Kapitel 3 - One Way Ticket

Standing on the border
Looking out into the great unknown

I can feel my heart beat faster
as I step out on my own

There's a new horizon and the promise of favourable wind

I'm heading out tonight, traveling light
I'm gonna start all over again

(One Way Ticket, LeAnn Rimes, 1996)

Es sollte noch eine weitere Woche ins Land gehen bevor Kitty den geheimnisvollen Brief öffnete. Eine Woche, in der sie sich für das nächste Semester abmeldete, mit der Option, es später wieder aufnehmen zu können. Auch die letzten wichtigen Prüfungen des laufenden Semesters hatte sie bereits abgelegt, so dass sie neben der Vorbereitung für ein paar Tests in weniger wichtigen Seminaren genug Zeit hatte, sich um eine neue Bleibe zu kümmern.

Gary mied sie, so gut es ging, und sie war einigermaßen erfolgreich darin, ihm aus dem Weg zu gehen. Wenn sie es weiter so hinbekam, käme sie klar. Solange die Kaffeemaschine mitspielte. Sie wartete ungeduldig, bis ihre Tasse Kaffee durchgelaufen war. In zwanzig Minuten wäre sein Meeting mit dem Dekan zu Ende, und sie hatte keine Lust, ihm noch zu begegnen, bevor sie zu ihrem Termin bei der städtischen Wohnbaugesellschaft aufbrach, die einige möblierte Zimmer ausgeschrieben hatte.

Die altersschwache Maschine röchelte und fauchte, förderte die kostbare, tiefschwarze Flüssigkeit nur widerwillig in die Glaskanne. Wenn das so weiterging, würde Kitty ihrem Ex doch noch in die Arme laufen. Wie gern wäre sie schon über alle Berge, doch vielleicht klappte es ja heute. Es musste einfach.

Nervosität stieg auf wie die winzigen Bläschen in Sodawasser und kitzelte einen Punkt hinter ihrer Nasenwurzel. Um die Unruhe zu bändigen und die Zeit bis zum fertigen Kaffee zu überbrücken, ging sie in Trishs und ihr Zimmer und prüfte im Wandspiegel ihr Erscheinungsbild, auch wenn sie wusste, dass jede Haarsträhne an ihrem Platz saß und das Make-up ihre Vorzüge hervorhob, ohne billig zu wirken.

Jeder, der behauptete, es käme nicht auf das Äußere an, der log sich selbst in die Tasche. Und selbst wenn es nicht wahr wäre, wollte Kitty kein Risiko eingehen. Je eher sie hier wegkam, desto besser. „Das wird schon klappen!", sagte sie laut im Brustton der Überzeugung, auch wenn niemand sie hören konnte. Schließlich war sie die Einzige, die überzeugt werden musste.

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In der Küche hatte das Röcheln aufgehört und sich in durchgehendes Fauchen verwandelt. Kitty freute sich, dass sie doch noch in den Genuss eines Koffeinkicks kam, und die alte Maschine nicht, wie schon so oft, während des Betriebs einfach streikte. Sie ging eilig zurück, streckte die Hand nach der Kanne aus und erstarrte in der Bewegung. Gary stand an den Kühlschrank gelehnt und beobachtete sie. Der Lärm der Maschine hatte zwar die Geräusche seiner Rückkehr überdeckt, doch wenn sie an ihm vorbei gegangen war, ohne ihn zu bemerken, musste sie wirklich neben sich stehen.

„Verdammt, was willst du denn hier?"

„Wir sind früher fertig geworden, und ich wohne hier." Er sagte es mit einem Glitzern in den Augen, das ihr zeigte, wie sehr er es genoss, sie wieder piesacken zu können.

„Wo willst du denn hin, Baby?", fragte er, als sie nicht reagierte. „Und auch noch so aufgebrezelt."

Kittys Vorsatz, sich nicht provozieren zu lassen, wurde auf eine harte Probe gestellt. Sie zählte bis drei, bevor sie zwischen den Zähnen hervor presste: „Ich bin auf dem Weg zur Wohnbaugesellschaft. Und nenn mich nicht ‚Baby'!"

„Warum nicht, Babe? Du musst begreifen, dass niemand Gary Jameson verlässt. Je eher du das kapierst, desto eher können wir wieder zum Status Quo zurückkehren."

