2 - Familie

‚Familie bedeutet für den Rest deines Lebens nie wieder allein zu sein.'

...

Es scheint, als würde die Zeit still stehen. Als würde jeder Sekundenzeiger einer Uhr stehen geblieben sein.

Es scheint, als würde jeder Mensch in sich gehen, um seinen nächsten Schritt zu planen.

Es scheint, als müsste die Welt erst einmal realisieren, was gerade passiert.

Ich renne so schnell wie mich meine Beine tragen können und höre nicht auf, obwohl ich schon längst nicht mehr kann. Es hat sich ein langer Stau gebildet, weswegen ich schneller zu Fuß bin. In meinem Kopf spielen sich alle möglichen Szenarien ab, was meiner Familie zugestoßen sein könnte und ich rechne mit dem Schlimmsten.

Wo sind sie? Wenn ich zu Hause ankomme, werden sie dann dort sein?

Ich will nicht wahrhaben, dass soeben Bomben einen Teil meiner Stadt komplett zerstört haben. Ich will keinen weiteren Blick in das Chaos, was sich gerade in Hamburg wenige Kilometer von hier abspielt, riskieren.

Als ich aus meiner Trance wieder aufwache, erlaube ich meinen Augen zu sehen. Ich schaue in den Himmel und kann feststellen, dass sich Helikopter über mir befinden und viele weitere Jets.

Ich erlaube meinen Ohren zu hören. Ich höre überall Sirenen und abgedämpfte Schreie, die immer lauter werden, je näher ich meiner Stadt komme.

Ich erlaube meiner Nase zu riechen. Der Geruch von Verbranntem steigt mir in die Nase und ich versuche zu verdrängen, welche Ausnahmesituationen sich hier gerade abspielen.

Ich will zu meiner Familie.

Als ich an meiner Lieblingsbäckerei vorbeikomme sehe ich die alte Dame, die dort arbeitet. Sie war schon immer komisch und jetzt sitzt sie vor ihrem Laden auf einem Stuhl, als wäre es der sonnigste und schönste Tag des Jahres.

„Hallo was machen Sie denn da? Schauen Sie lieber, dass sie so schnell wie möglich zu Ihrer Familie kommen!", schreie ich ihr zu.

„Ich habe schon längst keine Familie mehr. Ich will nicht mehr davonlaufen, die Welt bricht zusammen Liebes. Da kannst du so schnell rennen wie du willst."

Sie lächelt leicht und runzelt die Stirn.

Ihre Worte treffen mich und ich verharre kurz in meiner Bewegung, aber sie bringen mich nach kurzer Zeit nur dazu, noch schneller zu rennen.

Überall sehe ich Polizisten, je mehr ich mich unserem Teil der Stadt nähere.

„Ey! Hey! Bleiben Sie stehen!", ruft mir jemand hinterher. Ich bleibe jedoch nicht stehen, sondern ignoriere die Stimme und sprinte doppelt so schnell weiter.

Als mich derjenige am Handgelenk packt, werde ich ruckartig zurück gezogen und bin somit gezwungen stehen zu bleiben.

Außer Atmen brülle ich ihn an: „Was glauben Sie wer Sie sind? Ich muss da lang, nicht mal zehn Minuten von hier lebt meine Familie!"

„Tut mir Leid, aber dort ist abgesperrt. Wir evakuieren und Sie können dort nicht lang, das wäre Lebensmüde", erwidert er mit einer Gelassenheit, die mich in den Wahnsinn treibt.

„Natürlich kann ich das, ich muss zu meiner Familie!", kreische ich und versuche seinem festen Griff zu entkommen.

„Nein, niemandem ist es erlaubt sich dem Anschlag zu nähern. Es sind bereits genug Opfer, die wir verkraften müssen", sagt er mit fester Stimme und Panik bricht in mir aus.

„Wenn Sie sagen Anschlag, wie viele sind davon betroffen?", frage ich und bin mir nicht sicher, ob ich die Antwort überhaupt wissen will.

„Wir wissen es nicht genau, aber wir vermuten alle im Umkreis von zwanzig Kilometern sind in Gefahr", flüstert er und Tränen steigen ihm in die Augen, während er sich verzweifelt durch seine blonden Haare fährt.

„Wollen Sie mir also klar machen, dass meine Familie, die zehn Minuten weit weg von hier wohnt in Gefahr sein könnte?", schreie ich ihn weiter an. Als er nichts sagt, macht mich das aggressiv. Für einen Polizisten sieht er sogar relativ jung aus.

„Wieso stehen Sie und ihre Leute hier dann so dumm rum, anstatt dort hinzugehen und einzugreifen?", fahre ich fort.

„Beruhigen Sie sich, unsere Männer tun bereits alles, was in ihrer Macht steht, um das Schlimmste zu verhindern. Sie sollten zu einem der Hallen gehen, in der wir allen Schutz bieten", kontert er.

„Wie zur Hölle wollen Sie jemandem in einer verdammten Halle Schutz bieten? Wer sagt, dass die nächste Bombe nicht dort einschlägt?", brülle ich aggressiv und er schaut zu Boden.

