Aktuelles Blatt, 10. Juli 3091

Ein Bericht von Julius Hagen

Der Schuss hallt von den Wänden der Gebäude wider und für einen kurzen Moment herrscht Schweigen. Bedrückende Stille, die von Sekunde zu Sekunde gefährlicher zu werden scheint. Dann beginnt der Lärm. Menschen schreien aufeinander ein, sie fluchen und brüllen. Andere sind verwirrt. Sie scheinen gar nicht mehr zu wissen, wo sie sind und was sie hier eigentlich gemacht haben. In ihren Augen steht die Unsicherheit geschrieben. Rauch hat sich auf der Bühne gebildet. Man kann den Leichnam nicht erkennen. Die Menge drängt nach vorn. Soldaten halten sie zurück, aber zehn können sich nicht gegen hundert wehren. Alle warten darauf, dass der Vorhang aus Grau sich auflöst und den Blick auf das Szenario freigibt. Sie wollen Gewissheit. Die Rufe werden lauter. "Mörder", schreit jemand. Andere stimmen mit ein. Erst sind es nur zehn, doch das Wort zieht sich durch die Menge wie eine Welle, die über sie hinweg rollt. Irgendwann rufen es alle. Ein Chor aus wütenden, verstörten Menschen. Wörter haben Macht. Keiner hat den König bisher gesehen. Er wagt nicht einmal, auf der von ihm verursachten Hinrichtung zu erscheinen. Vermutlich fürchtet er um sein Leben. Einen Feigling nenne ich das. Wer das Urteil spricht, sollte es auch vollstrecken. Dazu hätte er nur niemals den Mumm.
Vor meinen Augen bricht ein Mann zusammen. Mittlerweile kennen ihn alle. Elijah Dorn. Der einzige "Verräter", der es geschafft hat zu überleben. Niemand weiß tatsächlich, wie er es gemacht hat, doch es interessiert auch niemanden. Er lebt und das genügt. Jetzt kauert er auf dem Boden und schlägt mit seinen bereits blutigen Fäusten auf die Steine. Seine Zähne graben sich in seine Lippe, dunkelrotes Blut tropft auf den Boden. Ein kleines Mädchen steht neben ihm und drückt seine Schulter. In ihren Augen funkelt die Trauer und doch kann sie klar denken. Beruhigend redet sie auf Elijah ein, als wäre er das Kind und sie die Mutter. Erstaunlich wie ein Kind so erwachsen wirken kann. Ihre Stimme ist sanft und verständnisvoll. Die Wut, die sie vielleicht verspüren mag, zeigt sie nicht, auch durch keine kleine Geste oder ein Wort.
Eine Frau läuft auf die Beiden zu. Sie nimmt den Mann in den Arm und weint in seine Schulter. Es interessiert sie nicht, dass man sie beobachtet. Für sie gibt es nur sich selbst und ihren Bruder. Luisa heißt die Frau, wenn ich mich recht erinnere. Sie ist blass und ihre Lippen sind trocken, als hätte sie seit Tagen nichts mehr gegessen oder getrunken. An ihren Fingern klebt etwas Blut. Vielleicht hat sie sich verletzt. Ihre Tränen durchweichen das Shirt ihres Bruders. Ab und an wird sie von einem Schluchzer geschüttelt. Das kleine Mädchen steht immer noch daneben, aber sie schweigt jetzt und starrt ins Leere. Man kann förmlich sehen, wie ihr Gehirn versucht, die vergangenen Tage zu verarbeiten. In ihrem Kopf puzzelt sie zusammen, was sie an Teilen bekommen hat. Vielleicht entsteht sogar ein Bild, das sie versteht. Mir ist nicht klar, in welcher Beziehung sie zu der Getöteten hatte, aber wenn ich raten müsste, würde ich auf sehr gute Freundschaft, wenn nicht sogar Mutterersatz tippen. Trotzdem weint sie nicht oder bricht zusammen. Sie steht einfach nur regungslos da.