„Eher friert die Hölle zu! Du liebst doch nur dich selbst, niemanden sonst - dafür bin ich mir zu schade!", rief Kitty, weiterhin um jedes bisschen Beherrschung bemüht. Ihr missfiel das Lächeln, das er ihr nun schenkte. Es war nicht warm, nicht wohlwollend, sondern kalt. Es erreichte seine Augen nicht, die sie berechnend fixierten. Wie eine Katze den Blick fest auf ihre Beute richtete, wissend, dass die Maus keine Chance hatte. Kitty verlagerte ihr Gewicht unbehaglich auf das andere Bein und starrte ihn trotzig an. „Was. Hast. Du. Getan?!"

Sein Lächeln wich einem siegessicheren Grinsen.

„Sagen wir mal, ich habe meine Beziehungen spielen lassen. Meine Beziehungen zur Geschäftsführerin der Wohnbaugesellschaft. Nehmen wir an..."

„Was hast du getan?!", brüllte Kitty. Der Vorsatz, gelassen zu bleiben, nur mehr eine vage Empfehlung, die sie nicht mehr einzuhalten gedachte.

„Baby, wenn du mich ausreden lassen würdest, wäre ich schon auf den Punkt gekommen", erwiderte er so kühl und ruhig, wie sie es eigentlich sein wollte. „Ich habe dir einen unnötigen Weg erspart: ich habe bei meiner Cousine dritten Grades durchblicken lassen, dass du als Mieterin ungeeignet bist."

Kittys Blick verschwamm, ihr Puls hämmerte und trieb ihr die Tränen in die Augen. Es konnte nicht wahr sein, dass er ihr diese Chance aus reiner Boshaftigkeit vermasselte. „W-w-was h-hast du ihr e-e-erzählt?!", fragte sie und wollte die Worte im gleichen Augenblick wieder einfangen, indem sie ihr aus zitternden Lippen entschlüpft waren. Warum hatte er sie nur so sehr provoziert, bis sie wieder in alte Muster verfiel?

Weil er es konnte. Weil er wusste, dass sie zwar das Stottern in ihrer Kindheit überwunden hatte, großer Stress sie jedoch manchmal wieder zurück katapultierte. Zu der Wut kam noch die Furcht davor, was für Lügen er noch über sie erzählt hatte. Wie es aussah, hatte er vor, ihr das Leben zur Hölle zu machen, wenn sie nicht bei ihm blieb. Kitty fragte sich einmal mehr, was sie in dem Mann zu sehen geglaubt hatte.

Gary zog süffisant einen Mundwinkel nach oben.

„Details musst du nicht wissen", schnurrte er, als leckte er sich gerade Sahne von den Schnurrhaaren. „Nur so viel: wenn du mir nicht verzeihst, und zu mir zurückkommst, wirst du in dieser Stadt keinen Fuß mehr auf den Boden bekommen."

„D-d-das wagst du n-n-nicht!"

„Mäuschen, wenn du es mir nicht glaubst, geh doch hin", schnurrte er weiter und deutete auf die Wohnungstür. „Geh nur und lass dich ansehen, wie das Subjekt, als das ich dich beschrieben habe. Vielleicht solltest du vorher mit dem Gestotter aufhören, das macht auch keinen guten Eindruck. Nicht dass, das noch etwas helfen würde."

Kitty drehte sich auf dem Absatz um und stürmte in Trishs Zimmer. Sie hatte verloren und war froh, dass Gary ihr nicht gefolgt war. Das war auch gar nicht nötig, weil er wusste, dass er gewonnen hatte. Er brauchte nur warten, bis sie es sich selbst eingestanden hätte und zu ihm zurückkroch. Erst hatte sie sich auf ihrer Isomatte zusammengerollt und lautlos geweint. Sie wollte verflucht sein, wenn sie ihm weiterhin eine Show bot. Bald darauf ging ihr Atem ruhiger, und ihre zu Fäusten geballten Hände öffneten sich. Sie lauschte ihrem Herzschlag und fiel kurze Zeit darauf in einen unruhigen Schlummer.

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Als sie aufwachte, war es bereits dunkel und die Straßenlaternen warfen ihr kühles Licht durch die Fenster auf Trishs Bett, das unberührt war. Zu Kittys Glück war der quirlige Lockenkopf bei seiner Schwester irgendwo auf den Hebriden zu Besuch und würde nicht hereinschneien und versuchen, sie aufzumuntern. Dafür war Kitty dankbar. Wenn ihr Leben schon gerade den Bach runterging, musste sie es wenigstens nicht vor einer anderen Person ausbreiten.

