36. Glück gehabt!
„Was kannst du eigentlich?!", hörte ich meine Stiefmutter meinen Erzeuger anschreien. Doch dieser antwortete nicht und tat das, was er immer tat, sie ignorieren. „Ich rede mit dir!", machte sie wieder laut auf sich aufmerksam.
Eigentlich war es ganz gut, dass er nicht reagierte. Denn wenn er es tat, ging es nie gut aus.
Ich hingegen verdrehte nur die Augen und schlich weiter durchs Haus. Wie so oft wussten meine Eltern nicht einmal, dass ich da war. Mein Vater war sowieso selten zuhause und seine Freundin dröhnte sich mit allen möglichen Sachen zu. Aber obwohl sie nicht meine leibliche Mutter war und mich auch nicht wirklich super behandelte, so kam ich mit ihr immer noch besser aus als mit meinem Erzeuger.
Seit etwa einem Monat lebte ich nun schon auf der Straße. Mein Vater hatte mich aufgrund finanzieller Gründe rausgeschmissen und in Mexiko war es keine Seltenheit, dass Kinder in meinem Alter selbstständig leben mussten. Und mit meinen 16 Jahren war ich alt genug.
Nur der Lebensunterhalt war schwerer als gedacht. Klauen war meine einzige Option. Arbeit hatte ich nicht. Ausbildung oder Schulabschluss auch nicht.
Und wo war es einfacher etwas zu stehlen als im eigenen Elternhaus? Wahrscheinlich nirgends.
Einen Schlüssel für das Haus hatte ich zwar nicht mehr, aber mittlerweile kannte ich jedes Fenster und jedes Schlupfloch. So kam ich regelmäßig vorbei und nahm mit, was ich gebrauchen könnte. Ein schlechtes Gewissen hatte ich schon lange nicht mehr. Dessen Existenz würde mich nur ins Grab bringen.
Allerdings gingen auch so manche Besuche leer aus. Es hatte schließlich einen Grund, weswegen sie mich nicht länger mitfinanzieren konnten.
Auch heute schien es für mich nicht gut auszusehen. Die Schränke und Büchsen, die ich gründlich durchwühlte, waren alle leer. Das war auch der Grund weswegen ich kurz resigniert in den Flur sah und überlegte, wo noch etwas sein könnte. Vielleicht in einer der Jackentaschen?
Schulterzuckend ging ich zurück in den kleinen Eingangsbereich, wie immer möglichst leise, und steckte meine Hände in die Taschen. Wieder nichts.
Als ich Schritte aus dem Wohnzimmer hörte, ging ich eilig beiseite, versteckte mich hinter einer Wand und verließ anschließend das Haus. Dann würde es wohl heute nichts zu essen geben. War kein Weltuntergang. Dennoch hatte sich mein Magen mehr erhofft, der wieder knurrte.
Aber es gab ja noch andere Wege. Oder bessergesagt, andere Quellen, wo man etwas abstauben könnte.
Meine Beine führten mich Richtung Markt und somit verließ ich unser Viertel. In Colonia Roma war alles noch recht anständig. Zumindest wenn man es mit anderen Vierteln verglich. Es war natürlich nicht gerade eine Touristen Attraktion, aber es gab definitiv schlimmere Orte. Alles war wie gewohnt. Ich kannte die Straßen und Gassen auswendig. Schon lange vor meinem Rauswurf hatte ich oft die Gegend erkundet, um meinen Eltern aus dem Weg zu gehen. Freundschaften hatte ich allerdings nie geschlossen.
Ich war gern allein.
Das war auch einer der Gründe, weswegen mich das Leid anderer nicht im Geringsten interessierte. Für mich interessierte sich doch auch keiner.
„Was hast du denn da, hm?", hörte ich eine entfernt bekannte Stimme fragen und mit hochgezogenen Augenbrauen drehte ich mich zu der Person.
In einer Seitenstraße neben mir standen zwei ältere Jungs, die irgendetwas, was sich an die Wand drückte, musterten. Ein kleiner, braunhaariger Schlumpf, der zwar verängstigt aussah, sich aber tapfer präsentierte.
„Das gehört mir", machte der Kleine seine Ansprüche klar und amüsiert beobachtete ich die Szene.
Die Typen hatte ich schon paar Mal von weitem gesehen. Wir kannten uns nicht beim Namen oder so. Nur vom Sehen her. Nie hatten wir ein Wort miteinander gewechselt, aber im Stillen hatte ich sie Avocado und Zucchini getauft. Nicht nur wegen ihrer Körperform, auch ihr geistiges Level hatte mich inspiriert.
Doch so sehr ich den Kleinen auch wegen seinem Verhalten bewunderte, so ging mich das alles nichts an und ich ging weiter.
Ich hörte noch, wie Avocado etwas erwiderte, aber vorbeifahrende Autos übertönten das Gespräch. Das, was mich aber dann doch zum Anhalten brachte, war ein klatschendes Geräusch. Hatten die ernsthaft den Kleinen geschlagen?!
Knurrend drehte ich wieder um und sah in die Gasse. Tatsächlich. Ungekannte Wut kam in mir auf und ohne einen klaren Gedanken zu fassen, lief ich in die Gasse.
„Hey, habt ihr nichts Besseres zu tun?"
Zucchini erkannte mich als erstes und stieß belustigt seinen Kumpel in die Seite. „Schau mal, wer da ist."
„Misch dich hier nicht ein", drohte der Dickere der beiden als er mich sah und wandte sich wieder ab. „Und was dich angeht, gib endlich her!"
Das Häufchen Elend dachte nicht mal daran, seinen Rucksack oder was auch immer das war, herzugeben, denn er drückte ihn fest an sich ran und tat dann etwas, was selbst mich kurz überraschte. Denn der kleine Knirps rannte einfach weg!