„Beruhigen Sie sich einfach, alles wird wieder gut- ", setzt er an, doch ich unterbreche ihn.

„Jaja alles wird wieder gut, dass sagen Leute wie Sie doch immer! Sie können mich ma-"

„Glauben Sie mir, ich will doch auch nur zu meiner Tochter und meiner Frau, aber ich muss trotzdem hier stehen und meinen verdammten Beruf ausführen. Man bekommt nicht immer das was man will!", schneidet er mir das Wort ab.

Ich schaue ihn schockiert an und Mitgefühl breitet sich in mir aus.

„Also gehen Sie und schreien Sie jemanden anderen an!", bricht das aus ihm heraus, was er wahrscheinlich schon von Anfang an sagen wollte.

Er hat Recht, er tut mir gerade so Leid.

„Und falls es Sie interessiert, meine Familie wohnt genau dort", sagt er und zeigt auf den Rauch und das Feuer weiter weg.

Als ich merke, wie meine Augen selbst brennen und ich zugebe ihn ungerecht behandelt zu haben murmle ich: „Tut mir leid, ich bin nicht ich selbst in dieser Situation."

„Wer ist das schon", höre ich ihn noch sagen, während mich meine Füße schon zu meiner einzigen Hoffnung tragen, die ich noch habe.

Wenn ich Glück habe, ist mein Bruder vielleicht noch in der Schule und wartet darauf, abgeholt zu werden.

Je länger ich durch die Stadt renne, umso mehr bemerke ich die Hektik, die eigentlich herrscht. Jeder schreit durch die Gegend, Kindern weinen, Menschen hasten von einer Ecke in die andere, jeder versucht zu kapieren was hier vor sich geht und niemand findet Antworten.

Ich bin erleichtert, als ich endlich die Schule von meinem Bruder sehe und hoffe so sehr, dass ich ihn dort finden kann. Falls dies nicht der Fall ist, wüsste ich nicht was ich sonst noch machen soll.

Schnell suchen meine Augen das Gelände ab und ich kann ihn nicht finden. Panik und das Gefühl der Einsamkeit breitet sich in mir aus, als ich die Eingangstür aufstoße und kein Schüler weit und breit zu sehen ist.

„Hope!", ruft jemand hinter mir und wirft sich um meine Beine. „Ich dachte du kommst nicht mehr, du wolltest mich doch abholen", flüstert mein Bruder.

Tränen der Erleichterung laufen mir über die Wangen, während ich ihn in die Arme nehme und mich so fest es geht an ihn klammere, als würde er bald wieder verschwinden.

„Noah wo warst du denn?", frage ich ihn und schniefe kurz, während ich ihm einen Kuss auf die Stirn gebe.

Ich atme den Geruch unserer Familie ein und fühle mich sofort etwas besser. Es tut so verdammt gut jemanden im Arm zu halten, der einem das Gefühl von Liebe und Vertrauen gibt.

„Ich war auf dem Klo", antwortet er und ich lache leise. Manchmal ist es wohl besser ein Kind zu sein, ohne Probleme und Sorgen.

„Wo sind Mom und Dad?", fragt er voller Hoffnung, aber als er meine mit Tränen gefüllten Augen sieht, runzelt er die Stirn. Er weiß sofort wenn etwas nicht stimmt, Kindern merken so etwas schnell.

Als ich in seine wunderschönen kastanienbraunen Augen schaue weiß ich auch genau, dass er meine traurige Stimmung zu bemerken scheint.

„Sie sind daheim und es geht ihnen gut", versichere ich ihm, wahrscheinlich auch um es mir selbst einzureden.

„Warum weinst du dann?"

Noah ist zwar nicht alt, aber er weiß viel für sein Alter und er kann auch sehr viel verstehen.

„Liegt bestimmt an den Pollen", lächle ich ihn an und fahre ihm durch seine braunen Haare.

Ich muss jetzt erstmal schauen, was unser nächster Schritt sein wird. Als ich über den Pausenhof laufe sehe ich noch ein paar weitere Eltern, die überglücklich ihre Kinder in Empfang nehmen, was mich sofort meine Eltern vermissen lässt.

Krampfhaft überlege ich wo sie sein könnten, denn ich will nicht wahrhaben, dass sie in Gefahr,  oder gar tot sein könnten. Kopfschüttelnd werfe ich den absurden Gedanken beiseite und entscheide mich dazu, jemanden nach Rat zu fragen. Ich habe doch selbst keine Ahnung, was ich jetzt machen soll.

Mir kommen mittlerweile sehr viele Menschen entgegen, die alle in die andere Richtung als wir laufen.

„Uhm sorry, wohin gehen sie, wenn ich fragen darf?", spreche ich einen von ihnen an und er lacht.

Wieso müssen heute alle lachen, wenn mir einfach nur zum heulen ist?

„Weg von hier", bekomme ich die hilfreiche Antwort.

