13 - Das Ende

Laurence schüttelte sich das Regenwasser aus den Haaren, als er in dieser Nacht die Kathedrale der Stadt betrat.
Der gotische Bau mit den hohen Spitzbögen erhob sich massiv wie ein Gebirge aus dem Wall der Stadthäuser, unweit der Universität.

Es war ein leichtes gewesen, den Schlüssel aus der Sakristei zu entwenden und sich unerlaubten Zugang zu verschaffen.
Als die knarzende Tür schwer hinter ihm ins Schloss gefallen war, machte er sich auf den Weg zu einem verlassenen Beichtstuhl ganz hinten im Kirchenschiff. Seine Schritte hallten schwer in dem riesigen, eiskalten Raum, der um diese Uhrzeit verlassen vor ihm lag.

Kein Licht fiel durch die hohen Glasfenster, gegen die der schwere Regen trommelte, der die Stadt seit einigen Tagen in Beschlag genommen hatte. Einen Moment hielt er inne, den Kopf zum Hochaltar erhoben, und traf die Augen des Heiligen, der dort wachte. Regen glänzte auf seiner Haut, als er sich zu den vielen kleinen Kerzen hinunter beugte, die auf einem Gestell vor einem der Seitenaltare brannten.

Mit einem leisen Klingen landete die Münze, die er einwarf, in der dafür vorgesehenen Metallbox. Er griff nach einer neuen Kerze, hielt sie mit immer noch von der Grabeserde schmutzigen Fingern über die Flammen und zündete eine Kerze an. Einen weiteren Moment starrte das fahle Gesicht des jungen Mannes in die kleine helle Flamme, di er zum leben erweckt hatte. Wie sterblich er doch war, obwohl er davon geträumt hatte, ein Prometheus zu werden.

Hast du dich schon einmal gefragt, wie schön wir sein könnten?, hallte es tonlos in seinem Kopf wider, als er den Beichtsuhl aufsperrte und sich auf die enge Bank setzte.
Einen Moment starrte er hinaus in die leere Kirche, bevor er sich dem kleinen Fenster in der Trennwand zuwandte, sich räusperte und seine an niemanden gerichtete Beichte begann.

Dann, nach Stunden oder Minuten, erhob er sich wieder, trat zurück in die Ehrfurcht gebietende Stille der Kirche, zog seinen Schlüssel hervor und sperrte die andere Seite des Beichtstuhls auf.
Das Dunkel dahinter schien undurchdringlich, doch Laurence wusste, was sich dort verbarg und zerrte den Körper unzeremoniell ins Freie.

Er schleifte die Puppe durch den beinahe schon verflogenen Geruch von Weihrauch über die steinernen Fliesen der Kathedrale hinaus zu seinem Rad.
Er band den Körper hinter sich auf dem Gepäckträger fest und scherte sich nicht darum, dass die Arme und Beine der Puppe über die Teerstraße schliffen, als er durch den trüben Schein der Straßenlaternen die kleinen Wege hinaus zum Friedhof fuhr.
Mehrmals musste er anhalten, neue Positionen für die Frau finden, die nie gelebt hatte und mit das wichtigste Beweisstück in diesem Fall war. Er schleifte sie durch die schmiedeeisernen Tore und über den Kiesweg, ganz nach hinten, wo die alten Grabsteine standen, deren Inschriften man nicht einmal mit dem besten Auge noch entziffern konnte.

Keuchend warf er Spaten und Puppe auf die Erde.
In diesen Teil des Friedhofs kamen nur noch wenige Menschen. Er hoffte inständig, dass niemand das frische Grab hinterfragen würde. Hölzerne Knochen barsten im Zwielicht des neuen Tages, als er sie an der Kante des Grabsteins zerbrach. Acrylfarbe und Wachs bröselten unter seinen Fingernägeln, als er sie vom Gesicht der Puppe kratzte, bis man sie nicht mehr mit einem echten Menschen verwechseln konnte.

Schaufel um Schaufel kalter schwarzer Erde schleuderte er in die Luft, bis er ein Loch ausgehoben hatte, das tief genug war, um einen Körper zu verschlucken.
Laurence begrub sein Meisterwerk, Ritas schönstes Kunstwerk, in einer dunklen Oktobernacht zwischen den Bäumen im ältesten Teil des Freidhofs.
Eine schwarze Katze musterte ihn, während er die Puppe voller Wut in das Loch warf und sie noch einen Moment ansah, gefangen von den viel zu echten Augen.
Dann nahm er die Schaufel wieder auf und füllte das Grab der Puppe mit kühler Erde.
Der Vollmond ging gerade unter, als er schweißüberströmt und schmutzig über dem Grab stand.

„Hat es funktioniert?", fragte die Stimme einer jungen Frau, die sich ihm unbemerkt über die mit Raureif überzogene Erde genähert hatte. Laurence lächelte müde.
Er stieß den Spaten tief in die Erde, als er sich zu Rita umwandte, die wie aus Schatten gegossen hinter ihm stand und in der Kälte die Hände aneinander rieb.
Sie hatte sich einen neuen Schal gekauft, der ein paar Farbtöne heller war, als der, mit dem man die Puppe begraben hatte.
Sie hatte ihren neuen Lederschuh bereits mit einer aufgemalten Mondsichel geschmückt.

„Beide Puppen sind zerstört", versprach er leise, griff nach ihren Fingern und drückte diese sanft, während die ersten Sonnenstrahlen eines grauen ersten Novembers über die bunten Baumwipfel krochen,
„Du bist frei."

Ihr Plan war aufgegangen.
Niemand, und erst Recht nicht ihre schreckliche Familie, hatte eine Ahnung, dass Rita noch lebte.
Was für ein Glück, dass sie so viel Zeit miteinander verbracht hatten, dachte er. Was für ein Glück, dass er sie konfrontiert hatte und sie letztendlich in der Werkstatt des toten Professors den Mut gefunden hatte, sich ihm anzuvertrauen.

Laurence hatte sich stark zusammennehmen müssen, um ihrem Vater auf der Beerdigung nicht die Nase zu brechen, wie dieser es mehrmals mit Rita getan hatte.
Sie atmete aus, schloss die Augen und vergrub den Kopf an seiner Schulter, wo noch der Weihrauchgeruch der Kathedrale im warmen Stoff haftete.

Hast du schon einmal daran gedacht, wie schön wir sein könnten?, hatte sie ihn gefragt.

Nein, war seine sachliche Antwort, weil wir nicht schöner sein können. Knochen kann man nicht biegen, nicht abschleifen, Rita. Sie sind nicht aus Holz oder Metall.

Würdest du meine Knochen zurecht feilen, wenn sie hölzern wären?, hatte sie gefragt.
Auch Jahre später erinnerte er sich noch klar daran, als er seinem Sohn die unglaubliche Geschichte erzählte.

Niemand würde deine Knochen zurecht feilen, hatte Laurence geflüstert, was für ein absurder Gedanke. Wenn Menschen nicht mehr schön genug für einander sind, dann wird nichts jemals schön genug für sie sein. Hölzerne Knochen ändern nichts an deiner Wahrnehmung. Sie verrotten mit der Zeit, sie brechen zusammen und verschleißen, weil sie nicht lebendig sind.
Er hatte ihre farbbeklecksten Fingerknöchel geküsst.
Niemand kann die Schönheit eines lebendigen Körpers übertreffen, Rita. Vor allem nicht die deine.

Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top