VERSORGT.

„So, Frau Maler dann haben sie es geschafft" Ich öffne meine Augen. Wo bin ich? Raphael sieht mich an. Neben ihm steht eine Arzthelferin. Ich hebe meinen Kopf. Ich bin immer noch in diesem Zimmer. Immer noch auf der Liege. Es war kein Traum.

„Wie fühlen Sie sich?", fragt die Arzthelferin.

„Gut", sage ich.

„Warten Sie, ich helfe Ihnen beim Aufstehen", sagt sie und legt ihre Hand um meinen Oberarm. Langsam setze ich mich auf. Das Blut rauscht kribbelnd durch meinen Körper. Langsam rutsche ich an die Kante und stelle meine Beine auf den Boden.

„Geht das?", fragt sie. Ich nicke. Raphael legt seinen Arm um mich.

„Auf Wiedersehen und gute Besserung", sagt sie.

„Auf Wiedersehen", sage ich. Raphael bringt mich zum Auto und öffnet mir die Türe. Ich steige ein und lehne meinen Kopf gegen die Kopfstütze.

„Ich bringe dich zu mir", sagt er. Zu ihm? Meine Schmetterlinge sehen mich verdutzt an. Er bringt mich zu sich nach Hause? Ein paar flattern mit den Flügeln.

„Danke", flüstere ich und schließe meine Augen. Ich bin so müde. So unendlich müde.

„Hannah, wir sind da", flüstert Raphael neben mir. Ich öffne meine Augen. Er parkt vor einem grauen Haus. Hier wohnt er? Ich war noch nie bei ihm Zuhause. Raphael öffnet mir die Türe und hilft mir aus dem Auto. Er legt den Arm um mich. Zusammen gehen wir den gepflasterten Weg zur Haustüre.

„Wir müssen in den ersten Stock. Schaffst du das?", fragt er und schließt die Haustüre auf.

„Ja, ich glaube schon", sage ich und steige langsam eine Stufe nach der anderen nach oben. Mein Herz klopft mit jeder Stufe schneller. Raphael kramt nach seinem Schlüssel. Ich stehe neben ihm vor seiner Wohnung und atme einmal tief. Er schließt die Türe auf und schiebt mich in die Wohnung. Sofort steigt mir sein Haselnussduft in die Nase. Ich liebe diesen Duft. Es riecht nach Geborgenheit. Sicherheit. Nach ihm.

„Bist du müde?", fragt er.

„Ja", sage ich ehrlich. Er nimmt meine Hand und zieht mich durch den Gang in sein Schlafzimmer. Hier ist der Haselnussduft intensiver. Er berauscht meine Schmetterlinge und sie taumeln in der Luft. An der Wand steht ein Bett, daneben ein kleiner Schrank. Unter dem Fenster steht ein Sessel und an der Wand ist ein kleiner Schreibtisch. Es ist ordentlicher als ich dachte.

„Du ruhst dich aus und ich hole deine Sachen aus dem Camp, okay?", fragt er und deutet auf sein Bett.

„Okay", sage ich.

„Willst du dich umziehen?", fragt er und geht zu seinem Schrank.

„Ja", sage ich. Er öffnet den Schrank und kramt darin. Ich spüre die Flyer unter meinem Shirt. Mist.

„Ich glaube nicht, dass dir meine Hose passt", seine Stimme klingt dumpf, er redet in den Schrank.

„Dann nehme ich nur ein Shirt", sage ich und ziehe die Flyer hervor. Wohin damit? Schnell bücke ich mich und lege sie unter sein Bett.

Raphael dreht sich um. Das war knapp. Er kommt auf mich zu und hält sich ein schwarzes Shirt vor den Körper.

„Wäre das okay für dich?", fragt er.

„Ja", sage ich und nicke.

„Okay, dann sehen wir uns später", sagt er und küsst mich auf die Stirn. Er verlässt das Schlafzimmer. Ich sehe ihm nach.

„Raphael?", frage ich. Er bleibt stehen und dreht sich zu mir.

„Danke", sage ich. Er lächelt und verlässt die Wohnung. Die Türe fällt ins Schloss und sofort ist es still. Die Stille breitet sich in der ganzen Wohnung aus. Mein Herz klopft. Ich stehe in seinem Schlafzimmer. In Raphaels Schlafzimmer. Raphael Russ. Ich kann es selbst noch gar nicht glauben.

Schnell schlüpfe ich aus meinen Sachen und streife mir sein Shirt über. Es ist mir viel zu groß, aber ich fühle mich wohl darin. Alles riecht nach ihm, nach Haselnuss. Ich lege mich in sein Bett. Der Duft ist überall. Er ist mir so vertraut. Ich kuschle mich in die Decke. Der Haselnussduft ist wie eine Droge. Ich schließe meine Augen. Irgendwo höre ich leise eine Uhr ticken. Tick Tack. Tick Tack. Tick Tack. Ich genieße den Duft und seine Nähe, obwohl er nicht hier ist. Tick Tack.

