Narbenkind
Ich sah mich im Spiegel. Verletzt, hilflos, alleine. Ich fasste mir an die Lippen, welche von senkrechten Rillen überzogen sind. Mein Mund ist stark nach unten geformt, keine Fröhlichkeit ist zu erkennen.
Meine gelblichen Zähne fielen mir als Nächstes auf. Nicht, dass ich richtig gelbe Zähne hätte, aber sie waren gelb.
Ich senkte meine Hand wieder und sah mir in die Augen. Rehbraun. Schöne, braune Auge leuchten mir entgegen. Und das wird wahrscheinlich auch das einzig Schöne an mir bleiben. Unter meinen Augen hinterließ die nicht durchblutete Haut dunkle Ringe.
Ich schob meine Haare aus der Stirn. Sie zeigt leichte Narben. Ebenso wie meine Nase. Ich hob meine Unterarme. Auf der linken Seite zeichneten sich schmale waagrechte Striche ab. Narben einer schlechten Kindheit. Ich schüttelte meinen Kopf, um die schrecklichen Gedanken zu vertreiben. Auf meinem rechten Oberschenkel befand sich ebenfalls eine ovale Narbe. Weiter darunter befanden sich weitere Narben. Ein Fahrradunfall. Ein anderes Mal fiel ich die Steinstufen vor unserem Haus hinunter. An beiden Fusknöcheln waren unregelmäßige Pünktchen zu sehen. Eine Gelsenplage. Sie juckten unerträglich. Dadurch enstanden diese Narben.
Als ich meine schwarze Weste vom Boden aufhob, viel mir mein gekrümmter Rücken auf. Meine knochigen Schultern und Schulterblätter waren nach vorne gebogen. Schnell zog ich meine Weste über meinen schlanken Oberkörper.
Ich hatte keine Oberweite, fiel mir zum ersten Mal richtig auf. Die Folge einer langbekämpften Essstörung. Ich musste kurz lächeln. Sie ist tatsächlich weg.
Ich wischte mir meine Tränen weg und zog meine Turnschuhe an. Es donnerte und regnete, ein angenehmer Luftzug kam in meine Wohnung. Ich überprüfte ein letztes Mal, ob alle Briefe auf dem Tisch lagen. An meine Mum, meine Geschwister, Freunde und an James. Ich liebe ihn, und es macht mich verrückt, es ihm nicht sagen zu können. Doch jetzt ist es zu spät. Sein Flug ging vor wenigen Minuten ans andere Ende der Welt, um dort zu arbeiten.
Ich schloss das Fenster, trat vor die Wohnungstür und schloss auch diese sorgfältig ab. Ich fuhr die paar Stockwerke mit dem Lift hinunter und verließ mein Wohngebäude ein letztes Mal. Der Regen durchnässte meine Kleidung sofort, doch ich machte mir darüber keine Gedanken.
Ich betrat den menschenleeren Wald. Es waren nurnoch wenige 100 Meter bis zu meiner Lieblingsbrücke, an der ich meinem Leben ein Ende setzten wollte.
Plötzlich hörte ich hinter mir Schritte. Erschrocken drehte ich mich um und erblickte James. Er kam auf mich zugerannt, seine Kleidung ist ebenfalls durchnässt.
,,James! Was machst du hier? Dein Flug ging doch schon?!", fragte ich verwirrt.
,,Emma, ich muss dir etwas sagen. Ich wollte es dir schon lange sagen! Ich liebe dich! Und ich möchte mir dir mein Leben verbringen!"
Ich starrte ihn unfassbar an. Die ersten Tränen sammelten sich in meinem Augen. Ich trat ein Stück näher und sah ihm noch tiefer in die Augen.
,,Versprich mir, dass es für immer ist!", sagte ich.
,,Ich verspreche es!", hauchte er mir voller Erleichterung entgegen.
Unsere Lippen trafen sich. Und so standen wir da. Glücklich, zufrieden, geheilt.
A/N: Mit dieser Geschichte habe ich 2017 sogar einen Preis gewonnen. Fragt mich nicht wie oder wieso.
Erkennt ihr das Zitat aus einer Serie?
Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top