elf

»Stegi? Spielst du mit uns?«

Stegi seufzte, während die Zwillinge ihn bettelnd ansahen und sich an sein Hosenbein klammerten. Die Beiden waren fünf Jahre alt und seit gerade ein Mal einem halben Jahr hier im Heim. Ähnlich wie Stegi vor sieben Jahren waren auch sie einfach abgegeben worden. Die beiden schienen einen Narren an Stegi gefressen zu haben - als einer der Älteren im Heim war er natürlich ihr großes Vorbild - und ließen ihm kaum eine freie Minute. Zwar mochte er die Beiden, aber dennoch war es anstrengend, immer Babysitter spielen zu müssen.

»Ich kann nicht. Ich hab Küchendienst. Ihr könnt ja etwas malen gehen oder so. Oder ihr hört euch eine CD an.«

Die Beiden quengelten noch kurz weiter, gingen dann aber tatsächlich in ihr Zimmer. Stegi stand vom Esstisch, wo es eben noch Nachtisch gegeben hatte, auf und machte sich auf in die Küche, wo die Großen regelmäßig Küchendienst hatten. So auch er heute.

Beinahe genoss er es, abzuspülen und die großen Pfannen zu schrubben. Immerhin hatte er so ein bisschen Ruhe vor dem Trubel, der hier immer herrschte. Außerdem gab es für den Küchendienst hinterher immer eine Belohnung - dieses Mal war es ein Eis am Stiel, das Stegi noch in der Küche aß. Würde er damit rausgehen, würden die anderen Kinder ihm seinen Schatz sofort streitig machen.

In seinem Zimmer - das er sich mit Tobi, einem Jungen, der zwei Jahre jünger war als er selbst, teilte - setzte er sich sofort an seine Hausaufgaben.

Helga kontrollierte jeden Tag, ob er seine Übungen gemacht hatte, und würde er ihr nichts vorzeigen können, würde sie ihn nicht zu Tim lassen.

Nur wenige Minuten später kam auch Tobi ins Zimmer und setzte sich ebenfalls wortlos an seinen Schreibtisch, um seine Aufgaben zu machen. Als Helga den Kopf durch die Tür streckte, um zu kontrollieren, ob die Jungs die Zeit nach dem Essen auch wirklich für ihre Schulaufgaben nutzten, lächelte sie zufrieden.

Es dauerte kaum mehr als eine halbe Stunde, bis Stegi fertig war – selbst jetzt, in der sechsten Klasse, brauchte er selten länger als eine dreiviertel Stunde für seine Aufgaben. Er packte seinen Rucksack zusammen und ging dann zu Helgas Büro, um sich bei der Erzieherin abzumelden.

Diese begrüßte ihn mit dem herzlichen Lächeln, das jedes der Kinder seit Jahren jeden Tag von ihr zu spüren bekam.

»Stegi. Bist du mit deinen Aufgaben fertig geworden?«

Stegi nickte, setzte sich unruhig auf die Kante des Stuhls ihr gegenüber. Er wollte möglichst bald weg von hier. Er nickte zustimmend.

»Darf ich zu Tim fahren?«

Helga lächelte, nickte dann.

»Natürlich. Gleich. Tim kann uns ruhig auch mal wieder besuchen kommen. Seitdem seine Adoptiveltern ihn zu sich geholt haben, kommt er ja selbst zu Besuch kaum noch her.

Stegi nickte. Ihm war klar, warum Tim nie her kam. Das Heim war nicht schlimm oder so, es war okay, hier zu wohnen. Aber hier waren immer andere Kinder, viele kleinere auch, vor denen man selten wirklich seine Ruhe hatte. Selbst in Stegis Zimmer war immer auch Tobi. Zwar war Tobi nett, aber wenn Tim und Stegi sich zu zweit treffen wollten, bat es sich wirklich besser an, dass Stegi Tim besuchte, der bei seiner neuen Familie ein eigenes Zimmer hatte.

Außerdem fühlte es sich für Stegi irgendwie cool an, dass Tim jetzt eine ganz normale Familie hatte - ein bisschen kam es ihm dadurch, wenn er Tim besuchte so vor, als würde das auch ihn betreffen. Natürlich hatte Stegi sich enorm für Tim gefreut, als sich irgendwann herausgestellt hatte, dass das Paar, das er über ein paar Wochen hinweg kennen gelernt hatte, ihn wirklich würde adoptieren wollen. Das war etwas, was jedes der Heimkinder sich wünschte und eigentlich war Tim mit elf - so alt wie Stegi jetzt war - schon zu alt gewesen, um noch gute Chancen zu haben, eine neue Familie zu bekommen. Umso mehr hatte er sich natürlich darüber gefreut und Stegi mit ihm.

Tim hatte zum Glück in der Stadt bleiben können, wohnte nur ein paar Stationen mit der S-Bahn vom Heim entfernt und sie besuchten inzwischen auch wieder die gleiche Schule, nachdem auch Stegi endlich auf die weiterführende Schule gekommen war.