Jetzt sehe ich auch andere Menschen auf dem Boden kauern. Manche liegen auf den Steinen, zusammengerollt wie Embryonen im Mutterleib, und lassen ihren Tränen freien Lauf. Andere sitzen und reagieren auf nichts, was in Ihrer Umgebung passiert. Es ist ihnen egal, dass manche wütend schreien oder auf die nächst besten Personen losgehen und sie attackieren. Manche lachen sogar über Witze, die andere gerissen haben, weil in ihrem Kopf Chaos die Oberhand hat. Die Wenigsten bleiben ruhig und sortieren ihre Gedanken. Viele verurteilen den König noch immer lautstark als Mörder. Natürlich kann man sich streiten. Er hat nicht abgedrückt, aber die Tatsache, dass er die Hinrichtung befohlen hat, steht außer Frage.
Von einem Moment auf den anderen senkt sich erneut Schweigen über die Menge. Jetzt ist es allerdings nicht wütend oder angespannt. Es drückt Verwirrung und Ungläubigkeit aus. Von vorne hört man nur ein ersticktes Raunen. Die Versuche sich vor zu arbeiten misslingen, da jeder sehen will, was die Aufmerksamkeit auf sich zieht. Die kleine Gruppe vor mir hebt die Köpfe. Sie tauschen unsichere Blicke. Dann läuft das Mädchen los. Sie ist klein genug, um nicht von den anderen Körpern aufgehalten zu werden. Elijah und Luisa stellen sich neben einen ihrer Freunde. Einen großen Mann mit einem weißen Bart und warmen Augen. Gerade als das kleine Mädchen zurückkommt und aufgeregt berichtet, was sie gesehen hat, eröffnet sich auch für uns der Blick auf das Podest aus dunkeln Holz. Blut tropft von der Kante und auf den Planken liegt eine Leiche. Soldaten starren schockiert nach hinten. Niemand beachtet die Menschen mehr, die sich noch vor wenigen Sekunden in Richtung Bühne gekämpft hatten. Für einen Moment sind alle gleich. Verwirrt und irgendwie auch geschockt. Man rechnete mit einer Leiche, doch nicht mit dieser. Der Soldat, der das Urteil vollstrecken sollte, liegt auf dem Rücken. Seine Stirn weist eine kleine Wunde auf, die nicht mehr angefangen hat zu bluten, da der Mann sofort tot gewesen sein muss. Sein Gewehr liegt noch immer geladen neben ihm. Es ist aus seiner Hand gefallen, als er nach hinten gestürzt ist. In seinen offenen, starrenden Augen ist keinerlei Angst oder Überraschung zu erkennen. Er hat nicht damit gerechnet, dass er derjenige sein würde, der stirbt und nicht die junge Frau vor ihm. Sie ist verschwunden. Es gibt keine zweite Leiche, keine Schleifspuren und kein Kleidungsstück, das auf ihre Existenz hingedeutet hätte. Man könnte meinen, sie hätte niemals auf dieser Bühne gestanden. Das Schweigen hält an. Sekunden verstreichen, Menschen sortieren ihre Gedanken neu, Soldaten verarbeiten ihre Fassungslosigkeit. Dann jubelt jemand. Er schreit seine Emotionen einfach frei heraus. Überraschung, Freude, Ungläubigkeit, Hoffnung. Andere fallen mit ein und bald rufen alle. Sie lachen, jubeln. Das kleine Mädchen strahlt und in ihren Augen leuchtet Anerkennung und Erleichterung. Der Rest der Gruppe scheint noch nicht vollständig begriffen zu haben, was geschehen ist. Trotzdem ist allen klar, dass das Verschwinden von Hope ihren Tod ausschließt. Wir haben keine Beweise oder ähnliches und dennoch ist es ein Gefühl, das sich unmöglich irren kann. Irgendwie hat diese Frau überlebt. Niemand konnte mir jemals erklären, warum man sie immer nur Hope gerufen hat, aber nach dem heutigen Tag, könnte es jeder verstehen. Es ist, als hätte man in die Zukunft gesehen und ihr dann diesen Namen gegeben. Wie ungewiss ihr Aufenthaltsort und ihr Befinden ist, spielt keine Rolle. Ihr Leben zählt. Hoffnung ist mächtig.

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