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"Taylor!" schrie jemand wie aus weiter Ferne. "Taylor, stopp!" Jemand riss mich grob am Handgelenk rum.
"Was zur Hölle? Autsch!" schrie ich. Langsam fokussierte sich mein Blick und ich erkannte Jesse, der vor mir stand.
"Spinnst du eigentlich?" fragte er mich völlig ruhig.
"Ehm, nein?!" meinte ich ein wenig motzig und leicht irritiert. Mein Arm tat wirklich weh von seinem festen Griff, da konnte wohl jemand seine Götterkräfte nicht richtig einschätzen.
"Ich glaube schon. Erst hältst du hier ein nettes Pläuschchen mit einem Mantikor. Einem Mantikor! Und dann bist du drauf und dran durch ein Höllentor zu marschieren?"
"Ehm...", ein wenig sprachlos schaute ich ihn an. "Ich wollte..."
"Ja, was wolltest du?" Jesse zog gekonnt seine rechte Augenbraue hoch und musterte mich mit dunklen Augen, die wie Gewitterwolken aussahen. "Hast du überhaupt eine Sekunde nachgedacht? Das Tor führt direkt in die Hölle!"
"Er wusste wer meine Mutter ist", unterbrach ich sein Geplänkel.
Jesse schwieg. "Aber du kannst doch nicht einfach Hals über Kopf durch ein Höllentor springen", meinte er ziemlich ruhig.
"Weißt du wie unbedingt ich es wissen will? Ich weiß nicht woher ich komme, ich weiß nicht was ich bin, ich weiß ja nicht einmal wer ich bin!"
Jesse seufzte und kam zu mir rüber und nahm mich sanft in seine Arme: "Egal, wer deine Mutter ist, das hat nichts, überhaupt gar nichts, damit zu tun wer du bist. Du bist Taylor. Schusselig, loyal, sarkastisch, manchmal ziemlich launisch, und die beste Freundin, die man sich wünschen kann."
Verdutzt über seine Rede blinzelte ich ihn an. "Wow, das hast du aber..."
Weiter kam ich nicht, denn Jesse' Gesicht war auf einmal so nah an meinem und seine wunderschönen Augen schienen sich gerade zu in meine zu bohren. Mir stockte der Atem und mein Herzschlag beschleunigte sich zu einem Galopp. Und sein Gesicht kam immer näher.
Kurz vor meinem Gesicht hielt er inne und sah mir so tief in die Augen, dass mein Herz förmlich aussetzte. Und dann trafen seine Lippen auf meine.
Seine Mund presste sich fordernd auf meinen, als wollte er all das in einem Moment nachholen, was wir in den Jahren, in denen wir uns nicht gesehen hatten, verpasst hatten. Er war damals schon ein verdammt guter Küsser gewesen, aber als Gott...
Der Kuss wurde sanfter und zärtlicher. Meine Lippen schienen sich seinen förmlich anzupassen, als wären sie perfekt für einander. Er umfasste meinen Kopf fast schon vorsichtig mit seinen Händen. Und in meinem Bauch begann es zu kribbeln.
Doch auf einmal wurde mir vollkommen bewusst, was wir da taten. Er war Jesse, mein etwas eingebildeter Exfreund und er hatte eine Freundin! Ich riss mich von ihm los und suchte in seinen Augen nach etwas, dass das was gerade passiert war erklären lies.
"Aber du... was ist mit Fyra?" fragte ich ihn völlig verwirrt.
"Vergiss Fyra", meinte er nur, als wäre sie ihm völlig egal. "Komm wieder her!" Er grinste mich mit seinem schnuckeligem Lächeln an. Ich schüttelte nur den Kopf. Wie gern würde ich wieder zurück in seine Arme, aber nachdem was beim letzten Mal passiert war als wir zusammen gewesen waren, ging das nicht.
"Du weißt dass das nicht geht!" sagte ich zu ihm.
Er fuhr sich mit der Hand durch seine wunderschönen Haare. "Es wird nichts passieren, Ty. Und wenn, ich halte das aus. Ich bin jetzt ein anderer als damals."
Ich schüttelte nur den Kopf. "Du weißt genau was passiert ist und es wird wieder passieren. Außerdem solltest du erst mal mit Fyra klären, was zwischen euch ist. Ich meine sie ist deine Freundin, oder nicht?"
Er seufzte. "Du hast wohl recht. Aber ich werde mich von ihr trennen. Ich möchte dich, Ty. Das wollte ich schon immer, aber du warst verschwunden und ich konnte dich nirgends finden. Weißt du wieso ich überhaupt in Aletheias Wald war? Ich wollte dich finden."
Ich schluckte schwer. "Jesse..."
"Du brauchst jetzt nichts zu sagen. Überlege es dir einfach. Ich werde warten."
Langsam wanderten wir schweigend neben einander her zurück zu unserem Lager und zurück zu Wonder. Als wir ankamen, fanden wir Wonder tief fest schlafend in ihrem Zelt vor. Den Göttern sei Dank trübte der Schlaf ihre Gefühle, sodass sie nicht über mich einbrachen. Und im Ernst, ich hatte gerade auch definitiv genug mit meinen eigenen Gefühlen zu tun.
