Kapitel 9
Die Geräusche, die wir vernommen hatten, setzten fort, während wir langsam und vorsichtig weiter den Gang entlang schlichen. Ich tastete mich auch weiterhin an der Wand entlang, bis ich mit meiner Hand gegen einen hölzernen Türrahmen stieß. Nun musste ich wählen, ob ich meiner Neugier nachgeben oder in dem mir noch unbekannten Raum nach weiteren Hinweisen zum Aufenthalt meines Freundes suchen sollte. Mit einem zum Ursprung des Geräusches gerichteten Blick fuhr ich an der Tür entlang. Dort wo jedoch der Türknauf aus Messing sein sollte, befand sich nichts. Er musste im Laufe der Jahre abgefallen sein.
Ich tastete die Tür weiter ab und bemerkte eine Unebenheit. In der Mitte der Tür war anscheinend eine Glasscheibe, diese war jedoch zerbrochen. Ich hoffte, dass ich durch die Scheibe den Knauf auf der anderen Seite der Tür erreichen konnte. Doch in meiner Ablenkung passierte es, ich fuchtelte zu hastig und im nächsten Moment spürte ich, wie sich ein Stück des Glasrestes an der Fassung schlagartig in meine Hand bohrte.
Da ich nicht schreien wollte, biss ich mir mit schmerzverzerrtem Gesicht auf die Zähne und gab dabei nur ein leises Wimmern von mir.
Ich harrte einen Moment aus, während mein Freund mich besorgt fragte, was los war. Aber ich war gerade nur auf meine stark verletzte Hand und das viele Blut, dass an ihr herunter rinnte, konzentriert. Als es nach und nach immer mehr anfing zu brennen, liefen mir Tränen aus den Augen, aber ich fasste mich wieder und griff durch das Fenster an den Türknauf und öffnete die Tür. Direkt danach zog ich meinen Arm zurück, ging mit meinem Freund in den Raum, schloss die Tür hinter uns und betrachtete meine Hand. Mein Freund leuchtete mit seiner Taschenlampe auf sie und er gab ein leises „Alter...“ von sich. Ich war immer noch nicht in der Lage, einen Ton von mir zu geben. Ich ging mit meiner anderen Hand zitternd an die Scherbe, umschloss sie und zog sie mit einem Ruck aus meiner Hand. Ich musste schnell etwas für meine Hand suchen, denn nun entsprang das Blut nur noch schneller meiner Hand.
Mein Begleiter durchsuchte sehr schnell den Blechschrank, der zu unserer Linken stand, doch dort waren nur Akten gelagert, genauso im Schrank daneben. Währenddessen durchwühlte ich mit meiner gesunden Hand meinen Rucksack nach einer Verbandsmöglichkeit, doch ohne Erfolg. Mein Freund fand auf einem Schrank stehend einen Lappen und eine halbvolle Flasche mit einer klaren Flüssigkeit, die Beschriftung war jedoch abgeblättert und nur noch einzelne Buchstaben waren nur schwer lesbar. Wir hofften einfach nur, dass es eine Art Reinigungsalkohol war, der früher eigentlich für Sterilität im Raum genutzt wurde. Mein Freund tropfte vorsichtig und ahnungslos ein wenig von der Flüssigkeit auf den Lappen. Ich entriss ihm die Flasche und schüttete den Inhalt auf die Wunde. In diesem Moment war mit nicht klar, welcher Schmerz schlimmer war, die fingerlange Glasscherbe, die meine Hand wie ein Stück Käse durchlöcherte oder die stark brennende Wirkung der unbekannten Flüssigkeit. Anschließend riss ich mir ein Stück meines Ärmels ab und band es um meine Hand.
