Der Spieler - 7

Viviennes Wohnung lag einige Gehminuten von der Bahnstation entfernt in einer Hochhaussiedlung, nicht in der besten Gegend der Stadt. Aber als Student hatte man oft keine große Wahl wo man wohnen wollte und als sich vor einem Jahr die Gelegenheit für Vivi ergab hatte sie nicht gezögert. Das Stadtzentrum lag zwanzig Minuten entfernt und unweit von der Wohnung im 4. Stock gab es einen kleinen Park, den man nach 18 Uhr jedoch nur mit Vorsicht betreten sollte. Aber immerhin gab es viele Familien in der Nähe und ein erstaunliches Sammelsurium an Kultur und Sprache.

Biene stieg schwer atmend die letzten Stufen zu Viviennes Wohnung. Draußen war es schon dunkel und das Treppenhaus war erfüllt von weißem, unangenehmen Licht, das Biene automatisch die Augen zusammen kneifen ließ. Vor Viviennes Tür war eine Fußmatte ausgelegt auf der Stand: Home is where the dog is. Ein subtiler Hinweis, dass Viviennes ein absoluter Hundeliebhaber war.

Die Haustür war nur angelehnt, drinnen brannte Licht. Wenn Vivienne ihr nicht schon unten die Tür freigegeben hätte, wäre Biene jetzt besorgt. Aber so ging sie einfach in die Wohnung, schloss die Tür hinter sich und begann Schuhe und Jacke auszuziehen. „Ich bin da!", rief Biene vorsichtig in die ein Zimmer Wohnung, als hätte sie es nötig sich anzukündigen. Vivienne hatte sie erwartet. Als Biene sich aus den Klamotten befreit hatte verließ sie den Flur und betrat den einen, viel zu kleinen Raum. Die Stimmung in der ganzen Wohnung war gedrückt und schwermütig. Biene merkte die drückende Stille sofort, die an anderen Tagen von spielender Musik, Wein und interessanten Gesprächen gefüllt war. Selbst die Lichterkette mit den fröhlichen Bildern ist über dem Spiegel war aus.

Biene fand ihre Freundin auf der Kante des Bettes sitzend wieder. Der Raum war dunkel, nur der Licht vom Flur drang herein und erleuchtete ein erschreckend deprimierendes Bild. Es war wie eine Höhle zu betreten, abgeschirmt von der Außenwelt, finster und irgendwie warm. Viviennes hielt ein Glas Sekt in der Hand, ihr Gesicht auf gequollen vom Weinen und die Haare hingen ihr in vielen unordentlichen Strähnen ins Gesicht. Sie war Eingepuppt in eine Decke wie ein unfertiger Schmetterling. Biene konnte auch sehen, dass das Glas mit dem prickelnden Inhalt noch randvoll war und ihre Hand zitterte.

Stumm sah Vivienne von ihrem Handy auf und griff nach einem Taschentuch von denen schon unzählige auf dem Bett verteilt waren. Im Halbdunklen sahen sie aus wie die Köpfe von weißen Rosen, fast wie Kunst, die durch Tränen und Unachtsamkeit erschaffen wurde. „Zum Glück bist du da.", sagte Vivienne mit nasaler Stimme, ehe sie die verstopfe Nase geräuschvoll hochzog. Biene atmete tief durch und kam zu ihr ans Bett. „Ich habe die Bestellung dabei. Frisch von der Ladentheke! Ich wusste nicht welchen ich kaufen sollte, deshalb habe ich gleich mehrere mitgebracht... Also... So nach dem Motto, doppelt hält besser?", erzählte Biene langsam und legte die Tüte auf den Schoß ihrer Freundin. Biene öffnete die und zog nacheinander die drei schlanken Schachteln heraus. „ClearBlue, ähm, so ein komischer Frühtest und... Be sure", las Biene laut die einschlägigen Schriftzüge vor. „Keine Ahnung, ob die was bringen." Es war nicht direkt humoristisch angedacht, aber Biene begann trotzdem hilflos zu lächeln, weil es das einzige war, was ihr gerade einfiel. Wie in Zeitlupe sah Vivienne auf die Packungen runter und wieder zu Biene. Sie blinzelte mehrere Male Tränen aus ihren verquollenen Augen, während Biene dachte, sie würde jeden Moment etwas sagen oder tun. Sie begann auch nicht wieder zu weinen, obwohl ihre Augen verdächtig danach aussahen und sie das blühende Elend ausstrahlte. „Mir ist so schlecht, Biene. Oh man, mir is' so speiübel! Ich bin so froh, dass du jetzt da bist. Ohne dich würde ich verrückt werden. Ich fühle mich wie ein Stück Scheiße, und sehe wahrscheinlich auch so aus und alles nur wegen diesem Arschloch...", schluchzte Vivi wütend. Biene schlussfolgerte stumm das sie nur ihren Ex meinen konnte. Beruhigend legte sie ihr eine Hand auf den Rücken und streichelte einmal auf und ab.

