Kapitel 44

Kurt Hugo Schneiders Cover von "Piece by Piece" (auch auf Spotify)

https://youtu.be/hpBxuJEscg8

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Ich versuchte mich den Tag über so gut wie möglich abzulenken.

Spielte an meiner Switch...duschte mich viel zu lange...

Dasselbe wie immer eben.


Leider brachte es nicht viel.

Ich war unendlich nervös.


Die ganze Zeit über versuchte ich mir zu überlegen, was ich machen sollte, wenn Tae meine Bitte ablehnen würde.

Genauso, was ich tun sollte, wenn er annahm.

Was das über ihn aussagen würde.

Über uns.

Mein Kopf war hundertfach mit Gedanken überfüllt.


Es war das erste Mal seit einer Weile, dass ich vor einem Spiel so viel Panik schob.

Obwohl ich inzwischen wieder wusste, wenn Tae und ich abends spielen würden, hatten meine Anfälle sich weitestgehend zurückgebildet.


Aber heute war anders.

Es war nicht wie früher, als ich mir nichts sehnlicher gewünscht hatte, als um das Spiel herumzukommen.

Gleichzeitig gewollt hatte, dass es einfach vorbei war...


Heute konnte kaum erwarten, dass es anfing.

Einfach um zu wissen, wie es anfangen würde.


Trotz allem war es ein sehr befremdliches Gefühl.

Wenn es nach mir gegangen wäre, hätte man alles nach dem Anfang auch skippen können.


Aber da ich wusste, dass das nicht passieren würde...

...blieb mir nichts anderes übrig, als mich über meine Ungeduld zu wundern.



Als kurz nach 16 Uhr endlich das Piepen der Eisentür erklang, saß ich bereits seit guten zwanzig Minuten einfach auf dem Boden vor den Gitterstäben herum und starrte abwartend vor mich hin.

Kaum öffnete sich die Tür, schlug mir das Herz fast bis zum Hals.


"Ich bin zurück~", säuselte Tae gut gelaunt, als er die Zelle betrat.

Wie immer freute er sich sichtlich, mich zu sehen.


....wenn ich das selbe doch nur von mir hätte behaupten können.



Mit geweiteten Augen starrte ich das Tablett in Taes Händen an.

Was?...

Wie immer schenkte der Blauhaarige mir ein kleines Lächeln, bevor er es auf dem Boden abstellte.

Hieß das?...

Binnen Sekunden war meine Kehle staubtrocken.

Nein...


Erstarrt sah ich dabei zu, wie Tae das Tablett unter den Gitterstäben hindurch schob.

Bitte nicht...


Ich konnte förmlich spüren, wie mir das Blut in den Adern gefror, als das Essen vor mir stand.

Abwartend schaute Tae mich an.

So wie immer.

Wie jedes verdammte mal, wenn er Schlafmittel in mein Essen getan hatte.


Mir wurde ein bisschen übel.

Wieso?...

Ich biss mir auf die Lippe, um vor Enttäuschung nicht gleich loszuweinen.

Wieso konnte er nicht...?...

Ich dachte...

Kurz schloss ich meine Augen.

Würde es jetzt wirklich...

...für immer so weitergehen?...

Ich konnte es nicht glauben.

Wollte es nicht glauben.

Nach allem, was sich verändert hatte...

All den Zugeständnissen...

Wie konnte Tae nur-


Gerade als ich dabei war, in einem schwarzen Strudel aus Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit zu versinken, holte die Stimme des Blauhaarigen mich aus meinen Gedanken.

"Da ist kein Schlafmittel drin.", sagte er leise.

Offensichtlich war er in der Lage gewesen, meinen Schock auf seine Ursache zurückzuführen.


Für einen Moment setzte mein Herz aus.

Binnen Sekunden war mein Blick nach oben geschnellt.

Was?...



Weich lächelte Tae.

"Da ist nichts drin.", wiederholte er.

"Aber du musst trotzdem etwas essen, bevor wir spielen. Sonst hältst du nicht lange durch.", erklärte er.

Lieb legte er seinen Kopf danach ein wenig zur Seite.


Mit weit aufgerissenen Augen sah ich ihn an.

Ich hatte gehört, was er gesagt hatte.

Aber irgendwie waren seine Worte in ein Ohr rein und direkt aus dem anderen wieder rausgegangen.

Viel zu sehr war ich damit beschäftigt, seinen ersten Satz zu verarbeiten.


Er hatte...

Noch fassungsloser sah ich mein Essen an.

Tae hatte wirklich...

Schon wieder stiegen mir Tränen in die Augen.

Tae war tatsächlich bereit gewesen, mir diesen Gefallen zu tun...

Irgendwie hatte ich mir das hier so sehr herbeigewünscht, dass ich jetzt überhaupt nicht realisieren konnte, dass es wirklich passierte.

Trotz dem ganzen guten Zugerede meinerseits, hatte ich tief in mir drin wahrscheinlich nicht geglaubt, dass Tae auf mich eingehen würde.

Dass er meinetwegen einen derartig großen Schritt zurücktreten würde....trotz seines massiven Kontrollbedürfnisses...

Doch jetzt...


Mein Herz hüpfte entschieden zu glücklich auf und ab, wenn man bedachte, in was für einer Situation ich mich befand.

Ich freute mich gerade darüber, dass ich mich gleich freiwillig an einen Stuhl fesseln lassen dürfen würde.

....um mir danach die Haut aufschlitzen zu lassen.

Aber so paradox es auch klang...

...so war es inzwischen einfach mein Alltag, den ich als solchen angenommen hatte.