Ich wischte mir die letzten Tränen aus meinem Gesicht und stand auf. Daraufhin half ich beim Durchsuchen des Raumes. Es war ein eher kleiner Raum, mit den wie zuvor erwähnten Blechschränken, die die linke Seite füllten. Auf der rechten Seite waren Podeste mit Urkunden, Medaillen und anderen Auszeichnungen. Am Ende des Zimmers, genau mittig, stand ein massiver Schreibtisch aus Eichenholz. Darauf eine Unterlage, eine alte Schreibtischlampe, wie sie unsere Großväter hatten, weitere Dokumente und eine große schwarze Schreibmaschine. Und zu guter letzt hinter dem Tisch eine große Pinnwand mit Notizen und wieder einigen Zeichnungen der Kinder. Es war das von uns gesuchte Büro. Zuerst schaute ich mir die Korkaufhängung mit den Notizen an. Sie waren für mich schwer zu dechiffrieren, denn es war eine alte Handschrift und die wenigen Buchstaben, die ich lesen konnte ergaben im Zusammenhang keinen Sinn. Ich schaute mir folgend die Bilder an und erschrak, als ich eines sah, auf dem man eine Person mit einer blutenden Hand sah, während ihr Wasserfälle in den Augen entstanden. Ich ging mit skeptischem Blick ein paar Schritte zurück, während ich meine kaputte Hand hielt. Ich stieß rückwärts gegen den Eichentisch. Ich durchsuchte sofort die Schubladen und fand dort drin einen Schlüsselbund, wie der, den auch der Mann bei sich trug. Für einen Augenblick vergaß ich komplett die Geräusche, die wir vorhin gehört hatten und reagierte auf meinen Fund mit einem lauten freudigen „Hab ihn“. Sofort verstummen die Geräusche auf dem Gang und was folgte waren die knarzenden Bidendielen. Wir versteckten uns schnell im großen Fußbereich des Schreibtisches und verharrten ohne ein Geräusch zu machen.
Die Tür ging auf, Schritte folgten, doch entgegen der von uns erwarteten tiefen Männerstimme, die ankündigen würde, dass wir entdeckt wurden, ertönte eine Kinderstimme eines kleinen Jungen.
„Abigail, Benjamin? Seid ihr das? Ich kann nicht schlafen und Hoppel auch nicht. Wo seid ihr? Ich vermisse euch.“ Anschließend hörten wir ein leises Wimmern, gefolgt von einem todtraurigem Schluchzen. Es tat mir in der Seele weh, da mich in diesem Moment der Gedanke an das Schicksal der Kinder plagte. Nach dem Weinen ertönte nur noch ein „Bitte kommt zurück, ich hab Angst“ und das Geräusch, wie etwas abgestellt wurde.
Nach ein paar wenigen Augenblicken kroch ich aus unserem Versteck hervor. Mit bedrücktem Blick schaute ich auf den Eingang des Zimmers, dort wo vermutlich der kleine Junge stand, war nun eine weiße Runde Spieluhr mit hellblauen Tupfen, daneben ein Plüschhase mit einem fehlenden Auge und...eine Maske. Die Maske war aus dem Kinderzimmer mit dem Bild und der Nachricht und sie stellte einen kleinen traurigen Jungen dar. Abigail und Benjamin...das mussten die Betreuer sein, war einer der vielen Gedanken, die gerade meinen Kopf füllten.
Ich nahm den Plüschhasen und die Maske und steckte sie in meinen Rucksack und hob daraufhin die Spieluhr auf. Ich öffnete den Deckel und im gleichen langsamen Tempo erschien dort, wo typischerweise eine Ballerina war, ein kleiner roter Fuchs. Ich drehte sie nur leicht auf, doch erkannte sofort, dass die Spieluhr die Melodie der beiden Betreuer abspielte. Ich klappte sie wieder zu und blickte mit einem tiefen konzentrierten Blick durch die Tür.
„Bevor wir unseren Freund finden, möchte ich, dass wir sowohl die Maske, als auch das Plüschtier zurück an seinen Platz bringen. Vielleicht beruhigt das wenigstens eine wandelnde Seele in diesem Gebäude“, war das Letzte, was ich von mir gab, bevor ich aus der Tür lief.
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