15. Juni 3091

16.33 Uhr
Heute haben die Vorbereitungen begonnen. Als erstes mussten wir allerdings die anderen Jäger überzeugen, dass unser Plan die einzige Möglichkeit ist, ohne ein Massensterben zu verursachen, das zu keinem Erfolg führen würde. Die Proteste hallten so laut durch die Halle, dass ich schon fürchtete, man könnte uns auch draußen hören und würde uns finden, bevor wir bereit waren uns zu verteidigen oder zu fliehen, aber niemand anderes schien beunruhigt. Amalie wirkte auf mich ebenfalls noch nicht überzeugt, obwohl sie mir gestern zugestimmt hatte. Ich halte sie für eine tickende Zeitbombe, die alles zerstören kann, wenn sie explodiert. Alles wofür andere kämpfen wollen. Den Hass und die Wut, die in ihr kocht, kann jeder in ihren Augen brennen sehen. Es ist klar, dass sie keinen Moment verpassen wird, an dem sie sich für ihren Sohn rächen kann und sie wird nicht an andere denken. Ich wage jedoch nicht, sie noch einmal in Frage zu stellen, solange noch nichts passiert ist. Sie hatte die richtigen Worte gefunden, um den anderen zu verdeutlichen, dass uns nur eine Chance blieb. Ihre Auge straften sie Lügen, doch nur ich befand mich nahe genug, um es sehen zu können. Die Jäger teilten sich in viele kleine Gruppen. Manche nähten Taschen, in denen alles verstaut werden soll, was wir und auch der Trupp, der nach draußen aufbricht, brauchen werden. Andere sammeln Proviant und verstauen ihn in fertiggestellten Beuteln und wieder andere bauen Waffen. Amalie hat angeordnet, dass jeder eine Waffe bei sich tragen soll, um sich im Ernstfall verteidigen zu können. Selbst die Kinder sollen einen kleinen Dolch erhalten, mit dem sie Angreifer erstechen können, wenn sie bedroht werden. Eine Gruppe hat sich auch draußen auf die Suche nach Schusswaffen gemacht, die sie jemandem abnehmen können. "Wir können niemanden mit Pfeil und Bogen bekämpfen", hatte Jo gesagt. Leider hat er Recht. Die Soldaten des Königs haben alle Pistolen und andere Feuerwaffen, außerdem sind sie mit deren Umgang vertraut. Bei den Jägern gibt es vielleicht zehn oder zwanzig Menschen, die eine professionelle Ausbildung haben und ich bin eine davon. Wir werden die anderen trainieren, auch wenn es nicht möglich ist, jemandem innerhalb weniger Tage oder Wochen alle Techniken des Schießens beizubringen. Trotzdem werden wir ihnen die Grundregeln erklären müssen, damit sie wenigstens eine Chance haben, wenn sie einem bewaffneten Wachmann gegenüber stehen. Es ist komisch, Kindern zu zeigen, wie sie die Waffe halten und wie sie zielen sollen. Ihre Hände sind viel zu klein, um den Griff wirklich gut umfassen zu können. Die Vorstellung, dass sie ihre Kenntnisse jemals brauchen werden, um ihr Leben oder das derjeniger, die sie lieben, zu verteidigen, bereitet mir schon jetzt schreckliche Krämpfe im Bauch. Kinder sollten sich niemals in einem Kampf das Recht erringen müssen, zu überleben. Niemand dürfte es wagen, sie in einen Krieg hineinzuziehen, mit dem sie selbst nichts zu tun haben.  Es ist grausam, sie in ihren Tod zu schicken. Das ganze Leben; die ganze Welt ist grausam und unfair. 

21.56 Uhr

In wenigen Minuten wird Amalie uns zu sich rufen, um uns die Namen zu offenbaren. Sie hat darauf bestanden, allein zu bestimmen, wer nach draußen geschickt wird und wer hier bleibt. Niemand hat es gewagt, ihr zu widersprechen. Irgendwie habe ich ein ungutes Gefühl bei der Sache. Mein Bauch scheint mir sagen zu wollen, dass es ein Fehler war, aber ich kann mir nicht vorstellen warum. Trotzdem bin ich ziemlich aufgeregt und gespannt, wessen Namen ich gleich hören werde. Mein Vater hat einmal zu mir gesagt, dass sich unser Bauchgefühl niemals täuscht, wenn wir es richtig zu deuten wissen. Damals hatte ich ein ganz schlechtes Gefühl als wir zu  Bekannten fahren wollten. Ich fürchtete irgendwie, dass irgendetwas passieren würde. Etwas schlimmes. Meine Eltern hatten sich kurz angesehen und riefen dann unsere Verwandten an, um ihnen zu sagen, dass wir erst einen Tag später kommen konnten. An diesem Abend hörten wir in den Nachrichten, dass auf der Strecke ein Laster, der mit Baumstämmen beladen gewesen war, seine Fracht verloren hatte und dass es pures Glück war, dass sich niemand zu diesem Zeitpunkt hinter dem Laster befunden hatte. Mit einem wissenden Blick lauschte mein Vater und nickte dann in meine Richtung: "Wir hätten hinter dem LKW fahren können, wenn du uns nicht bescheid gesagt hättest." Seit dem vertraue ich auf mein Bauchgefühl, so lächerlich es auch klingen mag, aber es gibt mir ein Gefühl der Sicherheit, wenn ich schon ahne, dass etwas schlimmes passiert. Heute ist der erste Tag, an dem ich daran zweifle. Es gibt nichts, was Amalie sagen könnte, was in irgendeiner Weise schrecklich sein würde. Jedenfalls hoffe ich das. 

22.28 Uhr

Lijah soll gehen. Das ist Amalies Rache. Ich habe mich ihr widersetzt und sie vor all ihren engsten Vertrauten bloßgestellt und das ist meine Strafe. Sie schickt Lijah nach draußen, auf eine Mission mit ungewissem Ausgang. Niemand weiß, ob sie wiederkommen werden. Ich habe diese Frau viel zu sehr unterschätzt. Es war dumm, anzunehmen, dass sie sich einfach damit abfinden würde, dass ich anderer Meinung gewesen war als sie. Sie ist nachtragend und sie hat die Macht, mir zu nehmen, was ich liebe. Lijah war natürlich überglücklich gewesen. Er hielt es für eine Ehre, dass er auserwählt worden war, um die Menschen in der Stadt zu retten, aber ich weiß es besser. Unter anderen Umständen hätte Amalie ihn bei mir gelassen. Er ist der Vater meines Kindes. Es sollte nicht ohne ihn aufwachsen. Jetzt werde ich jeden Abend nicht schlafen können, weil ich mich frage, ob er noch lebt oder nicht, und wenn ich dann doch schlafe, dann wird meine Nacht von so vielen Alpträumen gefüttert sein, in denen ich sehe, wie er auf alle nur erdenklichen Weisen um sein Leben kommt. Schon jetzt bereitet mir der Gedanke Gänsehaut. Ich will mir nicht vorstellen, wie er einsam in der Wüste liegt; verdurstet auf dem Weg zur Rettung der Stadt vor dem König. Den Blick, den er der Welt schenkt, wenn er weiß, dass er gescheitert ist, möchte ich niemals sehen müssen, auch nicht in meinen Träumen oder in meiner Fantasie. 

Hope

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