4 - Rettung

Entschlossenheit im Unglück ist immer der halbe Weg zur Rettung.'

...

Ich springe runter auf das Gleis und falle erstmal der Länge nach hin. Das war höher, als ich dachte. Danach hebe ich Noah herunter.

Ich kann das nicht alles tragen. Ich lasse die Tasche mit den Getränken schweren Herzens liegen, schnalle mir den anderen Rucksack schnell vorne hin und nehme Noah wieder auf meinen Rücken.

Ich sprinte so schnell mich meine Beine tragen können, doch mit Entsetzen muss ich feststellen, dass etwas quietscht. Scheiße, der Zug fängt an loszufahren.

„Noah halte dich gut fest", schreie ich und renne noch schneller. Mittlerweile keuche ich schon, aber das ist mir egal. Ich muss es dahin schaffen. Der Güterwagen fährt zum Glück in meine Richtung, aber ich muss trotzdem auf die andere Seite kommen, denn ich sehe schon Leute auf den Bahnsteig rennen, die auf die gleiche Idee gekommen sind und es durch die Menschenmassen geschafft haben.

Ich schaffe es tatsächlich, um das Ende des Zuges zu rennen, als er langsam an mir vorbeifährt und sehe den jungen vom Laden, der sich gerade durch eine Tür des Güterwagons in den Zug stürzt. Wie auch immer er die aufbekommen hat.

Scheiße, soweit schaffe ich es nicht mehr.

Ich renne so schnell ich kann, jedoch wird der Zug auch immer schneller und auf einmal reißt mich etwas zu Boden. Als ich mich wieder halb aufrappele, sehe ich, dass mich ein älterer Mann, der jetzt vor mir rennt, zu Boden geschubst haben muss.

Ich stehe so schnell es geht auf, lasse den anderen Rucksack auch noch liegen, versichere mich, dass es Noah gut geht und sehe, wie der Mann vor mir auf eine kleine Abstufung des Zuges springt. Er ist etwa zehn Meter vor mir und hält sich an den Stangen der Zugwand fest.

Darauf wäre ich nie selbst gekommen und zufällig befindet sich neben mir auch eine kleine Stufe, also tue ich es ihm gleich.

Ich muss mich mit aller Kraft festhalten und zusätzlich Noah auf dem Rücken zu haben ist wirklich schwer.

Der Zug wird immer schneller, also muss ich es irgendwie rein schaffen, sonst packe ich das nicht mehr, mich zu halten.

Ich hacke einen Arm an einer Stange ein und schreie: „Noah alles gut? Halte dich so gut es geht fest!"

Er schluchzt in meine Halsbeuge und klammert sich noch enger an mich. Gut, er hat es verstanden.

Etwa einen Meter vor mir befindet sich eine Tür, welche ich versuche mit meiner rechten Hand aufzuschieben, aber es tut sich gar nichts.

Ich rüttele, haue und trete so oft dagegen, bis ich total erschöpft bin.

"Hope, ich kann mich nicht mehr halten!", schreit Noah. Scheiße, ich greife schnell an eine Hand von ihm und versuche uns beide zu stützen.

"Ich ziehe deine Hand jetzt nach vorne und du versucht um mich rum zu klettern okay?"

Ich spüre ihn nicken, ziehe seinen Arm nach vorne und greife um seine Hüfte. Langsam bringe ich ihn zwischen mich und die Wand des Zuges.

So kann ich ihn dazwischen einklemmen, denn der Zug gewinnt langsam aber sicher, immer mehr an Geschwindigkeit.

Der Mann vor mir schaut mich an und ich bin einfach nur sauer. Wie konnte er mich und Noah einfach so zu Boden reißen? Er hätte es doch trotzdem noch geschafft, aber wir fast nicht mehr.

Auf einmal öffnet sich die Tür, die sich neben dem Mann befindet und ein etwas jüngerer Mann mit dunkelbraunen Haaren schaut heraus.

„Gott sei dank, helfen sie mir", schreit der Mann vor mir und will demjenigen im Zug die Hand geben, damit er ihn reinziehen kann.

Doch alles was er macht, ist Schwung holen und mit voller Kraft verpasst er dem älteren Mann einen Tritt in den Bauch.

Vor schock schreie ich auf, denn er kann sich nicht mehr halten und als der Zug noch schneller wird, schleudert es ihn weg in den Abhang.

Ich traue meinen Augen kaum.

„Was zur Hölle!", schreie ich. Es laufen mir Tränen die Wange runter. Er hat dem Mann nicht einmal geholfen, er hat ihn eiskalt ermordet.

Ich höre immer mehr Schreie, die von der anderen Seite kommen müssen. Wahrscheinlich passiert ihnen das Gleiche. Mir wird schlecht und ich habe das Gefühl, mich übergeben zu müssen.

Der Zug ist mittlerweile so schnell, dass ich mich fast nicht mehr halten kann und der junge Mann aus dem Zug verschwindet wieder.

