12 - Die Zeitung

Druckerschwärze verewigte Ritas Unglück. Ihr Gesicht erschien in jeder Nachrichtenshow des Landes, flackerte über Röhrenfernseher und erhellte die gelangweilten Gesichter der von der Arbeit müden Menschen. Eine Tragödie, dass eine so junge hübsche Frau sich umgebracht hatte, sagte man. Psychisch instabil, nannte man sie in routinierten, professionell distanzierten Stimmen, die die Wohnzimmer der Bevölkerung, ihre Autos und Cafés erfüllten.

Die Dame, die Laurence seine Kaffeebohnen verkaufte, schüttelte mitleidig den Kopf, als er sie eine Woche später besuchen kam.
Der Geschichtsdozent, dem in seinen Vorlesungen immer ein Großteil der Studenten einschlief, hielt eine Schweigeminute für die Kunststudentin ab, die keinen einzigen seiner Kurse besucht hatte. Auch Laurence Professoren nahmen öffentlich Anteil, obwohl sie gar nicht wissen konnten, dass der beste Freund des toten Mädchens in Mitten ihrer Studierenden saß.

Der Gärtner, der die Narzissen zu Füßen der Madonna in der Friedhofskapelle gelegt hatte, wunderte sich, den jungen Mann mit dem dunklen Mantel nun immer öfter zwischen den hohen Lärchen herumstreunen zu sehen.
Oft saß er stundenlang in der Kapelle und starrte die mit dem Heiligenschein gekrönte Puppe an, als würde er sich von der Gottesmutter Antworten erhoffen.

Das alte Ehepaar, das für die Reinigung des Seziersaals an der Universität verantwortlich war, schnatterte unaufhörlich vor sich hin, während sie ihrer Arbeit nachgingen. Das Thema war nun nicht mehr der Wahnsinnige, der in die medizinische Fakultät eigebrochen war, sondern das Mädchen, dessen Gesicht durch die Lokalnachrichten ging, als wäre sie eine gesuchte Verbrecherin.

Der Besitzer der schwarzen Katze, die Laurence zu Tode erschreckt hatte, las es kopfschüttelnd in der Zeitung, während das Tier sich miauend an seine Hosenbeine schmiegte und endlich gefüttert werden wollte. Die jungen Männer in seiner Studentenverbindung wussten, dass er Rita gut gekannt hatte und nahmen ihn mehrmalsauf Ausflüge mit, um ihn aus den trübe Gedanken zu reißen, die ihn in Beschlag genommen hatten.

Die Polizei stellte viele Fragen, von denen aber die meisten ins Leere führten. Sobald feststand, dass Laurence Rita nichts angetan hatte, steckten die Beamten ihre Notizbücher wieder ein und gingen ihres Weges, aber nicht, ohne ihm zum Abschied noch einmal die Hand zu schütteln und ihr Beileid zu bekunden.

Ritas Familie kam in die Stadt, ein ganzer Clan, der vom anderen Ende der Schweiz anreiste, um der Beerdigung ihrer so unerwartet verstorbenen Tochter beizuwohnen. Die düsteren Augen ihrer Mutter lasteten schwer auf Laurence.
Es wirkte fast, als hätte die Mutter Verdacht geschöpft, als könnte sie sehen, wie er unter der Schuld innerlich bröckelte, ohne etwas dagegen tun oder gar über die Ungeheuerlichkeiten zu sprechen, die geschehen waren.

Als man einen Sarg aus Kirschholz durch die Straßen trug, folgten ganze Scharen Studenten dem Zug, denn obwohl Rita sich im letzten Monat immer mehr von der Außenwelt abgekapselt hatte, hatte das hübsche Mädchen so viele Freunde in der Stadt gehabt.
Der Schock über ihren Suizid band die Menschen zusammen, ließ sie mit bleichen Gesichtern und stummen Gebeten auf den Lippen hinter den Sargträgern hertrotten.

Laurence fand sich ganz am Ende des Zuges wieder. Er hatte angeboten, mit Ritas Vater, ihrem Onkel und ihren Cousins den Sarg zu tragen, war aber harsch abgewiesen worden. Die gesamte Familie schien zu ahnen, dass er mehr wusste, als er zugab. Vielleicht waren sie auch nur wütend auf ihn, weil er die Zeichen nicht erkannt hatte, weil er nicht rechtzeitig eingeschritten war, um Rita vor sich selbst zu retten.

Mit seinem schwarzen Regenschirm stand er abseits, während sie den Sarg in der feuchten Erde versenkten und das Kreuzzeichen über ihrem Grab schlugen.
Rosen wurden hineingeworfen, doch als Laurence vortrat, war es keine der teuren Blumen, die ihren Weg aus seiner verkrampften Hand hinunter auf das Kirschholz fand.
Er hatte einen Zweig ihres Lindenbaums mitgebracht, der wie ein nasser Strahl Sonnenlicht wirkte im Rot der Rosen. Man sah ihn seltsam an, als er zurücktrat und Erde über den vom Regen nassen Sarg warf.

Dann zog er mit steinernem Gesicht den Mantel fester um die Schultern und verließ über den Lärchengesäumten Weg und an der Kapelle vorbei, den Friedhof.
Die Blicke der anderen Beerdigungsgäste folgten dem genialen jungen Student, den sie alle insgeheim schon zuvor für etwas wahnsinnig gehalten hatten und dem an diesem Tag von mehreren wohlwollenden Tanten zu einer Therapie geraten wurde.

Niemand wusste, wieso sich die strahlende Rita umgebracht hatte. Niemand, bis auf Laurence.

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