex nach. Ich bin der König. Der Iniuria-Zirkel wollte mich und wenn sie mich haben, ist der König gefallen und das Spiel vorbei. Jason verkörperte die Dame und die anderen die restliche Armee. Sie schützten mich. Aber wollte ich wirklich immer ganz hinten stehen und zulassen, dass andere für mich starben? Nein, das wollte und das würde ich auch nicht!

Mit diesem Entschluss schlief ich schließlich ein.


Am nächsten Tag hatten wir Observierungsunterricht und Mr. Miller teilte uns mit, dass wir heute wieder eine Stadtübung machen würden. Ich war aufgeregt und ganz hibbelig. In unserem Zimmer zog ich mich um und kleidete mich extra unauffällig. Dann stieß ich zu den anderen und wir liefen nach unten in die Eingangshalle. Voller Vorfreude stürmten wir hinaus, als ich plötzlich gepackt und zurück gerissen wurde.

"Wa-?", setzte ich verwirrt an, doch als ich Mr. Miller sah, verstummte ich.

"Du nicht Kate.", sagte er und schob mich zurück.

"Was? Wieso nicht?", fragte ich verständnislos.

"Du musst im Schloss bleiben. Rund um die Uhr.", sagte er und beim letzten Teil hörte ich jemanden hinter mir ironisch auflachen. Ich musste mich nicht umdrehen, um zu sehen, dass es Jason war.

"Du schwebst in Gefahr und widersetzt dich jeglichen Anweisungen. Deshalb bleibst du hier.", ordnete er weiter an und ich schloss meinen Mund wieder, aus dem gerade ein ganzer Schwall Gegenworte kommen wollte.

"Ich verstehe.", murmelte ich. "Ich bin der König." Dann drehte ich mich um und ignorierte Mr. Miller's verständnislosen Blick angesichts meiner letzten Formulierung.

Vor mir sah ich Jason, der ein gewaltiges, schadenfrohes Grinsen im Gesicht hatte. Auch ihn ignorierte ich und stiefelte an ihm vorbei. Die nächsten 4-6 Stunden werde ich mich jetzt also allein vergnügen müssen.

Stöhnend warf ich mich auf ein der im Mädchentrakt rumstehenden Sofas. Alle anderen hatten Unterricht und ich war die einzige die jetzt hier im Schloss herumgeisterte.

Und das schlimmste war, alle wussten davon. Ich hasste es, wenn ich so im Mittelpunkt stand und alle Bescheid wussten. Ich war es gewohnt, hinten zu stehen und alles zu beobachten. Und wegen dieses dummen Überwachungsvideos wussten es jetzt erst recht alle.

Mühsam setzte ich mich wieder auf. Das Überwachungsvideo. Wo war es? Ich wollte es noch ein mal sehen. Also hievte ich mich von der weichen Couch und rannte durch das Schloss. Mein erstes Ziel war das Untergeschoss. Vielleicht stand dort noch der Beamer.

Doch im Untergeschoss war er nicht und irgendwie glaubte ich auch nicht, dass Mr. Miller so etwas Bedeutsames in einem Klassenraum stehen lassen würde. Also lief ich weiter zum Büro des Rektors. Davor stoppte ich. Ich konnte doch nicht einfach so reinplatzen. Obwohl ich wusste, dass er nicht da war, konnte es gut möglich sein, dass Sandra Miller gerade ihrer Arbeit nach ging.

Ehe ich es mir anderes überlegen konnte, klopfte ich und wartete. Und tatsächlich, Mrs. Miller öffnete mir die Tür.

"Oh, Kate. Was kann ich für dich tun?", fragte sie freundlich.

"Darf ich reinkommen? Ich würde gern mit Ihnen reden.", log ich und Mrs. Miller ließ mich daraufhin warm lächelnd in das Büro. Ich trat ein und sah mich um und entdeckte den Beamer. Eine CD lag oben drauf und ich musste mich zwingen, nicht vor Freunde in die Luft zu hüpfen.

"Worum geht es?", fragte mich Jasons Tante. Jason! Ich wirbelte herum und versuchte möglichst unschuldig zu gucken.

"Um Jason.", nuschelte ich.

"Oh, macht er wieder Ärger?", fragte sie und schüttelte den Kopf.

"Naja.", versuchte ich sie zu beschwichtigen, immerhin sollte sie danach nicht unbedingt mir ihm darüber reden. "Er scheint mir sehr verschlossen zu sein. Wir haben uns gestritten und es ging um meine Familie. Und als ich ihn im Gegenzug auf seine Ansprach wurde er furchtbar wütend und ging. Ich hab deswegen jetzt ein schlechtes Gewissen und weiß nicht so recht, wie ich mich entschuldigen soll." Immerhin war das ja ziemlich nah dran an der Wahrheit.

"Weißt du Kate, seine Eltern sind gestorben, als er noch sehr jung war. Das hinterlässt Spuren.", erklärte Mrs. Miller. Ich nickte nur und wandte mich ab. Ich blickte auf die CD und überlegte fieberhaft, wie ich nur an sie rankam. Da bemerkte ich plötzlich weiter oben ein Bild. Es waren zwei Erwachsene mit einem kleinen Jungen.

"Sind sie das?", fragte ich und lief auf das Bild zu. Ich merkte, wie Mrs. Miller sich auf einem Stuhl niederließ.

"Ja, das sind seine Eltern Maura und John Penhallow." Erfürchtig starrte ich das eingerahmte Foto an. Es war nicht groß, aber dennoch schien es mich plötzlich zu erdrücken.

Im nächsten Moment stolperte ich über den Beamer und stellte die Tasche schnell wieder hin. Dabei ließ ich die CD heimlich in meiner Pullovertasche verschwinden.

"Vielen Dank, Mrs. Miller.", sagte ich nun und wandte mich zum Gehen.

"Kein Problem. Wenn wieder etwas sein sollte, melde dich bei mir."

Ich zog die Tür zu und rannte sofort zu den Dienstbotenkammern, um zum einzigen nicht verwanzten und gesicherten Laptop im gesamten Schloss zu kommen. Chrissy sei Dank!

Erwartungsvoll schob ich die Disk in den Schlitz und sah mir das Video noch einmal an. Und noch einmal. Und noch einmal.

Erst beim sechsten Mal Schauen, fiel mir am Ende etwas auf. Der Angreifer brüllte "Schnappt sie!", deutete dabei aber nicht auf mich. Sein ausgestreckter Finger zeigte auf Jason. Nicht sehr deutlich, aber er wies auch nicht unverkennbar auf meine Wenigkeit.

"Schnappt sie.", murmelte ich und schlagartig wurde mir bewusst, dass dieses Pronomen nicht nur für weibliche Personen, sondern auch als Mehrzahl verwendet werden kann.

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