Avocado und Zucchini sofort hinterher, nachdem sie die Situation realisiert hatten. Und ich ebenfalls.
Als ich die beiden eingeholt hatte, stieß ich Avocado in Zucchini hinein und nutzte den kleinen Vorsprung, um mir den wegrennenten Zwerg zu schnappen und anschließend die Flucht zu ergreifen. Zu meinem Glück zappelte der kleine Mann nicht, ließ alles über sich ergehen und überließ mir das Rennen.
Mit dem zusätzlichen Gewicht, welches ich wie ein Depp vor mir hertrug, war ich deutlich langsamer. So rannte ich immer wieder nach rechts und nach links. Die Orientierung hatte ich irgendwann verloren, aber meine Verfolger auch.
Keuchend ließ ich den Kleinen runter.
„Puh", stieß ich aus und stützte meine Hände auf meine Knie ab.
Der kleine sah an mir vorbei und murmelte, „Glück gehabt."
„Jap", stimmte ich zu und sah zu ihm hinunter. „Sei das nächste Mal einfach bisschen vorsichtiger. Die beiden sind zwar doof, aber für dich ja offensichtlich gefährlich."
„Mach ich." Plötzlich grinste er. „Ich bin Cosmo", stellte er sich vor und reichte mir seine kleine Hand.
Genervt verdrehte ich die Augen. „Wie auch immer, man sieht sich vielleicht mal wieder." Damit lief ich an ihm vorbei und wollte meinen Weg fortsetzen. Immerhin hatte ich noch Hunger. Aber kleine Schritte hinter mir ließen mich irritiert umdrehen. „Was wird das?"
„Was wird was?"
Bereits gestresst ließ ich die Schultern hängen. „Das hier! Zieh Leine!"
„Aber ich bin doch ganz allein!", protestierte er und wischte sich mit seiner linken Hand über sein Gesicht. Seine Wange war noch immer leicht rot, aber geweint hatte er nicht.
„Das ist aber nicht mein Problem. Ich bin auch allein. Und?"
Wieder grinste er so verschmitzt. „Dann können wir doch zusammen gehen. Dann ist keiner mehr allein", schlug er begeistert vor.
Sauer beschloss ich ihn einfach zu ignorieren. Das würde wohl das Beste sein!
Entschlossen lief ich los, ignorierte alles um mich herum und versuchte nur das nervige Anhängsel abzuhängen. Der Kleine würde irgendwann müde werden, redete ich mir ein und lief über die Straße. Mein knurrender Magen ließ mich nicht klar denken und ich wollte mir nicht noch mehr unnötige Probleme aufhalsen.
Wer wollte sich schon um ein Kleinkind kümmern?
Ein plötzlicher Schmerz in meinem Fuß ließ mich nach unten blicken. Einen Moment später klatschte mein Körper auf den steinernen Boden und mir wurde die Luft aus der Lunge gedrückt. Ächzend zog ich die Arme an den Körper und drehte mich auf die Seite.
„Alles gut?", fragte die Stimme, die mich aufstöhnen ließ.
Ich drehte mich auf den Rücken und stand auf. „Ja, alles top, sieht man doch."
„Sei das nächste Mal lieber ein bisschen vorsichtiger", machte er mich nach und sah wieder zu mir hoch.
Übertrieben zog ich die Mundwinkel hoch. „Mach ich."
„Dann können wir ja jetzt zusammen weitergehen", meinte er begeistert.
Frustriert griff ich mir in die Haare. „Es gibt kein Wir! Es gibt nur ein Du und ein Ich! Hau ab, irgendwo bist du doch auch hergekommen."
„Geht nicht", grummelte er traurig. „Bin abgehauen", gab er kleinlaut zu. Jetzt versuchte er es wohl über die Mitleidsschiene.
Dennoch wurde mein Blick etwas sanfter. „Kleiner, ich hab auch kein Zuhause mehr und wenn du abgehauen bist, dann geh dorthin zurück."
„Aber dann schlägt er mich wieder!", erklärte er. „Ich will nicht dorthin zurück. Bitte lass mich bei dir bleiben!"
Natürlich hatte ich keine Ahnung, ob der Kleine die Wahrheit sagte, aber seine Situation war ähnlich der meinigen und das sorgte dafür, dass ich ihm gegenüber eine gewisse Verbundenheit verspürte. Vielleicht gab ich auch genau deswegen nach.
„Na schön, aber nur für eine Nacht. Dann gehst du deinen eigenen Weg."
Sofort strahlte er übers ganze Gesicht und kam noch einen Schritt auf mich zu. „Ich bin Cosmo", wiederholte er sich selbst nochmal und streckte die kleine Hand erneut aus. „Und ich bin schon sechs." Dabei hielt er demonstrativ die andere Hand hoch und zeigte fünf Finger.
„Ace", stellte ich mich geschlagen vor und ergriff seine Hand.
Seine weißen Zähne blitzten mir entgegen und er fing an seinen Rucksack zu öffnen. Da hatte ja einer seinen Willen bekommen. Dennoch beobachtete ich ihn schmunzelnd.
„Hier", meinte er und reichte mir eine Tüte. „Das können wir uns teilen."
Verwundert wickelte ich das beschmierte Brot aus und sah erstaunt zu ihm runter. „Danke." Wenigstens hatte er mitgedacht und war nicht ohne alles abgehauen. Nur wäre er damit nicht wirklich weit gekommen. „Komm mit."
Mit einem kleinen Kichern griff er wieder nach meiner Hand, lief neben mir die Straße entlang und fing plötzlich an von irgendeinem Kinderbuch zu erzählen. Die nächste Zeit würde ja spaßig werden...
Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top