Deshalb konnte ich mich ehrlich über jede noch so kleine Verbesserung freuen.

Und diese hier war bei weitem nicht "klein".

Mit einem Mal war einer der widerlichsten Aspekte an diesem grausamen Spiel verschwunden...

All die Male, in denen mir einfach schwarz vor Augen geworden war und ich kurz darauf in meiner kleinen Hölle aufgewacht war, hatten mich so sehr geprägt, dass ich es gar nicht richtig verstehen konnte...



"Nicht weinen...", schon wieder holte Taes etwas hilflose Stimme mich zurück in die Realität.

Mit großen Augen sah ich auf, nur um in sein besorgtes Gesicht zu gucken.

"Ich dachte, du bist nicht mehr traurig, wenn ich das Schlafmittel weglasse...", murmelte der Blauhaarige bedrückt.


Ich brauchte einen Moment, um zu verstehen, dass ich wirklich weinte.

Mehrere Tränen hatten bereits ihren Weg über meine Wange gefunden.


"Nein, ich...", setzte ich an, bevor ich mir hastig übers Gesicht wischte.

"Das waren Freudentränen.", erklärte ich.


Den Blick, der sich daraufhin auf die Mimik meines Gegenübers legte, hätte ich mir am liebsten eingerahmt.

"...Freudentränen?...", fragte er ratlos nach.


Es dauerte ein paar Sekunden, bis mir klar wurde, dass er es ernst meinte.

"Ja...?..", bestätigte ich zögerlich.

"Wenn man so glücklich ist, dass man weinen möchte.", erklärte ich.

"Hattest du das noch nie?", wollte ich wissen.

Offensichtlich waren in Taes Gegenwart noch nicht viele Leute vor Freude in Tränen ausgebrochen....

Das gerade war bei weitem nicht das erste Mal, dass ich mich fragte, was für ein Leben der Blauhaarige außerhalb unseres kleinen Universums führte...

Oder wie sein Leben gewesen war, bevor er mich hier eingesperrt hatte.

....falls das irgendwas für ihn verändert hatte...


Die schokoladenfarbenen Augen meines Gegenübers klappten in paar Mal auf und zu.

Dann, ganz plötzlich, begann er breit zu lächeln.

"Oh doch. Ich glaub schon...", kurz wanderte sein Blick nach oben, bevor er mich wieder anschaute.

"So ein Gefühl hatte ich, als ich dich hergeholt hab.", erzählte er.


Mir klappte fast die Kinnlade herunter.

Äh...

Das war nicht unbedingt die Antwort, die ich erwartet hatte.


Streng genommen hatte ich bis heute keine richtige Ahnung, wie Tae mich hierher geschafft hatte.

Aber dass Kidnapping mit der darauffolgenden Gewissheit, dass er jemanden zum 'spielen' hatte, bei dem Blauhaarigen ein möglicher Grund für Freudentränen war....

...überraschte mich inzwischen irgendwie auch nicht mehr.



Ein paar Mal blinzelte ich, um diese traurige Wahrheit zu verdauen, bevor ich den Blauhaarigen wieder ansah.

"Na dann...weißt du ja, was ich meine.", lächelte ich, immer noch etwas überfordert.


Als ob mich hier einzusperren das erste gewesen war, was ihn jemals hatte wirklich glücklich gemacht hatte...

Der Gedanke kam mir dann doch etwas absurd vor.

Gleichzeitig hatte ich immer mehr das Gefühl, dass hinter Taes wirrer Fassade so viel mehr stecken könnte, als man erwartete...


Aber natürlich traute ich mich nicht zu fragen.

Für heute hatten wir genug sensible Themen gehabt.



"Dein Essen wird kalt...", erinnerte Tae mich, anstatt zu antworten.

Das Lächeln auf seinen Lippen war schon wieder so ehrlich....


Leise seufzte ich, bevor ich kurz an mich selbst gerichtet den Kopf schüttelte.

Wie oft würde ich noch versuchen, Tae zu verstehen, bis ich endlich raffen würde, dass es ein mehr als bodenloses Unterfangen war?

Ich verkniff mir ein zweites Seufzen.

Leider wusste ich die Antwort auf diese Frage.

Nämlich unendlich oft...

Tae war mein einziger sozialer Kontakt.

Die einzige Person, mit der ich sprach.

Es war komplett menschlich, dass man nie aufhörte, die Leute, die einen nahe waren, verstehen zu wollen.

Entsprechend....

Kurz huschte mein Blick zu dem Blauhaarigen, bevor ich einfach nickte und mich meinem Essen zuwandt.

...würde ich auch nie damit aufhören können.


Trotz allem konnte ich nicht leugnen, dass zwischen Tae und mir sowas wie Nähe existierte.

Diese war alles gewesen, was mich heute dazu gebracht hatte, mein Anliegen zu äußern.

Egal wie verzweifelt ich gewesen wäre...

Wenn ich nicht daran hätte glauben können, dass Tae das zwischen uns etwas bedeuten könnte, hätte ich mich nie dazu überwinden können.


Aber spätestens jetzt...

Kurz schloss ich meine Augen und genoss, nicht nach dem zweiten Bissen ohnmächtig zu werden.

....hatte ich den Beweis.


Was auch immer es war, das sich da zwischen mir und Tae aufgebaut hatte...

...es war da.


Well...dass Tae nicht weiß, was Freudentränen sind, mag euch etwas absurd vorkommen.
Ist es auch.
Aber ich fand die Idee (auf die typisch befremdliche Art und Weise dieser Story) cute, als sie mir einfallen ist, also lasst mich. xD

Ich wünsche euch noch einen schönen Abend~

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