46. Nur ein dummer Zufall

„Ace... vielleicht solltest du die Äste vorher durchbrechen", schlug Keno mir zögerlich vor. Große Big Bags standen neben mir, in die eigentlich die Baumüberreste sollten, nur war das bei dem Größenunterschied von mir und dem Ast nicht ganz so einfach.

Genervt ließ ich den Ast sinken. „Mach's doch besser", entgegnete ich. „Oder sag Manuel, dass er die gefälligst kleiner schneiden soll!"

Ja, Manuel war ebenfalls am Arbeitseinsatz beteiligt. Wen wunderte es... Er wohnte schließlich auch im Dorf und arbeitete, wie wir auch, auf einem der Bauernhöfe. Abgesehen davon waren heute beinahe alle damit beschäftigt die Straßen wieder freizumachen und aufzuräumen. Dabei konnten wir den Kontakt mit ihm kaum vermeiden. Vor allem als Aarón die Aufgaben für uns einteilte. Manuel schnitt mit einer Kettensäge die Bäume klein und wir luden sie in die Big Bags. Cosmo hatte sich dabei mal wieder schlau aus der Situation gerettet und war mit den Zwillingen mit, um kleinere Reste einzusammeln.

„Kannst dich selber bei dem Snob beschweren", knurrte Keno, dem bei Manuels Namen schon Rauch aus den Ohren kam.

Meine Mundwinkel zuckten verdächtig nach oben. „Ob er mir die Sache vom Grillfest noch übelnimmt?"

„Mit Sicherheit", lachte Keno. „Zumindest hat er jetzt Respekt vor dir."

„Besser wärs."

Mit Manuel hatte ich seit dem kleinen Zwischenfall in dem Schuppen nicht mehr gesprochen. Und das hatte ich auch nicht vor. Es passt zwischen uns einfach nicht und das Beste für uns alle war wahrscheinlich Abstand.

„Ich hab Beschwerden über mich gehört?", wollte Manuel jedoch plötzlich wissen, der unbemerkt nähergetreten war. Der Dunkelhaarige stand jetzt wenige Meter neben uns und machte gerade scheinbar Pause. Seine Kettensäge lag achtlos an einem Baumstamm gelehnt und mit finsterem Blick musterte er uns, während er durstig an seiner Wasserflasche nippte.

Keno machte die Öffnung des Big Bags etwas größer und wandte sich augenblicklich ab. Er wollte offenbar nicht reden.

„Alles gut", meinte ich und sah ihn gleichgültig an. Wir kannten uns nicht lange. Genau einen Tag hatten wir miteinander zu tun gehabt und dennoch hatte es gereicht, dass ich ihn zu meinen Feinden zählte. Auf der anderen Seite war ich ein sehr loyaler Mensch und allein die Tatsache, dass er Stress mit Keno hatte, prägte mein Bild von ihm.

Ein überlegenes Grinsen schlich sich auf Manuels Gesicht. „Sei froh, dass ich dich nicht angezeigt hab, Ace. Das war schwere Körperverletzung."

Ich wollte gerade antworten, da unterbrach Kenos Lachen mich. „Ja klar! Er hat dich nur geschlagen. Weiter nichts!"

„Ich war bewusstlos!"

„Zurecht!"

Wütend machte Manuel einige Schritte auf Keno zu. „Ich würde an deiner Stelle die Klappe nicht so weit aufmachen. Der erste Schlag kam nämlich von dir", drohte er leise.

„Es war sicherlich auch nicht der Letzte!"

„Was würde wohl deine Mutter-"

„Es reicht jetzt!", übertönte Aaróns Stimme alle anderen und überrascht drehten wir uns zu ihm um. „Manuel, die Sache hatten wir geklärt. Und Keno, ich möchte auf meinem Hof keine Gewalt in irgendeiner Form haben, verstanden?"

Zerknirscht nickten beide. „Verstanden."

Aarón warf noch einen prüfenden Blick zu uns allen, ehe er sich seiner Aufgabe wieder widmete. Unmerklich atmeten wir alle auf und für einen Augenblick war es still. Manuel war bei Aarón nicht fest angestellt, hörte aber trotzdem auf ihn. Lag vermutlich am Altersunterschied.

„Ich nehme mal an, dass ihr wieder mit in die Gemeinde geht?", wollte Manuel jetzt an mich gewandt wissen.

Misstrauisch zog ich die Stirn kraus. „Wieso?"

„Nur so", grinste er und schlagartig wurde mir kalt. Konnte ja sein, dass ich mit der Zeit paranoid wurde, aber mittlerweile interpretierte ich in alles etwas hinein. Eine veränderte Tonlage wurde schnell als Drohung wahrgenommen und ein falscher Gesichtsausdruck bereitete mir bereits Unwohlsein. Nicht unbedingt Angst, aber eben Unwohlsein. In solchen Momenten wurde mir nur wieder schlagartig bewusst, wie kaputt ich eigentlich war.

Keno sah seinen Kontrahenten ebenfalls abwertend an. „Spuck es schon aus, irgendwas ist doch!"

„Es ist nichts", entgegnete Manuel mit Kreide in der Stimme. „Wollte nur sichergehen, dass ihr da seid, das ist alles."

„Und wieso?"

Er zuckte mit den Schultern. „Wollte euch nur jemanden vorstellen."

„Aha." Humorlos lachte Keno auf. „Wusste gar nicht, dass du Freunde hast."

