UNSICHER.
Mein Kopf schmerzt, mein Körper ist schwer. Langsam setze ich mich auf. Ich brauche eine Schmerztablette. Hätte ich doch nur nicht so viel getrunken. Ein warmer Schauer fährt mir durch den Körper. Raphael. Er hat mich geküsst. Und wie! Bei der Erinnerung schlägt mein Herz bis zum Hals. Er hat mich im Arm gehalten, hat mich festgehalten. Hat mich hochgehoben. Oh nein. Er hat mich hochgehoben. Aber er hat gelacht und war so anders. Er war so liebevoll. Und so stark. Wie bin ich eigentlich hier ins Zelt gekommen? Ich weiß es nicht. Wie soll ich mich verhalten? Was ist das zwischen uns?
„AAaawww Guten Morgen!" Valerie fällt mir um den Hals als ich das Speisezelt betrete.
„Guten Morgen", murmle ich und erwidere ihre Umarmung.
„Du musst mir alles erzählen! Dennis hat gesagt, du und Raphael...also na er sagt ihr habt geknutscht!" Sie grinst über das ganze Gesicht.
Ich kann es nicht aufhalten, wie von selbst gehen meine Mundwinkel nach oben. Er war so sexy. Seine Lippen waren so weich und er so stark.
„Ja, haben wir." Ich höre mich seltsam an. So fröhlich. Und da merke ich erst, dass ich wirklich fröhlich bin. Es ist viel zu lange her, dass ich mich so gut gefühlt habe.
„Oohh wie toll!" Sie drückt mich nochmal und ich muss Lachen. Ich muss wieder an die kleinen Mädchen denken. Ja, ich fühle mich wie die kleinen Mädchen. Ich fühle mich, als würde ich mit den Beinchen schaukeln. Ich muss grinsen, ich fühle mich leicht. Ich hätte nie gedacht, dass ich mich jemals wieder so fühlen kann. Ich bin verliebt. Ha! Ich bin verliebt. In Raphael Russ. Hoffentlich geht es ihm genauso. Valerie und ich decken die Tische und fangen an, für die ersten Kinder die Brote zu schmieren.
„Sag mal, wie viel haben wir gestern getrunken?", frage ich als mir der Geruch von frischgebrühtem Früchtetee in die Nase steigt.
„Oh, jede Menge", sie macht mit dem Zeigefinger Kreise vor ihrem Gesicht und verdreht die Augen, „ich hatte echt einen sitzen. Ich hab' schon ne Tablette genommen. Magst du auch eine?", fragt sie und hält mir eine kleine, weiße Tablette hin.
„Oh, ja. Ich habe höllische Kopfschmerzen." Ich nehme die Tablette und spüle sie mit einem Glas Wasser runter.
„UUUh, schau mal, wer da kommt", quiekt Valerie. Doch ich habe ihn längst gespürt. Da ist wieder das Kribbeln an meinem Rücken. Ich grinse wie ein kleines Kind und kann nichts dagegen tun. Ich drehe mich um. Seine Haare sehen unordentlich aus, er wirkt müde. Er presst die Lippen aufeinander und sieht mich nicht an.
„Guten Morgen", sagt er, den Blick nach vorne gerichtet. Die Bank bewegt sich unter seinem Gewicht, als er sich neben mich setzt. Valerie sieht mich mit großen Augen an und grinst wie ein Honigkuchenpferd, doch mir ist nicht mehr nach Grinsen zumute. Was stimmt nicht mit ihm?
„Guten Morgen", sage ich leise. Ich vermute, er war gestern selbst betrunken und erinnert sich an nichts. Ich fühle mich wie eine Biene auf Drogen. Und gerade bin ich gegen eine Wand geflogen. Dieses auf und ab, an und aus meiner Gefühle kann ich nicht länger ertragen. Ich war dumm, dass ich mich auf ihn eingelassen habe. Und wie ein kleines Mädchen habe ich mich sofort verliebt. Ich könnte mich ohrfeigen. Ich nehme eine Scheibe Brot und fange an, Nutella darauf zu verteilen.
„Wie fühlst du dich?", fragt er. Puh, okay. Immerhin redet er mit mir.
„Gut", sage ich.
„Gut", sagt auch er und fängt an, weitere Brotscheiben abzuschneiden. Gut? Ist das unsere Unterhaltung? Wenn ich nur wüsste, was in ihm vorgeht. Dennis kommt zu uns und setzt sich gegenüber auf die Bank, neben den kleinen Paul und neben Valerie.
„Na, Hannah wie geht's?" Er zwinkert mir zu. Ich werde rot. Wie betrunken war ich gestern? Und was hat er gesehen?
„Gut", sage ich wieder und bin froh, dass er mit Raphael ein Gespräch anfängt. Ich beiße in ein trockenes Brot und trinke einen Schluck Tee. Ich esse die ganze Scheibe, damit mir die Tablette keine Magenschmerzen verursacht.