Im Heim wussten die Betreuer, wie nah Tim und Stegi sich seit dem ersten Tag gestanden hatten und dementsprechend wenig Probleme hatte Stegi, sich jeden Tag die Erlaubnis zu holen, zu Tim fahren zu dürfen. Auch Tims neue Eltern hatten Stegi von Anfang an als den besten Freund des Jungen, den sie adoptieren wollten, kennen gelernt. Tim und Stegi trafen sich fast jeden Tag, Stegi war auf fast jedem Familienausflug von Tims neuer Familie dabei, Stegis letzten Geburtstag hatten Tims neue Eltern sogar mit ihnen beiden im Schwimmbad verbracht. Stegi gehörte eben dazu und so hatte er manchmal sogar ein kleines Bisschen das Gefühl, als wäre es auch seine Familie.

Helga nickte. Wenn Stegi seine Aufgaben erledigt hatte, gab es keinen Grund, ihm nicht zu erlauben, seinen besten Freund zu besuchen. Die Erzieherin jedoch schien ihn noch nicht ganz gehen lassen zu wollen, schien noch etwas mit ihm zu besprechen zu haben.

»Noch kurz, bevor du gehst. Du weißt, dass es für Tobias momentan interessierte Pflegeeltern gibt?«

Stegi nickte. Eine Familie hatte sich vor ein paar Wochen für Tobi interessiert und sie hatten sich nun schon mehrmals getroffen, um sich kennen zu lernen. Stegi war ihnen sogar schon ein Mal begegnet, als Tobi ihnen das Heim gezeigt hatte.

»Tobi wird in zwei Wochen zu diesen Pflegeeltern ziehen.«

Stegi nickte bloß. Irgendwie war es schade, nun mit Tobi schon den nächsten Zimmerkameraden zu verlieren. Trotzdem gönnte er dem Jüngeren dieses neue Leben, das ihm dadurch möglich wurde.

»Wobei wir wieder bei dir wären. Ich weiß, dass du das Thema leid bist. Aber nur, weil die letzte Vermittlung gescheitert ist, heißt das nicht, dass du hier bleiben musst. Kaum einer wohnt schon so lange hier wie du. Stegi, es gäbe wieder Interessenten für dich.«

Überrascht blinzelte der Junge. Bis jetzt war immer wieder irgendetwas schief gelaufen und so hatte er die Hoffnung auf eine Adoption oder eine Pflegefamilie eigentlich schon fast aufgegeben gehabt. Er war jetzt elf. Noch ein paar Jahre und keiner würde sich mehr für ihn interessieren.

»Ein Pärchen, er fünfundvierzig, sie zweiundvierzig. Bis vor zwei Jahren hatten sie schon mal ein Pflegekind, das jetzt aber wieder bei seinen Eltern lebt. Wenn du willst, könntest du sie übernächstes Wochenende kennen lernen.«

Stegi nickte, jedoch schien ihm seine Unsicherheit anzumerken zu sein.

»Ich geb dir ein paar Unterlagen mit. Wenn du willst, kannst du sie ja gleich mit Tim mal durchschauen. Oder die Tage mal. Lass dir Zeit und wenn irgendetwas ist, komm zu mir.«

Stegi nahm den Ordner entgegen und bedankte sich bei der Erzieherin. Irgendwie war er nervös. Vielleicht war das seine Chance auf eine richtige Familie, wie Tim sie hatte.

»Das ist in Berlin!«

Entsetzt sah Stegi von den Blättern, die er eben durchgelesen hatte, auf. Sofort fand sein Blick Tims.

»Dann müsstest du nach Berlin ziehen.«

»Warum wollen die mich nach Berlin vermitteln?«

»Wahrscheinlich ... Ich weiß nicht. Vielleicht haben die ... ich habe keine Ahnung. Frag Helga.«

»Das heißt ... Tim, ich will nicht nach Berlin! Ich will nicht hier weg!«

Der Größere seufzte, stand vom Bett auf, auf dem sie gemeinsam saßen und begann stattdessen, im Zimmer auf und ab zu gehen.

»Aber das ist ... du willst doch eine Familie!«

»Ja, aber ... nicht in Berlin. Ich will hier bleiben. Hier ist meine Schule, und meine Freunde, und ... und du, und ... Ich will hier nicht weg.«

»Wir könnten uns ja regelmäßig schreiben und ... und in den Ferien besuch ich dich!«

Verzweifelt schüttelte Stegi den Kopf. Tim setzte sich vorsichtig wieder zu ihm aufs Bett, nahm seinen besten Freund in den Arm. Er wusste genau, wie Stegi sich gerade fühlte, spürte beinahe selbst diese Zerrissenheit. Er erinnerte sich nur allzu gut noch daran, wie sehr sie beide sich immer Pflegefamilien gewünscht hatten und wie sehr er sich gefreut hatte, als seine neuen Eltern ihn damals aufgenommen hatten. Genauso konnte er aber verstehen, dass Stegi nicht von hier weg wollte. Er wollte ja selbst auch nicht, dass sein bester Freund nach Berlin zog!

»Ach, das ist doch bescheuert! Und ich bin noch nicht vierzehn, das heißt, ich darf gar nicht selbst entscheiden, ob ich das überhaupt will!«

Tim nahm wieder etwas Abstand zu seinen besten Freund, betrachtete ihn nachdenklich.

»Aber wenn du das wirklich nicht willst ... Das Familiengericht fragt dich schon um deine Meinung. Und wenn du nicht von hier weg willst, werden die das schon berücksichtigen.«

Stegi seufzte.

»Das ist doch doof. Kann ich nicht einfach so eine coole Familie wie du bekommen?«

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