Finster verzog Manuel das Gesicht und schnappte sich seine Kettensäge wieder. „Ich weiß, dass du eine verzerrte Wahrnehmung hast, Keno, aber ich hab auch Freunde." Für einen Moment wandte er sich ab, um weiter zu schneiden, drehte sich allerdings nochmal um. „Abgesehen davon ist er kein Freund, sondern ein Geschäftspartner von meinem Vater und wollte sich mal bei uns umsehen. Etwas frische Luft bekommen. Neue Leute oder Kunden kennenlernen."

„Wo kommt der denn her, dass er sich freiwillig hierher verirrt?", wollte Keno wissen und ich wurde zunehmend unruhiger.

Manuels Vater war Tour Guide im Ausland, er kannte alle möglichen Leute. Kein Grund zur Sorge. Nicht jeder Anreisende war ein potenzieller Mafiosi, der nach meinem Leben trachtete. So berühmt war ich schließlich nicht.

Manuel verzog nachdenklich das Gesicht. „Weiß nicht genau, mein Vater kennt ihn selbst erst seit kurzem", ihm entwich ein kleines Lachen. „Der soll angeblich extra aus Amerika angereist sein."

„So weit?"

„Ja. Frag nicht. Er bleibt nicht lang", erklärte Manuel und machte die Kettensäge wieder an. Keno schien sich auch nicht weiter darum zu kümmern.

Ich hingegen erlitt beinahe einen Herzinfarkt. Es war sicher nur ein dummer Zufall. Er konnte gar nicht wissen wo ich war! Woher denn bitte?! Tai hatte es ihm wohl kaum verraten. Er würde mich nicht so ins Messer rennen lassen!

„Ace, alles in Ordnung?", riss Keno mich aus meinen Gedanken.

Verschreckt riss ich den Blick zu ihm und nickte etwas zu eifrig. „Ja! Alles top. Ich muss nur... mal auf die Toilette!", rief ich und war auch schon auf und davon. Ich musste zu Cosmo! Zu jemanden, mit dem ich darüber sprechen konnte und der mir gut zureden würde. Jemanden, der mir meine Sorgen nehmen würde. Jemanden, der mir sagte, dass das alles nur Zufälle waren und ich mich umsonst verrückt machte!

Mit gehetztem Blick sah ich mich auf dem großen Gelände um. Eindeutig zu viele Leute und Geräte. Meinen Bruder sah ich aber nirgends.

„Cosmo?!"

Ich bekam jedoch keine Antwort. Nur die Kettensäge hörte ich hinter mir brummen. Mit meinen Händen griff ich mir gestresst in meine schwarzen Haare. Dabei bemerkte ich auch erst, wie kalt sie waren und wie sehr sie zitterten. Ich übertrieb sicherlich mal wieder. Nicht jeder war eine Gefahr für mich!

Naja, der Mafiosi wäre eine Gefahr für alle hier!

Ein eisenartiger Geschmack breitete sich auf meiner Zunge aus und überrascht fuhr ich mit meinem Handrücken über meine Lippe. Aufgebissen. Schön. Ich würde noch mehr Blut schmecken sollte meine Sorgen sich bewahrheiten.

„Ace?"

Mein Blick glitt nach oben. Cosmo stand direkt vor mir und sah mich besorgt an.

Erleichtert seufzte ich auf, eilte auf ihn zu, umarmte ihn erst und zerrte ihn dann hinter mir her in die Scheune. Hier hatten wir unsere erste Nacht in Spanien verbracht und der Geruch nach Heu hatte eine eigenartige beruhigende Wirkung auf mich.

„Was ist los mit dir?!", fragte er nervös. Mein Verhalten färbte sich auf ihn ab. Wie ein Spiegel. Meine Sorge war seine Sorge.

Ich atmete erst durch, ehe ich ihm von meinem Verdacht erzählte.

„Und deswegen bist du so aus dem Häuschen?", wollte er ungläubig wissen. „Ace, du bist definitiv nicht verrückt, aber hör bitte auf, in alles etwas hineinzudenken. Nicht jeder Mensch ist gefährlich! Und wie soll er uns gefunden haben?"

Etwas ruhiger zuckte ich mit den Schultern. „Vielleicht hat er das Telefonat mit Tai abgehört? Oder ihn erpresst?"

„Sicher", spottete er. „Tai hatte schon mit allen Arten von Menschen zu tun. Er kann reden wie ein Wasserfall und würde trotz Erpressung oder Ähnlichem uns nie verraten. Du kennst ihn." Cosmos Blick wurde etwas weicher und ungewohnt ernst sah er mich mit seinen grünen Augen, die er so lange versteckt hatte, an. „Ich versteh deine Sorge und es ist auch sicher dumm, nicht die Augen offen zu halten. Aber du übertreibst. Wir sind hier sicher."

Wir standen uns mittlerweile so nahe, dass ich seinen Atem bereits spüren konnte und als die Erleichterung meinen Körper durchflutete, ließ ich meinen Kopf auf seine Schulter sacken.

„Ich hoffe, du hast recht."

Sein Grinsen konnte ich beinahe vor meinen geschlossen Augen sehen als er mit, „Ich hab immer Recht", antwortete und meine Schultern leicht zur Beruhigung massierte.

Nur zu gern glaubte ich ihm. Die Angst hatte mich so fest im Griff, dass ich ihm alles glauben würde. In meinem Inneren hatte sich der Gedanke, dass der Mafiosi vielleicht doch noch auftauchen würde und meine heile, kleine Welt zerstören würde, so festgebissen, dass es mich erdrückte. Und eben in dieser Verzweiflung kamen mir Aaróns Worte wieder in den Sinn.

Jesus findest du nicht in der Gemeinde, Ace. Ihn findest du, wenn du ein Problem hast, was du selbst nicht lösen kannst und du seine Hilfe brauchst.

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