8 - Die Farben

Zwei Tage später, während derer ich kaum ein Auge zu getan hatte, war es letztendlich so weit.

Während der kalte Regen gegen die staubbedeckten Fenster der Werkstatt trommelte und die inzwischen schwefelgelben Bäume im Hinterhof sich unterwürfig unter der Wucht des Sturms beugten, hob Rita fast andächtig ihren schweren hölzernen Koffer auf die linke Werkbank.

Sie hatte mich gebeten, die Puppe von meiner Arbeitsfläche auf ihre zu heben, wobei das menschenähnliche Konstrukt aus Holz und Metall zu lang war, um auf der Werkbank zu liegen, wie auf einem harten Bett.
Die Knie baumelten über den Rand, wie die eines kleinen Kindes, das die Beine von einer Brücke baumeln ließ. Rita ließ die Schnallen an ihrem Koffer aufschnappen und hob den Deckel, um ihre Malutensilien zu enthüllen.

Acrylfarben lagen sorgfältig darin aufgereiht.
Jede Tube trug Spuren der Benutzung, Kratzer, Dellen, Markierungen mit dunklem Stift, als hätten die Farben bereits ein langes Leben hinter sich gebracht und würden nun Kraft für ihr letztes Meisterwerk sammeln.
Rita rollte ihr Etuie aus Bambus aus, um Pinsel aller Stärken zu enthüllen. Wie ihre Hände waren auch die Pinselstiele über und über mit Farbklecksen überzogen, als wären sie nur eine Verlängerung ihrer Finger.

Eine Ruhe hatte sie ergriffen, die man nur selten auf ihren Zügen sah. Beinahe schien sie in Trance verfallen zu sein, als sie die Mischpalette absetzte und die beiden Marmeladengläser voller Wasser, die sie mitgebracht hatte, aufschraubte. Schwämmchen und weitere Fläschchen, deren Inhalt ich nicht deuten konnte, setzte sie auf der Arbeitsplatte ab, bevor sie einen Moment innehielt, wie eine Dirigent, bevor er dem Symphonyorchester mit großer Geste den entscheidenden Einsatz gab.
Sie stand mit dem Rücken zu mir, als sie die Hand nach dem Gesicht der Puppe ausstreckte und ihre Finger über das Holz wandern ließ, das ich zur Grundlage des Kopfes erkoren hatte.

„Sie wird wunderschön", flüsterte Rita dann, ohne ihren Blick von der Puppe zu heben.
Sie hatte mich schon lange nicht mehr angesehen, ging mir in diesem Moment auf. Doch dann warf sie einen Blick über die Schulter und lächelte. Beinahe hätten die verräterischen Worte meine Lippen verlassen, doch ich biss sie zurück und hörte zu, wie sie ungehört in meinem Kopf verhallten.
Du bist wunderschön.

Ich war nähergetreten.

„Das hast du wunderbar gemacht, Laurence", ihre Finger tanzten über den Hals des leblosen Wesens auf dem Tisch vor uns.
Obwohl sie die meisten Maße nachträglich abgeändert hatte, war die Puppe so groß wie Rita.
Es wirkte verstörend, die Frau, die ich zusammengeschraubt hatte, neben der atmenden menschlichen Rita zu sehen.

„Ich habe nur die grobe Arbeit getan", antwortete ich, nicht auf die unfertige Puppe, sondern auf sie fixiert,
„Der Rest liegt an dir."

Unvermittelt musste ich einmal mehr an meine ungeliebten Nebenfachvorlesungen der Geschichte denken, an den Mythos des Prometheus, den selbst unser schläfriger Dozent nicht zu etwas völlig Langweiligem hatte machen können.
Der Titan hatte die Menschen aus Lehm geformt und ihnen Leben eingehaucht.
Zwar war es kein Lehm, der nun auf der Werkbank ruhte, doch meine Hände hatten das Wesen dort geformt. Nun lag es an Rita und ihren unzähligen Farben, ihm Leben einzuhauchen. Nur zusammen waren wir fähig, diese Arbeit zu Ende zu bringen und etwas noch nie Dagewesenes zu erschaffen.

Sie atmete aus, wobei sich ihre Schultern um ganze Zentimeter absenkten, als hätte sie die letzten Wochen eine unbeschreibliche Spannung in sich getragen.
Sie griff nach einer der Farbtuben und drückte ein dunkles Rot auf die Mischpalette.
Im Schein mehrerer Kerzen saß sie mit krummem Rücken da und begann zu malen, während ich die Kürbisse des Professors hinausschaffte, die inzwischen zu verrotten begonnen hatten.

Ich brachte ihr an diesem Abend heiße Suppe mit in den Keller und heizte den Ofen an, um die eisige Kälte aus den Betonmauern zu verscheuchen.
Während ich Scheit um Scheit in die knisternden Flammen schob und der Schein des Feuers über mein Gesicht huschte, betete ich, dass die Götter uns nicht strafen würden, wie sie in der Mythologie den Titan gestraft hatten.
Ich betete, dass ich nicht zu Vulkan werden würde, dem Aphrodite Modell stand für die goldene Pandora. Draußen stürmte es, als hätten die Olympier bereits ihr Augenmerk auf uns gerichtet.

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