„Hätte ich nicht gedacht", sage ich sarkastisch. „Wohin denn genau?"

„Das ist doch egal", erwidert er.

„Nein, dass ist verdammt nochmal nicht egal! Ich stehe hier mit meinem achtjährigen Bruder, bin selbst erst achtzehn und ich habe absolut keinen Plan, was hier vor sich geht. Also sagen sie mir, wo sie alle hingehen!"

Ich verliere meine Fassung, wenn er nicht gleich mit der Sprache rausrückt.

„Nun ja, dann werde ich bei ihnen eine Ausnahme machen, wir gehen in den Süden", spricht er hektisch während dem Laufen, ich komme ihm kaum hinterher.

„Wieso in den Süden?"

Bei diesen Worten bleibt er abrupt stehen und schaut mich eindringlich an.

„Das ich ihnen das jetzt sage ist und bleibt eine Ausnahme. Also es besteht Hoffnung, dass wir im Süden erst einmal sicher vor Anschlägen sind. Anscheinend haben sie es nicht nur auf New York, sondern den ganzen Norden abgesehen. Wenn sie sich nicht beeilen, dann ist von dieser Stadt hier bald nichts mehr übrig," sagt er sanft.

Seine Worte jagen mir einen Schauer über den Rücken.

„Aber meine Familie ist in der Stadt", teile ich ihm verzweifelt mit.

„Tja retten sie sich selbst, oder laufen sie dorthin und unterschreiben somit ihr eigenes Todesurteil, die Entscheidung liegt bei ihnen", meint er während er in den Himmel und anschließend auf die Stadt zeigt. „Nicht mehr lang und sie lassen ihre Ladung ab", fügt er noch hinzu, bevor er weiterrennt.

„Wieso sagten sie, dass es eine Ausnahme ist, wenn sie mir das sagen und warum genau sprechen sie so leise?", will ich wissen, als ich ihm hinterher renne. Ich habe eigentlich noch viele Fragen.

Er kommt mir näher und flüstert mir ins Ohr: „Es leben viele Menschen in der Stadt, die Züge haben nur begrenzt Platz und jeder muss versuchen sich selbst zu retten. Das ist erst der Anfang."

Er rennt immer weiter und nach einer Zeit bleibe ich verzweifelt stehen.

Ich kann mit seinem Tempo nicht weiter mithalten, denn Noah habe ich auch noch auf dem Arm.

„Achso und behalten sie das Geheimnis doch für sich, viel Glück!", schreit er mir zu, bevor er dann endgültig davonrennt.

Innerlich rege ich mich über seine Unfreundlichkeit auf.

In einer Gemeinschaft zu leben ist ein Geben und ein Nehmen. Ich könnte mich gerade mitten in die Stadt stellen und jedem sagen wohin er zu gehen hat, hätte ich die Zeit und Kraft dazu.

Je mehr ich jedoch darüber nachdenke, desto mehr drängt sich seine Meinung von dem Ganzen in meinen Kopf.

Es ist tatsächlich schlau, die Zahl der Eingeweihten so klein wie möglich zu halten, um für sich selbst den größten Vorteil zu schaffen.

Aber so bin ich nicht, ich kümmere mich um meine Mitmenschen.

Panisch drehe ich mich um und bin psychisch am Ende. Ich muss mich gerade so sehr zusammenreißen, um nicht loszuschreien. Das alles ist ein reiner Alptraum und ich hoffe immer noch, dass ich gleich schweißgebadet in meinem Bett aufwachen werde.

Doch alles, was ich merke, ist das mulmige Gefühl in meinem Magen welches mir sagt, dass das die bittere Realität ist.

Als ich auch noch die nächsten fünf Leute frage, wohin sie gehen und sie mich ignorieren, steht die Entscheidung für mich fest.

„Wohin gehen wir Hope?", fragt mich Noah, der das alles hier am wenigsten verdient hat.

„Zum Bahnhof", lautet meine leise Antwort.

„Und wohin fahren wir?", will er wissen.

„In den Süden", spreche ich mit weiteren Tränen der Sorge, die mir über die Wange laufen. Das einzige was mir hilft, sind seine leuchtenden Augen die mich vor Freude anstrahlen, da er noch nie mit dem Zug gefahren ist.

Als ich mich in Bewegung setze kreisen meine Gedanken nur um das, was jetzt noch auf uns zukommen wird und wie wir das schaffen sollen. Nach einer Weile zerfressen mich meine Gedanken zu sehr, weshalb ich mich auf Noahs Stimme konzentriere, die mir gerade erzählt, was er heute alles neues in der Schule gelernt hat und das er später mal Polizist werden will.

Auf einmal denke ich anders über die Zukunft nach. Wer weiß denn, ob wir überhaupt eine Zukunft haben werden?

Und während wir weiter der Menge folgen rede ich mir ein, dass es besser ist mich und meinen Bruder zu retten, anstatt mitten in das Feuer zu gehen, nur um mich und meine komplette Familie brennen zu sehen.

~2045, noch 716 Stunden

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