Eines stand fest: Sie musste hier raus, und das am besten gleich morgen. Noch wusste sie nicht, wohin, doch sie würde improvisieren. Im schlimmsten Fall würde sie über ihren Schatten springen müssen und Ray, ihren Stiefvater in spe um Hilfe bitten. Er besaß einen Haufen Immobilien überall in England, da fand sich bestimmt ein Plätzchen für sie. Die letzte abzugebende Seminararbeit für das Städtebau-Institut war eine Schriftliche, und die konnte sie auch woanders fertig schreiben und dann per Boten einreichen.

Kitty begann sofort damit, ihre wichtigsten Habseligkeiten in ihren alten Wanderrucksack zu stopfen, bevor sie es sich anders überlegen konnte. Ihre Bettstatt, bestehend aus Isomatte und Schlafsack, würde sie morgen früh zusammenrollen und auf den Rucksack schnallen. Den Rest würde Trish ihr bestimmt nachsenden, wenn sie sie darum bat. Dann blieb ihr Blick auf einem Stapel Briefe hängen, der ganz hinten links auf dem Schreibtisch ruhte.

Sie nahm ihn und begann, die Umschläge einen nach dem anderen zu öffnen. Es war besser, ohne Ballast aufzubrechen, und so warf sie Werbung in den Papierkorb, überwies offene Rechnungen mit dem Smartphone und steckte eine Postkarte ihrer Mutter mit einem schwachen Lächeln in die Dokumententasche des Rucksacks. Bei einem schweren, cremefarbenen Umschlag hielt sie inne. Kitty erinnerte sich an Reginas Vermutung, dass der Brief etwas mit der Familie ihres Vaters zu tun hatte, und daran, dass sie das Schreiben scherzhaft als unwichtig abgehakt hatte.

Zögernd fuhren ihre Finger über die Tintenschnörkel des Absenders. Wer schrieb heute noch mit Füllfederhalter? Auch der Name der Anwaltskanzlei strömte eine Altehrwürdigkeit aus, die ihr einen kleinen Schauer über die Schultern jagte. Was konnten Leute wie die von Leuten wie ihr bloß wollen? Hastig durchwühlte sie den Schreibtisch auf der Suche nach etwas, das sie als Brieföffner verwenden konnte. Für das ungewöhnlich schwere Papier brauchte sie etwas Schärferes als ihre Fingernägel. In Gedanken entschuldigte sie sich bei ihrer Mitbewohnerin für die Unordnung und wurde kurz darauf fündig. Wer hätte gedacht, dass Trish sogar einen richtigen Brieföffner besaß?

Kitty überflog den Teil mit der förmlichen Anrede, dann blieben ihre Augen an einem Absatz haften, dessen Inhalt ihr so unwirklich erschien, wie ein Traum. Es konnte auch ein schlechter Scherz sein, der sie Hoffnung schöpfen ließ, nur um sie dann richtig fertig zu machen. Sie konzentrierte sich trotz ihres rasenden Herzens noch einmal auf die Zeilen vor ihr.

„In selbiger Erbschaftsangelegenheit fordern wir Sie auf, schnellstmöglich aktiv zu werden. Sollten Sie binnen dreißig Tagen ab Eingang des Schreibens Ihr Erbe nicht annehmen, sei es schriftlich oder persönlich in unseren Räumen, verfällt Ihr Anrecht auf das Haus in Dornie. Die kurze Frist ist darin begründet, dass wir eine beträchtliche Zeit darauf verwendet haben, Sie ausfindig zu machen. Eine Klausel des Testaments, schreibt uns vor, das Erbe ausschließlich in die Hände eines Sprosses einer bestimmten Nebenlinie der Familie McRae zu geben, der Linie Ihres Vaters.

Sollte keiner gefunden werden, fällt es nebst Grundstück an die Gemeinde. Selbiges gilt für den Fall Ihrer Ablehnung - unter allen Umständen soll dadurch sichergestellt sein, dass es nicht einem Erben aus der Hauptlinie zugesprochen wird. Die Bedingungen, die Sie erfüllen müssen, sollten Sie annehmen, teile ich Ihnen persönlich mit, sobald ich Ihre Identität bestätigt habe und Ihnen die Schlüssel aushändige."

Der Briefbogen fiel Kitty aus der Hand und segelte von ihr unbeachtet langsam zu Boden. An ihren Vater erinnerte sie sich nur wenig. Als er starb, war sie noch klein gewesen. Unablässig drehten sich die Zahnräder in ihrem Kopf, um das wenige, was sie noch wusste, auszuspucken. Geborgenheit auf seinem Schoß, die großen Hände, die ihre kurzen, pummeligen Finger an straff gespannte Gitarrensaiten legten. Eine tiefe Stimme, die sich mit ihr über jeden Ton freute, den sie mit reichlich Hilfe aus dem Instrument lockte. In ihren Augenwinkeln sammelten sich wieder Tränen, doch diese waren der Erinnerung geschuldet, nicht dem Mist, in dem sie gerade knietief watete.