Mein Herzschlag beruhigt sich, ich atme langsamer. Tick Tack. Ich bin hier. Bei Raphael. Tick Tack. Bei meinem Raphael. Tick Tack.

Ich höre Schritte und öffne meine Augen.Es ist hell. Wo bin ich?

„Na?", fragt Raphael sanft. Er steht in der Türe und hat jede Menge Taschen dabei. Er hat seine Sachen auch geholt. Ich bin bei ihm und er bleibt hier. Bei mir. Er fährt nicht zurück ins Camp. Geht das? Was ist mit den Kindern? Ich setze mich auf.

„Wie fühlst du dich?", fragt er.

„Viel besser", sage ich. Er kommt zu mir und stellt die Taschen auf den Boden. Er stoppt seine Bewegung und runzelt die Stirn.

„Was ist das?", fragt er und zieht die Flyer unter dem Bett hervor. Ich bewege mich nicht. Er hält sie in der Hand. Meine Ohren fallen zu. MAGERSUCHT. ESSSTÖRUNG. Mein Magen zieht sich zusammen und versetzt mir einen schmerzhaften Stich. Er blättert durch die Flyer. Ich schlucke.

„Woher hast du die?", fragt er.

„Ach, also. Ähm. Also die. Ja. Also, die hat mir der Arzt gegeben", stottere ich. Ich bin zu schwach. Ich habe keine Ausrede. Er hält die Flyer in der Hand und setzt sich aufs Bett. Die Matratze bewegt sich unter seinem Gewicht.

„Raphael, das...", sage ich und krabble neben ihn. Er sieht mich an, nimmt meine Hand und zieht mich auf seinen Schoß. Er legt einen Arm um mich und dreht in der anderen Hand die Flyer.

„Das bedeutet nichts", sage ich, „der Arzt hat doch keine Ahnung".

„Hannah", flüstert er und sieht mir in die Augen. Ich kann seine Stimme nicht deuten. Mein Herz klopft schnell.

„Du bist krank", sagt er weiter. Was? Nein. Nein. Nein. Hat er sich die Flyer überhaupt durchgelesen?

„Nein, ich bin nicht krank", sage ich und winde mich auf seinem Schoß. Er hält mich fest.

„Doch, Hannah. Du bist krank".

„Nein", sage ich. Er legt die Flyer neben uns und nimmt mein Kinn zwischen seine Finger. Er zwingt mich, ihn anzusehen. Ich halte die Luft an. Ich kann den goldenen Rand seiner Iris nicht erkennen.

„Hannah, bitte hör mir zu", sagt er. Er atmet tief ein. „Du bist sehr dünn", sagt er leise.

„Ich bin nicht...", sage ich, doch er unterbricht mich.

„Bitte lass mich aussprechen", presst er zwischen seinen Zähnen hervor und schließt seine Augen. „Du bist sehr dünn. Auch wenn du das selbst nicht so siehst. Genau das ist Teil dieser beschissenen Krankheit", sagt er sanfter. Wovon redet er?

„Du bist dünn und merkst es nicht", sagt er. Okay, das wird mir jetzt aber zu dumm. Ich drücke mich von ihm weg und stehe auf. Zu schnell. Mir wird schwindelig. Ich schließe meine Augen und halte mich am Schreibtisch fest. Ich ziehe das Shirt über meine Hüfte. Er stützt seine Arme auf seine Oberschenkel. Er sieht zu Boden und fährt sich mit den Händen in die Haare.

„Weißt du eigentlich, wie gefährlich diese Krankheit ist?" fragt er leise. Ich antworte nicht.

„Was glaubst du, warum du umgekippt bist?", fragt er und steht auf.

„Weil ich zu wenig getrunken habe", sage ich.

„Oh mein Gott, Hannah!", schreit er, „weil du krank bist!"

Ich kann nicht anders. Ich lache. Ich lache laut. Wenn er sich nur hören könnte. Wie lächerlich das ist. Als wäre ich krank. Da kennt er mich aber schlecht. Er muss endlich mit diesem Mist aufhören. Was bildet er sich eigentlich ein, mir so etwas zu unterstellen? Was glaubt er, wer er ist?

„Jetzt mach dich mal nicht so wichtig, Herr Doktor!" Ich schreie und lache gleichzeitig. Er sieht zu mir. Seine Augen funkeln. Er nimmt die Flyer vom Bett und kommt langsam auf mich zu. Ich sehe die Ader an seinem Hals. Er bleibt neben mir stehen und knallt sie mir vor die Brust. „Les. Die. Scheiß. Flyer. Und. Hör. Verdammt. Nochmal. Auf. Zu. Lachen", knurrt er. Seine Brust vibriert an meiner Schulter.

Er lässt die Flyer los. Sie rutschen an meinem Körper entlang und knallen zischend auf den Boden. Raphael stürmt aus dem Schlafzimmer. Seine lauten Schritte dröhnen in meinem Kopf.


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