Tag 17

Gegen Mittag,

Der Saal, in den man uns vor vier Tagen gebracht hatte, ist einem Raum mit Betten gewichen. Sie wollten uns nicht auf dem Boden schlafen lassen. Jetzt sitze ich allerdings in einem kleineren Raum. Hier gibt es nur einen Tisch mit zwei Stühlen und ein großes Fenster, das einmal von der Decke bis zum gefliesten Boden reicht und den ganzen Raum wie eine Kuppel umgibt. Man kann in alle Himmelsrichtungen sehen. Ich dachte von meiner Zelle aus hätte ich schon einen Blick über die ganze Stadt, aber jetzt stelle ich fest, dass ich nicht einmal die Hälfte gesehen habe. Von hier aus kann ich wirklich alles sehen. Man kann sich eine Person heraussuchen und sie den ganzen Tag beobachten. Es ist möglich genauestens zu sehen, wo sie wann hingeht, mit wem sie sich trifft und was sie macht. Vor mir liegt ein Fernglas, aber ich will nicht nach jemandem suchen, den ich kenne. Ich könnte ihnen verraten, wo sie sind und das will ich nicht. Ich soll hier darauf warten, dass der König kommt. Er will vor meiner Verhandlung morgen früh noch einmal mit mir sprechen. Ich frage mich, auf welchen König ich heute treffen werde. Den normalen, freundlichen oder den wütenden, skrupellosen. Vielleicht sollte ich Zorn empfinden, weil er mich hinrichten lassen will, aber das tue ich nicht. Ich habe auch keine Angst und in meinem Kopf ist auch keine unendliche Leere, wie sie es eigentlich sein sollte. Alles, was ich fühle, ist Neugier. Das mag komisch klingen, aber ich habe mich schon vor einer Weile damit abgefunden, dass ich eventuell irgendwann sterben könnte. Mein Kopf hat noch nicht realisiert, dass dieses irgendwann vermutlich morgen sein wird, aber selbst, wenn es soweit ist, wird sich an meiner Gefühlslage nichts ändern. Ich werde Lijah noch einmal sehen können, auch wenn er nicht glücklich sein wird mich zu sehen, denn es wird das letzte Mal sein. Trotzdem kann ich sein Gesicht noch einmal vor Augen haben. Ich weiß nicht, was morgen oder übermorgen passieren wird, aber ich lebe in der Sekunde, in der ich gerade atme. Wenn ich die Sekunden berechne, dann klingt die verbleibende Zeit, die mir bleibt noch unendlich lang. Es sind ein bisschen mehr als vierundzwanzig Stunden. 1440 Minuten. 86400 Sekunden. Für mich klingt das viel. Ich frage mich, wie viele Menschen morgen dabei zuschauen werden, wie man mich verurteilt. Eigentlich dürften es nicht so viele sein, denn die meisten kennen mich nicht. Ich bin keine Bekannte in dieser Stadt. Eine von vielen. Nichts weiter. Es wird sich niemand wirklich dafür interessieren, was aus mir oder Sweatheart wird. Einige wenige werden es wissen wollen. Luisa, Hannah, Jo, vielleicht der alte Mann von der Straße oder das Mädchen mit ihren Brüdern, es könnte auch die Familie interessieren, die in der Holzhütte leben und Elijah. Er wird wütend sein. Vermutlich wird er mich rächen wollen, aber ich vertraue den anderen, dass sie ihn vor Dummheiten bewahren. Irgendwann wird er darüber hinwegkommen und dann kann er vielleicht irgendwann eine Lösung für alle Menschen finden. Er muss verstehen, dass Krestor nicht der eigentliche Feind ist. Man hat damals nach dem Krieg alle Technologien abgeschafft, um eine Wiederholung zu verhindern. Jetzt brauchen wir sie eigentlich wieder, um die Menschheit am Aussterben zu hindern, aber wie soll man das jemandem erklären, der nur den Tod eines anderen im Kopf hat? Ich habe schon einmal gesagt, dass ich den König nicht für einen schlechten Menschen halte. Er hat niemals gelernt, wie es anders sein kann. Rose hat mir erzählt, dass sein Vater schon immer König sein wollte. Er hat seinem Sohn jeden Tag nur Hasstiraden eingeprägt, die er dem damaligen König an den Kopf werfen sollte. Den ganzen Tag lang wurde nur von Mord gesprochen und man war nur etwas wert, wenn man andere gequält hat. Irgendwann hat Krestor dann aus Versehen seinen Bruder getötet. Er hat ihn von dem Balkon seines Hauses gestoßen als sie zusammen gespielt haben. Für ihn ist jemand gestorben, den er verehrt hat und sein Vater hat ihn gelobt. Für ihn war sein Sohn endlich ein Mann geworden. Aus Wut über die Gleichgültigkeit hat der junge Krestor seinem Vater zu viele Schlaftabletten in sein Wasser gemischt und ihn damit vergiftet. All das hat ihn nie wieder losgelassen. Er hat sich immer wieder vorgeworfen, was er getan hat und alle, die sich um ihn kümmern sollten, riefen, dass sie mit einem Mörder nichts zu tun haben wollten. Sein Leben lang hat er vorgehalten bekommen, was für ein schrecklicher Mensch er ist. Als ihn dann jemand aufgenommen hat, der nichts von dem wusste, was er getan hatte, war es schon viel zu spät. Auch hier war er nur ein Waisenkind, das nichts wert war, selbst wenn niemand wusste, dass er schon Menschen getötet hatte. Er hat niemals erfahren wie es ist, wenn jemand ihn einfach so akzeptiert hat, wie er war. Deshalb hasse ich ihn nicht. Wenn er anders wäre als er ist, dann wäre er ein Mensch, der zu gutherzig ist, um zu überleben. Viele mögen das nicht verstehen, aber sogar Rose hat ihm langsam vergeben. Sie liebt ihn nicht, aber hassen tut sie ihn auch nicht. Wir denken beide das Gleiche über ihn und das wird sich nicht ändern egal, was das Gericht morgen entscheidet. Jetzt warte ich darauf, dass er sich hier zu mir setzt und mir offenbart, warum er mit mir sprechen will. Ich kann die Schritte schon auf dem Flur hören. Seine klackenden Schuhe kann man schon aus drei Kilometern Entfernung erkennen. Jedes Klacken bringt ihn näher zu mir und mit ihm die Frage, wer er heute ist. Als letztes Gespräch, das ich voraussichtlich führen werde, würde ich gerne eines wählen, bei dem ich mich ganz normal über banale Dinge unterhalten kann. Ich möchte weder über morgen reden, noch über die Vergangenheit. Vielleicht über das Wetter oder über den Ausblick. Über alles außer das, was passieren wird oder passiert ist. Ich möchte morgen lächelnd vor die Richter treten und ich möchte lächelnd das Gebäude wieder verlassen. Ich möchte mich über die Luft freuen, die ich noch einmal einatmen kann und ich will den strahlenden Himmel sehen, ohne ihn durch eine Glasscheibe beobachten zu müssen.

Hope

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