Was gäbe sie dafür, diese Geborgenheit wieder zu spüren? Wie viel besser wäre ihr Leben verlaufen, und auch das ihrer Mum, wenn er sie nicht verlassen hätte? Wäre er kein Straßenmusiker gewesen und wegen seiner Tageseinnahmen überfallen und getötet worden. Oder hätte er wenigstens ausreichend für seine kleine Familie vorgesorgt. Kitty zwang sich, aus dem Kreislauf ihrer Gedanken auszubrechen: es machte jetzt so wenig Sinn, nach dem ‚Was wäre, wenn' zu fragen, wie in all den Jahren zuvor, wenn Mums Gehalt am Fünfzehnten des Monats schon aufgebraucht war oder wenn sie beide entscheiden mussten, ob sie an einem ihrer Geburtstage entweder ins Fastfoodrestaurant essen gingen oder ins Kino.

Jetzt, wo es darauf ankam, erhielt sie seine Hilfe, ohne dass er anwesend sein musste: in Form einer Zuflucht, wo sie ihre Wunden lecken konnte und in aller Ruhe überlegen, welche Richtung sie von dort aus einschlagen wollte. Bis zu diesem Zeitpunkt, als sich ihr diese Chance bot, war ihr nicht bewusst gewesen, wie sehr sich ein eigenes Heim gewünscht hatte, das ihr ganz allein gehörte. Ein Haus wo sie tun und lassen konnte, was sie wollte, ohne jemandem Rechenschaft ablegen zu müssen. Dies war eine dieser berühmten Gelegenheiten, die niemand ungenutzt verstreichen lassen sollte, und das hatte sie auch nicht vor.

War Kittys Tatendrang zuvor lediglich ein Versuch, Zorn und Verzweiflung in einen halbwegs sinnvollen Kanal zu lenken, so hatte sie jetzt endlich einen Plan. Morgen schon konnte sie all dem hier den Rücken kehren. Dazu musste sie nur die Kanzlei in Inverness anrufen und danach gleich dorthin fahren. Die leise Stimme, die sie vor unbekannten Anwälten warnte, und davor, sich kopflos ins Ungewisse zu stürzen, erstickte sie sofort. Ein Rückzieher kam nicht in Frage.

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Die Landschaft, die an ihr vorüberzog, hatte nichts Reizvolles für Kitty. Nicht etwa, weil sie dem Auge nichts zu bieten hatte, sondern weil sie so sehr mit sich selbst beschäftigt war, dass sie nichts damit anfangen konnte. Sie bemerkte nicht, wie der Überlandbus, den sie sich als einziges hatte leisten können, durch immer dünner besiedeltes Gebiet fuhr, je näher sie den Highlands kamen. Früher hätte sie die mit Heide bedeckten Hügel und Berge bewundert, die in der Morgensonne glühten und jedem Freiheit versprachen, der sich ihrer Schönheit bewusst war und sie zu schätzen wusste.

Heute versuchte sie, in ihren abgewetzten Sitz versunken, noch ein wenig Schlaf nachzuholen, doch die warnende Stimme der vergangenen Nacht, meldete sich wieder zu Wort. Dieses Mal um einiges lauter, und mit jeder zurückgelegten Meile wurden Kittys Zweifel immer größer. In etwa einer Stunde würde sie schon vor der Kanzlei stehen, und jetzt stellte sie sich tausend Fragen. Würde sie sich überhaupt als Erbin legitimieren können? Oder vielleicht war das auch nur ein schlechter Scherz für eine Fernsehsendung, und in Inverness würde sie vor laufender Kamera bloßgestellt. Oder noch schlimmer: es war ein weiteres von Garys perfiden Spielen, mit dem Ziel, ihr erst Hoffnung zu machen und sie dann endgültig zu zerstören. Ihr Gedankenkarussell raste und überging die Tatsache, dass McLeod zuerst ihre Mutter angeschrieben hatte. Nur mit Mühe konnte sie sich davon abhalten, mitten in der Pampa auszusteigen und per Anhalter zurück zu fahren.

Warum hatte sie gestern nicht daran gedacht, Maggie um Rat zu fragen? Diese hätte ihr ohne falsche Rücksicht aufgezeigt, ob es so eine gute Idee war, Hals über Kopf alles zugunsten einer ungewissen Zukunft zurückzulassen. Kitty zog ihr Telefon aus ihrer Jackentasche und wählte die Nummer ihrer Freundin. Vielleicht hatte sie Glück, und Maggie hatte Zeit für sie. Bereits nach dem zweiten Klingeln ging sie ran: „Hey, Kitty! Alles fit im Schritt?"

