1 - Das Mädchen

Der schrecklichste Oktober meines Lebens begann mit schwarzem Kaffee und mathematischen Gleichungen, die um einiges zu fortgeschritten für mich waren. So fortgeschritten sogar, dass ich mich an jenem schicksalhaften ersten Oktober in die Universitätsbibliothek begab, um am Exposé meiner Abschlussarbeit zu schreiben, anstatt mich mit Wärmeleitern auseinanderzusetzen.

Ich erinnere mich gut daran, wie ich Rita das erste Mal sah.
Sie saß im Schneidersitz vor der Université de Genève auf einer dunkelblau lackierten Bank und las in einem dicken Buch, während die Nachmittagssonne langsam golden wurde und die Schatten immer mehr in die Länge gingen, wie Wasserfarbe, die nach und nach verlief.
Sie war nicht unbedingt auffällig, nur eines von vielen schönen Gesichtern, eines, das man kurz in der U-Bahn traf, für eine Sekunde bewunderte und an das man sich dann nie wieder erinnerte.
Wahrscheinlich wäre sie mir gar nicht aufgefallen, wenn sie nicht über vier Stunden dort gesessen wäre, während ich mich zwischen den unendlich vielen Bänden der Bibliothek direkt gegenüber von ihrer Bank mit Pneumatik und Hydraulik auseinandersetzte.

Als ich an diesem Abend letztendlich nachhause ging, führte mich mein Weg an ihrer Bank vorbei, wo sie gerade ihre Sachen zusammenpackte. Wir kannten uns nicht, aber sie lächelte mich trotzdem kurz an. Schüchtern, reflexartig.
Nur einen Moment lang nahm sie mich wahr und trotzdem fühlte ich mich mit diesem seltsamen Mädchen, das Stunden lang unter diesem einen Baum vor der Bibliothek gesessen und gelesen hatte, ohne aufzustehen oder gar mit Kommilitonen zu sprechen, verbunden.

Während ich tagtäglich auf meine Klausuren lernte, saß sie auf ihrer Bank, aß ihre Äpfel und zeichnete ab und zu irgendetwas auf einen Skizzenblock.
Jedes Mal, wenn mein Kopf eine Pause von den physikalischen Rechnungen benötigte, die ich mit schwarzer Tinte in meine unordentlichen Hefte schrieb, konnte ich zum Fenster hinaussehen und mir ein Lächeln nicht verkneifen.

Es war schön, dass sie da war, fand ich. Ich fühlte mich in der neuen Stadt immer noch fremd, obwohl ich mich inzwischen mit einigen Studenten regelmäßig verabredete.
Doch keiner von ihnen war so verlässlich in der Bibliothek - oder sonst irgendwo nahe der Universität - wie dieses Mädchen, das den exakt gleichen Lernrhythmus zu haben schien wie ich.
So lernte ich sie also kennen, zwischen Hydraulik Gleichungen und der gerade noch warmen Sommersonne.

Durch meine vielen Stunden in der Bibliothek sah ich dieses anfangs fremde Mädchen öfter als meine Familie oder einige meiner engsten Freunde.
Ab und zu kamen wir für ein paar Sätze ins Gespräch und ihre aufgeweckte und fröhliche Art gaben mir das Gefühl, willkommen und gerne gesehen zu sein.
Mir wurde erst später klar, dass sie mich wohl durch das offene Fenster gesehen haben musste, wie ich Tag ein Tag aus über meinen Büchern brütete.

Eines Nachmittags beschloss ich, mich auf eine der angrenzenden Bänke zu setzen, um vielleicht ein Gespräch mit ihr zu gewinnen. Ich sehe noch ganz klar vor mir, wie sie mir zuwinkt.
Wir sprachen über die Werke, die sie analysieren musste - sie studierte Kunst - und letztendlich setzte sie sich zu mir und nahm sich die Zeit, mir die verschiedensten Pinselstriche und Bleistifttechniken zu erläutern, obwohl ich in meiner Arroganz so oft den Kopf über die Kunststudenten und über so ziemlich jeden geschüttelt hatte, der sich nicht mit einer Ingenieurswissenschaft oder gar Medizin befasste.

Und so redeten wir über Gott und die Welt, während Kommilitonen kamen und gingen und die Blätter über unserem Kopf rauschten.
Wenig verwunderlich war ich kurz darauf Hals über Kopf in Rita verliebt.

Diese Stunden gehören zu den wertvollsten Erinnerungen, die ich an sie und unsere Zeit in Genf habe.
Ich wünschte nur, sie wären ungetrübt geblieben, unberührt von den Schatten der Ereignisse, die diesen friedlichen Stunden folgen sollten.

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