Wenn ich jetzt versuchen würde die Tür vor mir irgendwie aufzubekommen, würde es mich genauso wegschleudern wie den Mann gerade, da ich dafür eine Hand loslassen müsste und der Zug jetzt viel zu schnell ist.

Außerdem weiß ich nicht, wo ich gerade lieber sein will. Wer weiß, was uns da drinnen erwartet, aber es ist auf jeden Fall besser, als direkt zu sterben.

Wir werden sterben.

Auf einmal öffnet sich die Tür vor mir und ich fange wieder an zu schreien.

„Bitte, bitte tu mir nichts", schluchze ich. Es ist der Gleiche, wie vorhin und jetzt habe ich die Hoffnung aufgegeben.

Er schaut mich lange an und seine grünen Augen scheinen mich zu durchbohren. Ich kann seinem Blick nichts entnehmen, denn er sieht so kalt aus.

„Bitte, nimm meinen Bruder", weine ich. Ich versuche mich leicht zu drehen, um ihm Noah zu zeigen, der zwischen meinen Beinen eingeklemmt ist und schluchze wieder auf. „Bitte, komm schon!", schreie ich ihn an. „Was ist verdammt nochmal falsch mit dir!"

Ich kann mich gleich nicht mehr halten und hänge nur noch mit den Fingerspitzen an der Stange, als er auf einmal nach Noahs Arm greift und ihn zu sich hochzieht.

Gott sei dank, ich hätte ihn fast nicht mehr halten können.

Ich schaue den Mann nochmal an und meine Muskeln verspannen sich. Meine rechte Hand zieht es von der Stange weg und ich versuche so viel Kraft, wie es geht aufzubringen, um mich irgendwie nach vorne zu ziehen.

Es funktioniert nicht. Der Fahrtwind ist zu stark und zieht mich immer weiter weg.

"Nein!", schreit Noah und fängt bitter an zu weinen, während er sich an den Mann klammert. Ich schenke meinem Bruder ein kleines Lächeln und bin froh, dass er sicher ist.

Ich bin kurz davor aufzugeben, aber das kann es doch nicht gewesen sein.

Ich strecke meine Hand nach dem jungen Mann aus und flüstere einfach nur noch ein leises: „Bitte, hilf mir".

Als er sich nicht rührt und mich einfach nur anschaut, ist es klar für mich. Er überlässt mich dem Tod. Es ist eine starke Leistung von ihm, mir dabei auch noch direkt in die Augen zu schauen. Sein Gesichtsausdruck ist starr und seine Stirn leicht in Falten gelegt.

Ich schaue meinen weinenden Bruder an und gerade, als es mir die Füße wegzieht, packt mich etwas am Handgelenk und zieht mich in den Zug. Ich lande mit einer solchen Kraft auf dem Boden, dass ich für eine Sekunde überzeugt davon bin, mich hätte es weggeschleudert.

Ich kann mich nicht bewegen und spüre, wie mich zwei Hände an der Hüfte packen und mir wieder hoch helfen. Ich richte mich langsam auf und schaue dem jungen Mann mir gegenüber komplett außer Atem in die Augen.

Er sagt nicht einmal was.

Ich breche wieder fast zusammen, denn meine Beine sacken ein und lande halb auf seiner Brust, aber er zieht mich hoch. Wieder schaut er mich einfach nur eindringlich an, aber ich kann bei bestem Willen nicht verstehen, was er vor hat oder wo sein Problem liegt.

Ich will nicht länger in Kontakt mit diesem Mann sein, also stütze ich mich an der Wand ab und keuche. Er hat meine Hände jetzt losgelassen und stützt mich nicht mehr. Er hätte mich tatsächlich sterben lassen. Wie konnte ich ihn mich überhaupt anfassen lassen.

Ich ziehe den jetzt kreischenden Noah schnell zu mir in eine Umarmung und knie mich vor ihn hin.

„Alles ist gut Schatz", rede ich ihm ein. Noah krallt sich in meinem Pulli fest und schluchzt. Als ich mich nach ein paar Sekunden etwas von der Umarmung löse, schaue ich wieder hoch zu dem jungen Mann und sein Blick ist immer noch auf uns gerichtet. Gerade, als ich etwas sagen will, dreht er sich auf der Stelle um und geht.

Es dauert einige Minuten, bis sich mein Atem wieder etwas beruhigt hat und ich fange an, die Situation zu verarbeiten.

Er hätte uns fast sterben gelassen. Wie kann man so sein? Er hat ewig gebraucht, bis er mir mal Noah abgenommen hat und dann hat er mir mindestens noch dreißig Sekunden in die Augen geschaut, ohne etwas zu unternehmen. Eine Sekunde länger und ich wäre weg gewesen.

Es ist unglaublich, wie sehr man sich in Situationen der Not an sein Leben klammert und andere es einfach wegwerfen oder wie der Mann dazu beitragen, eins zu nehmen.

Das Leben hängt wirklich am seidenen Faden.

Alles was wir uns aufbauen im Leben, jede Person die wir lieben, kann mit einem einfachen Fingerschnipsen weg sein.

