11*

Zögernd hielt ich vor der Eingangstüre des Dions inne. Die Geschehnisse saßen mir immer noch in den Knochen, doch ich holte einmal kräftig Luft, betete zu den Göttern, dass Jesse nicht auch noch heute Abend da sein würde, und trat ein.

Im Gegensatz zu gestern, war die Bar heute fast leer. Eine willkommene Abwechslung für mich. Ich sah Med auf den ersten Blick. Sie saß im vorderen Teil der Bar und winkte mir freudig zu. Ihr gegenüber saß ein Typ mit schwarzen Haaren, mehr konnte ich nicht erkennen, da er mir den Rücken zu wandte.

„Hallo", begrüßte ich die Beiden und reichte dem jungen Mann ganz förmlich meine Hand. „Ich bin Taylor."

„Hey, ich bin Kaleb", meinte er. Ich musterte ihn. Eines musste ich ihm schon einmal lassen, er sah verdammt gut aus. Seine schwarzen Haare passten perfekt zu seinem leicht gebräunten olivfarbenen Teint. Seine Augen waren moosgrün und funkelten mich amüsiert an. Mist, ich hatte ihn wohl angestarrt. Ich riss meinen Blick los von ihm und setzte mich neben Med.

„Also du stammst von Athene ab?" fragte ich, um die Stille, die sich über unseren Tisch gelegt hatte, zu unterbrechen.

„Ja, Kaleb ist ein ganz Schlauer", meinte Med und antwortete damit für Kaleb.

„Sie ist meine Mutter", sagte Kaleb. „Also worum geht es? Med hat ein ziemliches Geheimnis daraus gemacht." Er lächelte mich freundlich an und er hatte ein ziemlich süßes Lächeln. Ich fragte mich, wie Med ihn dazu bewogen hatte, mir zu helfen.

Ich kramte in meiner Tasche nach der Papyrusrolle und legte sie vor ihn auf den Tisch. Er nahm sie und rollte sie vorsichtig auf. Seine Augen huschten nur so über die Seite. „Ein Rätsel?" fragte er schließlich.

„Ja, kannst du es lesen?" fragte ich ein wenig erstaunt.

„Teilweise. Ein paar der Hieroglyphen kenne ich. Doch einige sind mir nicht bekannt. Das ist merkwürdig", antwortete er mir. „Ich kenne eigentlich alle Hieroglyphen. Dachte ich zumindest."

„Bist du etwa ein Experte für Ägyptologie?" fragte ich interessiert.

„Kann man so sagen. Es ist eines meiner Studienfächer", sagte er.

„Du studierst?" meinte ich erstaunt. Es gab wirklich nicht viele Halbgötter, die nach ihrer Ausbildung in Olympus ihre Zeit lieber in der Menschenwelt verbrachten.

„Ja", meinte Kaleb und grinste über meinen erstaunten Gesichtsausdruck. „Als Kinder der Weisheit ist es unsere Pflicht so viel Wissen, wie wir können anzusammeln und das können wir am besten, wenn wir dort suchen, wo noch nicht gesucht wurde."

„Okay", eine bessere Antwort viel mir auf die Schnelle wirklich nicht ein. Aber dieser Mann fing an mich zu interessieren.

„Kennst du das vollständige Rätsel?" fragte er.

„Ja." Ich nahm die Schriftrolle und las ihm das Rätsel vor. Er hörte mir stillschweigend zu und musterte mich dabei so intensiv, dass ich natürlich rot wurde. Als ich geendet hatte, überlegte er kurz und ich sagte: „Eine Bekannte meinte, dass mich meine Mutter, wer immer sie sein mag, mit dieser Schriftrolle auf eine Mission schicken würde."

Kaleb hob den Blick. „Ja, das denke ich auch. Hast du irgendwo gelernt Hieroglyphen zu lesen?"

„Nein", sagte ich. „Ich weiß es auch nicht, aber ich konnte sie einfach lesen. Für mich war es, als wären die Hieroglyphen, die auf der Papyrusrolle abgedruckt sind, einfach eine ganz normale Schrift, nur etwas schnörkeliger."

"Okay. Das ist ziemlich merkwürdig. Das Papyrus, die Hieroglyphen, alles das sind Merkmale der altägyptischen Kultur. Die Tatsache, dass du die Hieroglyphen überhaupt lesen kannst, verwundert mich sehr. Du bist schließlich eine griechische Halbgöttin, wenn man es so sagen will. Hast du jemals versucht altgriechisch zu lesen?"

„Ja, na klar." In der Ausbildung war das Gang und Gebe. Fast alle Lehrbücher waren in der alten Sprache gedruckt.

„Und du hast sie auch ohne Probleme lesen können?" fragte er weiter.

„Ja, natürlich", meinte ich. „Meinst du etwa ich stamme gar nicht von unseren Göttern ab?"

„Ich weiß es nicht. Wir wissen schließlich nicht einmal, ob es wirklich noch andere Götter gibt, außer den unseren. Aber es wäre eine Erklärung, warum du die Schrift dieser Kultur lesen kannst. Ich habe noch von keinem anderen Halbgott gehört, der eine alte Sprache außer altgriechisch einfach so beherrscht hat."

„Hm, ich weiß auch nicht. Das ist so verwirrend", meinte ich. Mein Magen grummelte vor dem unguten Gefühl, dass Kaleb die Wahrheit sagen könnte.

„Das kriegen wir schon hin", sprach Med mir Mut zu.

„Was meinst du zu dem Spruch?" wandte ich mich wieder an Kaleb.

„Ich muss darüber nachdenken. Aber es hört sich so an, als würde deine Mutter deine Hilfe brauchen. Als wäre sie irgendwo gefangen und könne sich nicht selbst befreien. Und das ist auch sehr merkwürdig. Es würde doch auffallen, wenn einer unserer Götter vom Olymp scheinbar spurlos verschwinden würde. Und ein Streit zwischen den Göttern würde auch sofort auffallen. Von dem her glaube ich nicht, dass deine Mutter eine olympische Göttin ist."

„Was sollte sie sonst sein?" fragte ich erstaunt. „Ein Titan kann sie wohl kaum sein, die sind schließlich seit Ewigkeiten im Tartaros gefangen."

„Ehrlich gesagt, ich weiß es nicht. Aber ich würde dir sehr gerne helfen, Taylor. Wie wäre es, wenn wir uns einfach übermorgen noch einmal treffen, dann kann ich in Ruhe darüber nachdenken und einige Nachforschungen anstellen."

„Das wäre toll", meinte ich. Ich hatte noch nie von anderen Göttern, als denen aus der griechischen Mythologie gehört, aber in meiner Welt war so ziemlich alles möglich. Aber der Gedanke allein, nicht von den Olympiern abzustammen, riss mir den Boden unter den Füßen weg. Das würde alles verändern.


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