Tag 2

Irgendwann am Tag

Ist es normal, dass man keinen Hunger hat, wenn jemand umgekommen ist, dem man sehr nahe stand? Vermutlich, aber ist es nicht ungewöhnlich, dass ich genau weiß, dass der Tod nicht der Grund für meine Übelkeit ist? Ich mache mir viel mehr Sorgen um Lijah und Lui. Ich will zu ihnen; will mit ihnen sprechen. Ich muss sogar mit ihnen sprechen, denn ich weiß, dass sie die Falsche für Amalies Ermordung verantwortlich machen. Heute Morgen habe ich vor der Tür zu meiner Zelle (wenn man sie denn als das bezeichnen kann) ein Gespräch mitgehört. Es ging um die allgemeine Situation im Jägerlager. Alles soll im Chaos versunken sein und jeder scheint etwas anderes zu wollen, als der andere. Sie sprechen von Wahlen, aber man wird sich anscheinend nicht einig. Soweit konnte ich es mir ja eigentlich auch schon denken, als ich erfuhr, dass man Amalie getötet hatte, aber ich habe einen der Männer an seiner Stimme wiedererkannt. Sie ist so rauchig, dass sie mir schon nach dem ersten Tag, an dem ich sie gehört habe, nicht mehr aus dem Kopf gehen wollte. Damals hatte er sich hinter mich gestellt, als ich versucht habe, die Entscheidung unserer Anführerin nachzuvollziehen, dass sie einen Krieg beginnen will. Es war Ben. Ich bin mir ganz sicher. Sogar das Leben meines ungeborenen Kindes würde ich darauf verwetten, dass er der Spion ist, denn was hätte er sonst hier im Palast verloren? Auf mich wirkte er nicht, wie jemand, der wie ein Gefangener spricht und wenn die Jäger ihre Spitzel innerhalb von des Königs Reihen hätten, dann wüsste ich davon, weil Jo oder Amalie es mir erzählt hätten. Warum sollte dann also Lui die Mörderin von unserer Anführerin sein, wenn doch nur einer etwas vor ihr oder irgendjemand anderem zu befürchten hatte. Vermutlich ist sie ihm auf die Schliche gekommen und er hat sie deshalb ausgeschaltet, damit sie nichts mehr sagen kann. Er mag ein Feigling sein, aber ich traue ihm zu, kaltblütig zu sein, wenn es darum geht, sein eigenes Leben zu verteidigen. In einem direkten Kampf würde er sich niemals jemandem stellen, aber hinterhältig aus dem Schatten springen und jemandem die Kehle durchschneiden oder auf ihn einzustechen, das würde er tun. Ohne zu Zögern. Er gehört zu dieser Art von Menschen, die sich nur auf die Schwächeren stürzen. Die Last von Amalies womöglichem Wissen hat ihn so sehr belastet, dass er es als nötig empfunden hat, sie umzubringen und da kam ihm Lijahs Schwester wohl gerade recht, weil sie vermutlich kein Alibi besitzt. Ich vertrage den Gedanken nicht, dass man dafür Luisa verantwortlich macht und sie hinrichten wird, wenn niemand die Wahrheit erfährt. Wie soll sie beweisen, dass sie unschuldig ist, wenn niemand ihr wirklich zuhört? Für alle ist sie die Schuldige. Es muss eine Möglichkeit geben, mit irgendjemandem Kontakt aufzunehmen.

Später am Abend

Rose war wieder bei mir und diesmal mit guten Neuigkeiten. Sie ist sich sicher, dass sie es schaffen kann, Briefe von mir an jemanden weiterzugeben, der es den Jägern zukommen lässt. Ich weiß nicht, ob das funktionieren kann, aber es muss ein Anfang sein. Allerdings werde ich die Nachrichten in irgendeiner Art verschlüsseln müssen, da sie nicht zu hundert Prozent versprechen kann, dass ihre Quellen zuverlässig und vor allem vertrauenswürdig sind. Das heißt, dass ich mir einen Code ausdenken muss, auf den nicht jeder sofort kommt. Wenn ich jetzt so genau darüber nachdenke, dann klingt es doch nicht mehr, wie eine so gute Nachricht. Es gab kein Gespräch zwischen mir und Lijah, in dem wir festgelegt haben, wie wir uns schreiben, wenn wir nicht frei sprechen können. Warum hätte es auch eines geben sollen? Wir haben beide nie einen Anlass gesehen, uns darüber auszutauschen. Niemals hätten wir ahnen können, dass ich einmal hier sitzen würde und so dringend darauf angewiesen bin. Es ist so schrecklich frustrierend. Nun öffnet sich direkt vor mir eine Tür, durch die ich nur zu gehen brauche, wenn ich endlich wieder etwas von Lijah oder Hannah oder irgendjemandem anderen hören möchte, aber mir fehlt die Kraft sie zu durchqueren, weil ich es nicht schaffe, den ersten Schritt in die richtige Richtung zu setzen. Selbst wenn ich meinen Fuß heben könnte. Mit jedem Schritt, den ich mich nähere, wird sich die Tür um einen entfernen. Es ist für mich unmöglich sie zu erreichen. Je schneller ich laufe, desto weiter wird sie verschwinden. Was ist, wenn sie wieder zuschlägt und ich nichts mehr tun kann, um Luis Leben zu retten? Oder das von jedem anderen. Wenn Ben der Spion ist, dann ist es nur eine Frage der Zeit, bis der König zum entscheidenden Schlag ausholt und das Lager überfällt. Sie werden Frauen, Kinder und Kämpfer abschlachten, wie Vieh, dass sie gemästet haben und nun servieren wollen. Es wird ihnen kaum Mühe bereiten. Am liebsten würde ich auf dem Boden zusammenbrechen und einfach nur weinen, aber diese Genugtuung werde ich niemandem hier gönnen. Sie wollen mich verzweifeln sehen; wollen wissen, dass sie mich brechen können, aber das werde ich ihnen niemals zeigen. Egal, wie zerbrochen mein Inneres sein mag, ich werde sie einfach anlächeln, wenn sie mir ins Gesicht schauen und egal, wie einsam ich mich fühle, ich werde sie weiter provozieren und ärgern. Ich kann in dieser Zelle den Krieg und das Leid nicht beenden, aber ich kann den Großen ein bisschen an den Füßen kitzeln und versuchen sie aus dem Gleichgewicht zu bringen, um ihnen ihren Triumph etwas zu versalzen. Irgendwann wird Krestor einen Fehler machen. Niemandem gelingt es, fehlerfrei zu sein und dann werden die Jäger wieder bereit sein, um sich gegen ihn zu stellen und den Ausrutscher als Chance sehen, um ihn endlich von seinem Thron zu stoßen. Ich hoffe, sie töten ihn nicht sofort. Er soll die Möglichkeit erhalten zu leben, aber nur, wenn er niederkniet und sich für all das, was er den Menschen angetan hat, entschuldigt. Ich will die Demütigung in seinen Augen sehen, wenn er auf dem kalten Boden liegt und um sein Leben fleht. Das hat er verdient und das soll er auch bekommen. So und nicht anders.

Hope

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