Auch Noah hat sich jetzt wieder beruhigt und ich ziehe mich mit Hilfe der Wand hoch. Mir wird leicht schwarz vor Augen und ich versuche das Gleichgewicht zu halten. Meine Beine sind wie Pudding, zittern und ich kann kaum gerade stehen.

Ich lasse erst jetzt meinen Blick durch den Zug schweifen und nehme die Umgebung wahr. Hier steht alles voller Kisten, Säcke oder Holzplatten.

Von dem jungen Mann gerade ist weit und breit keine Spur und ich schrecke zusammen, als ich ein leises "psst" höre.

Es kommt von weiter vorne und ich folge dem Ton. Ich laufe immer weiter und schreie fast auf, als mich jemand zur Seite hinter eine Reihe der großen Kisten zieht.

Es ist der Junge vom Laden.

„Wieso versteckst du dich hier?", flüstere ich schockiert.

„Du hast doch gesehen, was sie mit den Leuten an den Zügen gemacht haben. Glaub nicht, dass wir hier erwünscht sind. Ein Wunder, dass der Typ euch beiden noch geholfen hat", erwidert er.

„Wieso folgst du mir?", kontert er dann.

„Ich hatte keine Wahl. Ich war total verzweifelt und dachte dir zu folgen, wäre meine einzige Chance, um noch in einen Zug zu kommen", sage ich.

„Achso, naja dann, gern geschehen. Ich bin übrigens Louis", stellt er sich vor.

„Hope", sage ich und reiche ihm die Hand. Er lächelt. Sein Lächeln ist eigentlich ganz süß und ich erwidere es.

„Und du bist?", fragt er meinen Bruder, der zurückschreckt. Kein Wunder, bei dem was gerade passiert ist.

„Noah heißt er."

„Geschwister?", fragt Louis und ich nicke.

„Was genau machen wir jetzt? Wir können uns nicht ewig verstecken", frage ich ihn.

„So lang es geht versuchen wir mal unser bestes- ", setzt er an doch auf einmal hört man Schreie. Sie kommen wahrscheinlich von einem Wagon weiter vorne, aber man hört sie trotzdem ganz klar, weil sie so laut sind.

„Was zur Hölle, wieso hilfst du ihnen? Die gehören nicht zu uns! Das war ganz sicher keine der Regeln! Wir denken an uns selber und das wars!", schreit ein Mann mit tiefer Stimme.

„Zwei mehr schaden doch nicht, sie können jetzt ja im Zug verrecken", sagt wahrscheinlich der junge Mann, der uns fast hat sterben lassen. So denkt er also, danke für nichts.

Man hört nur ein dumpfes Geräusch und ich schaue Louis fragend an.

„Der hat gerade sowas von eine runtergehauen bekommen, absolut verdient", lacht er.

Ich kichere auch kurz mit, aber frage mich dann, warum derjenige, der hier anscheinend mehr zu sagen hat, es ihm verbietet uns zu retten. Und was für, wir gehören nicht zu ihnen? Und welche Regeln?

Auf einmal wird die Stimme immer lauter, eine Tür geht auf und jemand läuft mit schweren Schritten vor den Kisten vorbei. Gut, dass mich Louis zu sich geholt hat, denn der Mann ist jetzt da, wo ich vorher noch mit Noah stand.

Er hat muskulöse Arme, sieht fast schon aus wie ein Body Builder, hat ganz kurze schwarze Haare und ist wirklich riesig.

Langsam bekomme ich Angst. Ein Schlag von dem und man sieht nur noch schwarz, das ist sicher.

„Wo sind sie!", schreit er so laut, dass ich komplett zusammenzucke. Seine Halsadern schauen hervor und sein Gesicht ist rot vor Wut.

„Ey! Ich habe dich etwas gefragt, wo zur Hölle sind sie verflucht nochmal!", ruft er wieder.

Er stößt ein paar wütende Töne aus und kickt mit dem Fuß ein paar Kisten weg.

Scheiße, hat der Kraft.

„Hope, warum schreit der Mann so laut?", fragt mich Noah.

Ich halte ihm sofort den Mund zu, während Louis panisch seine Augen aufreißt und langsam versucht, weiter hinter die Kisten zu kommen.

„Sag jetzt bitte gar nichts mehr", flüstere ich ihm in sein Ohr. Er nickt einfach nur und er tut mir so leid. Noah weiß gar nicht was hier los ist, er ist doch nur ein Kind.

Zum Glück hat uns der Mann nicht gehört.

Es ist gerade so still, man hört nur unseren Atem und das Rattern des Zuges unter uns.

Der Mann läuft langsam wieder weiter und ich beobachte unter Spannung seine Schritte.

Direkt vor uns bleibt er auf einmal stehen, reißt mit einem riesigen Schrei die Kisten weg und sagt lachend:

„So, wen haben wir denn da?"

~2055, noch 709 Stunden

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Und? Wie findet ihr die Story bis jetzt? Ihr könnt ja mal anfangen zu rätseln, in wen sich Hope verlieben wird hehe.

Oder vielleicht verliebt sie sich ja gar nicht... who knows? :)

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