Immer noch schweigend setzten wir uns nebeneinander an das fast schon verloschene Lagerfeuer. Und Jesse tastete mit seiner Hand nach meiner.
"Was sollen wir jetzt nur machen?" fragte ich ihn leise.
"So wie ich das sehe haben wir zwei Möglichkeiten", antwortete er ebenso leise. "Nummer eins: Wir folgen unserem Plan wie besprochen und suchen Circe auf, die Kaleb und mich erst einmal massakrieren wird, so wie sie uns Männer hasst, und versuchen dann die längst verstorbene Theresia Svenson zu kontaktieren, von der wir nicht einmal wissen, ob sie überhaupt etwas weiß", deklarierte er.
"Oder?" fragte ich. Wenn ich ehrlich war, hörte sich Möglichkeit Nummer eins nicht sonderlich gut an.
"Oder wir gehen durch die Hölle. Suchen einen Mantikor und bekommen vielleicht, falls wir davor nicht jämmerlich drauf gehen, die Antworten, die wir suchen. Nur das wir dann mit fast hundertprozentiger Wahrscheinlichkeit in der Hölle festsitzen werden", meinte er. "Und? Was ist dir lieber?"
Ich schloss erschöpft die Augen. Das alles sah so aussichtslos aus. Kennt ihr das Gefühl so richtig ausgebrannt zu sein und einfach nicht mehr weiter zu wissen? So fühlte ich mich in diesem Moment. Klar, mir war ja schon bewusst gewesen, wie unwahrscheinlich es war, dass wir einen Erfolg aus der Mission tragen würden, aber so richtig vollkommen klar, wurde mir das erst jetzt.
Meine Augen wurden langsam schwer, sodass ich langsam aber sicher weg döste. Doch ich hatte in diesem Moment das beklemmende Gefühl irgendetwas übersehen zu haben. Irgendetwas verdammt Wichtiges.
Am nächsten Morgen kitzelte mich die frühe Morgensonne aus dem Schlaf. Als ich mich langsam aufraffte, und mich müde blinzelnd umschaute, bemerkte ich das Jesse nicht mehr neben mir lag. Ich rappelte mich auf. Meine Knochen taten vom harten Untergrund verdammt weh und ich war mir ziemlich sicher, dass ich ein paar blaue Flecken von kleinen Ästen, die in meine Haut gepickt hatten, bekommen würde. Ich blickte mich genauer um. Von Jesse war jedoch weit und breit keine Spur. Anscheinend wurde es normal, dass er ab und zu mal unauffindbar war.
Ich ging rüber zum Zelt um nach Wonder zu sehen. Sie schlief noch tief und fest. Und ich beschloss es dabei auch zu lassen. Ich hatte definitiv keine Lust auf die Welle der Traurigkeit, die mich wieder überkommen würde sobald sie aufwachte.
Da ich im Moment nichts besseres zu tun hatte und mein Magen knurrte, schnappte ich mir einen Apfel aus meinem Rucksack und schlenderte in Richtung Wald, um mir ein Örtchen zu suchen, an dem ich mich ein bisschen frischmachen konnte.
Im Ernst ich musste dringend meine Zähne putzen, die fühlten sich nämlich an als würden Haare auf ihnen wachsen. Echt widerlich. Außerdem musste ich irgendwie dieses beunruhigende Gefühl loswerden, dass sich in mir aufgestaut hatte. Und nein, damit meine ich nicht dass ich verdammt dringend auf die Toilette musste, obwohl das zugegebenermaßen auch stimmte, nein, ich hatte irgendwie seit gestern Abend ein komisches Gefühl, als würde etwas nicht stimmen. Ich hatte die leise Hoffnung, dass ich dieses komische Kribbeln im Bauch bei einem kleinen Spaziergang durch den ruhigen Wald wegbekommen würde.
Ein Stückchen den Hügel hinauf fand ich schließlich eine kleine Quelle, an der ich mein Wasservorrat auffüllte. Nachdem ich meine Zähne endlich geputzt hatte, versteht sich. Ich hatte jedoch bereits nach den ersten paar Schritten, die ich den Hügel hinaufgestolpert war, bemerkt, dass das Pfadfinderleben absolut nichts für mich war. Über die erste Wurzel, die ein kleines bisschen am Boden versteckt lag, war ich mit hohem Bogen darüber gefallen. Jetzt zierte eine große Schramme meine rechte Wange. Jedenfalls fühlte es sich so an. Ich hatte ja nicht einmal ein Spiegel hier und wahrscheinlich war das auch besser so, denn in meinen Haare konnten Vögel bestimmt schon Nester bauen.
Erschöpft von der ganzen Tortur der letzten Tage lies ich mich auf den Boden sinken und machte mich erst mal ein bisschen frisch. Gerade als ich mir einen Schwall Wasser ins Gesicht klatschte, fiel es mir so siedend heiß ein, dass ich gerade wieder aufsprang, als wäre ich in einen Ameisenhaufen gesessen.
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