Sie war so erleichtert, dass Maggie gleich rangegangen war, dass sie vergaß, mit einem lockeren Spruch zu kontern, wie sie es sonst immer hielten. Endlich war da jemand, der ihr eine vermutlich riesige Dummheit ausreden konnte. Sie fasste die Ereignisse der letzten Wochen zusammen und erzählte von dem Brief und dessen Inhalt, während Maggie zuhörte, ohne sie auch nur ein Mal zu unterbrechen. Beste Freundinnen spürten wohl, wenn es ernst war. Doch auch als Kitty geendet hatte, schwieg sie weiter.

Gerade als die auf aufgelöste junge Frau nachfragen wollte, meldete Maggie sich zu Wort: „Und du bist schon dorthin unterwegs?"

Kitty nickte und schickte ein „Ja" hinterher, als ihr klar wurde, dass ihre Freundin sie gar nicht sehen konnte.

„Was könnte dich denn schlimmstenfalls erwarten?"

Die nüchternen Fragen konnten nicht verhindern, dass Kittys Kopfkino abermals ein Szenario nach dem anderen abspielte: dass es keine neue Zuflucht gab, nur eines von Garys Spielchen. Dass das Haus eine einzige Bruchbude war, deren Sanierung sie Millionen kosten würde, die sie nicht hatte. Dass an der Adresse in Inverness kein Anwalt auf sie wartete, sondern ein psychopathischer Mörder auf der Suche nach einem neuen Opfer. Dass, auch wenn nichts davon zutraf, sie keine Arbeit fand - auch ohne Miete zu zahlen, musste sie essen und trinken. Ein Schlagloch setzte dem schlechten Film mit einem Ruck ein Ende, und Maggie nutzte die Unterbrechung des Redeschwalls: „Zieh es durch!"

„Du willst es mir nicht ausreden?!", erwiderte Kitty zweifelnd. „Aber was ist, wenn..."

Ihre Freundin unterbrach sie rüde: „Papperlapapp! Wenn du nicht damit aufhörst, findest du noch tausend Gründe, mit eingekniffenem Schwanz nach Edinburgh zurückzukehren. Das will ich dir ausreden! Was hast du denn schon zu verlieren?"

Maggie hatte recht. Mit allem. Wie fast immer. Wenn alle Stricke rissen, das Haus eine Ruine war oder die ganze Erbschaft ein Komplott, konnte sie sich immer noch an Ray wenden. Schließlich hatte sie genau das vorgehabt, bevor sie den Brief geöffnet hatte. Nur das mit dem potentiellen Psychopathen konnte, so unwahrscheinlich es auch war, zu einem Problem werden.

„Besorg dir aber vor dem Treffen noch eine Dose Pfefferspray für alle Fälle, und ruf mich heute Mittag unbedingt an! Wenn ich nichts von dir höre, verständige ich die Polizei." Es war unheimlich, eine Freundin zu haben, die Gedanken lesen konnte.

„Oi, nimm die Schuhe da runter, Mädel!" Kitty zuckte zusammen.

Die ältere Frau, die sie angesprochen hatte, klopfte zur Verdeutlichung mit ihrem Stock gegen Kittys Füße, die auf der Lehne des vorderen Sitzes ruhten. Als Kitty nicht schnell genug reagierte, stieß die Frau so kräftig zu, dass Kitty selbst beinahe vom Sitz fiel, als ihre Füße herunter rutschten. „Entschuldigung", murmelte sie. Doch die Frau ging bereits weiter nach hinten und ließ sich währenddessen in breitestem schottischen Akzent über die Jugend von heute aus.

„Was war das denn gerade?", tönte es aus Kittys Telefon.

„Ach nichts, ich sollte in diesem Teil der Welt nur besser auf meine Manieren achten."

Als sie auflegte, war das Chaos in ihrem Kopf dank Maggie verschwunden. Zuversicht und kribbelnde Vorfreude waren an seine Stelle getreten, und Kitty konnte es kaum erwarten, endlich ihr eigenes kleine Reich beziehen zu können. Ihre Zukunft war nicht mehr in ein festes Korsett aus sorgfältiger Planung und gesellschaftlichen Konventionen gezwängt - jetzt war sie voller Möglichkeiten.

2858 Wörter - 8824 gesamt bis hier (ohne Songtext, Bilder)

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