„Ach, man... Wie wäre es? Du machst jetzt schnell den Test, während ich uns beiden Tee koche. Dann bestellen wir uns was schönes zu essen und schauen uns kitschige Liebesschnulzen an.
Augen zu und durch, dann ist es immerhin vorbei und du hast Gewissheit. Wir finden schon gemeinsam irgendwie eine Lösung. Aber nicht mehr heute Abend.", schlug Biene nach einem leisen Seufzen vor, sprang auf und wollte zu der hinter einer spanischen Wand versteckten Küchenzeile gehen, als Vivienne sie am Arm packte. Ihr Griff war hart und tat weh, hielt Biene davon ab, auch nur einen weiteren Schritt zu machen. „Keine Liebesschnulzen... Lieber Spladder. Ich will Blut und Eingeweide sehen.", flüsterte sie heiser und schniefte nun schon etwas gefasster. Biene begann lächeln und nickte leicht. Da war sie wieder ihre Vivianne. „Dann eben Splatter.", stimmte Biene ein, obwohl sie diese Filme hasste, aber wenn es Vivi gerade half, wollte sie die letzte sein etwas dagegen zu sagen. Sanft tätschelte Biene die Hand die sie festhielt und wand sich geschickt aus Vivis Griff. Sie wollte ihr Sicherheit und Halt geben, wenn sie aber ehrlich mit sich war und Vivienne gleich wirklich einen Nervenzusammenbruch oder sowas erlitt, hatte sie nicht die geringste Ahnung was zutun war.

Tief seufzend stand Vivi auf und ging mit schlurfenden Schritten ins Bad, während Biene sich zu der kleinen Küche umdrehte. Die Regale über der Theke waren mit Bechern, Geschirr und einer einzige Pflanze vollgestellt, die verdächtig nach Hanf aussah. Routiniert füllte sie Wasser in den Wasserkocher und stellte das Gerät an. Zwischen aufgetürmten Gläsern mit Reis und der Pflanze befand sich ein minimalistischer Kassettenrekorder Marke 1980 und im Regal direkt darüber eine kleine Auswahl von unschuldig aussehenden Kassetten. Wie Selbstverständlich fischte Biene aus ihrer eigenen Jackentasche eine weitere Kassette, die sich perfekt in die Lücke in der Reihe auf dem Regal einfügte. Dann besah sie sich der anderen Titel. Und da hörte die Unschuld der Kassetten auch schon auf. „5 geile Abenteuer im Urlaub. Mit und ohne Mann.", „Anleitung zum spritzigen Höhepunkt", „John und die zwei Nachbarskatzen", „Herr Doktor", „Schneeflittchen und die sieben schwarzen Riesen" und viele mehr. Eine Kassette interessierte Biene jedoch besonders, sodass sie sie rauszog und den Inhalt durchlas. „Der Spieler - Das erotische Abenteuer eines Stargeigers mit seiner Lieblingsgeige, wie er ihre Seiten bis zum äußersten spannt und sie spielt wie sein Eigentum. Ein schmaler Grad zwischen Exstase und Zerreißen, den er mit seinen erfahrenen Fingern zu beherrschen weiß." Biene zog eine Augenbraue hoch und nickte, ehe sie die Kassette in ihre Jackentasche schob. Vivi hatte ihr das mal erlaubt, dass sie sich jeder Zeit an den Kassetten bedienen durfte. Immerhin war Vivi mittlerweile wie ihr zweites Zuhause und dieses Mädchen kannte schon mehr von ihr als jemals jemand anderes erfahren würde. Und Oh ja, ein bisschen Ablenkung durch dieses kleine private Vergnügen war mal wieder saunötig.

Und dann zeigte der brodelnde Kocher mit einem lauten Klicken, dass das Wasser nun heiß war. Biene schaltete das wohl selten genutzte Radio an, während sie zu den plötzlich anschlagenden Klängen von „Born in the U.S.A." von Bruce Springsteen zwei Tassen mit Zucker und Tee vorbereitete.

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