Ich kaue jeden Bissen so lange es geht und habe trotzdem große Mühe, das trockene Brot zu schlucken. Raphael und Dennis unterhalten sich über Basketballmannschaften. Er beachtet mich nicht. Er sitzt neben mir und bewegt sich nicht. Ich stehe auf und verteile die Brote an die Kinder. Ich merke, wie er mich dabei beobachtet. Ich spüre seine Blicke, sehe ihn im Augenwinkel. Wie gerne würde ich zu ihm gehen und mit ihm sprechen. Aber ich traue mich nicht. Ich weiß nicht, wie er reagieren würde. Ich habe mich wohl in den letzten Tagen blenden lassen. Ich dachte, er würde sich für mich interessieren. Ich dachte, ich bin ihm wichtig. Wie dumm von mir. Ich räume die ersten Teller in die Küche. Valerie kommt zu mir.
„Was war denn das?", fragt sie mit hochgezogenen Augenbrauen.
„Ich weiß es nicht. Ich weiß es einfach nicht", sage ich und schüttle den Kopf. Sie nimmt mir die Teller aus der Hand und stellt sie neben das Spülbecken. Zum Glück ist Wilma mit dem Abwasch dran.
„Nehm das nicht so schwer. Das klärt sich sicher noch auf", sagt sie und legt ihre Hand auf meinen Arm.
„Ich weiß nicht, was ich mir dabei gedacht habe", sage ich und lege das Besteck ins Spülbecken.
„Ich war betrunken und habe zu viel rein interpretiert."
„Er ist wirklich ein Arsch", sagt sie.
„Ja, das ist er. Das liegt wohl in der Familie", sage ich. Ich muss an meine Familie denken. Ich sollte meine Mutter anrufen. Schließlich bin ich immer noch obdachlos. „Ich geh mal telefonieren", sage ich und Valerie nickt. Ich gehe aus dem Zelt. Die Luft ist kühl, doch die Sonnenstrahlen wärmen meine Haut.
Plötzlich packt mich jemand am Arm und zieht mich zur Seite. Ich kreische und stolpere über meine eigenen Füße. Doch ich werde festgehalten, ich spüre Hände auf meinem Körper. Ich blinzle. Raphael steht hinter dem Zelt und zieht mich an sich. Er sieht mich an. Er wirkt angespannt. Ich fühle mich unwohl, so nah an seinem Körper. Er drückt mich an seine Brust. Ich weiß, was jetzt kommt. Ich weiß, was er sagen will. Ich werde eine verbale Ohrfeige erhalten und kann nicht weg.
„Hi", sagt er sanft. Seine Gesichtszüge werden weicher, er lächelt. Ich glaube, mein Herz bleibt jeden Moment stehen.
„Hi?", frage ich. Und schon liegen seine Lippen auf meinen. Seine Hand an meiner Taille, seine andere in meinem Haar. Er ist so sanft. Ich hätte nie gedacht, dass er so sanft küsst. Am liebsten würde ich ihn wegdrücken, ihn anschreien, doch ich kann nicht. Ich kann nicht aufhören, ihn zu küssen. Sanft löst er sich von mir und sieht mich an.
„Ich dachte, du willst das vielleicht nicht mehr", sage ich schnell bevor mich der Mut verlässt.
„Was? Nein. Nein, Hannah ich will das." Er runzelt die Stirn.
„Das hat gerade eben aber anders ausgesehen", sage ich.
„Tut mir leid. Ich weiß auch nicht. Für mich ist das neu, weißt du?" Er hebt mein Kinn an und sieht mir in die Augen. Ich möchte wütend sein, doch ich kann nicht. Ich spüre diese Verbindung zwischen uns. Ich bin eingehüllt in seine Wärme, umgeben von seinem Duft. Ich fühle mich wohl und leicht. Ich fühle mich gut, obwohl ich das nicht will.
„Du hast dich wie ein Arsch benommen", sage ich.
„Ich weiß. Es tut mir leid." Meine inneren Alarmglocken sollten laut läuten. Meine innere Stimme sollte schreien: Glaube ihm nicht! Er verarscht dich. Er nutzt dich aus. Doch ich glaube ihm. Ich möchte ihm glauben.
„Können wir nochmal von vorne anfangen?", fragt er, "diesmal mache ich es besser", fügt er schnell dazu.
„Okay", sage ich und hoffe, dass er es wirklich besser macht. Er lässt mein Kinn los.
„Ich muss jetzt basteln", sagt er und ich höre, dass er das lächerlich findet.
„Basteln?", ich kichere, "was bastelst du denn?"
„Hör auf zu lachen. Wilma hat den Mädchen versprochen, dass ich mitmache. Sie erpresst mich. Und jetzt muss ich irgendwas mit verdammten Blumen basteln."
„Mit was erpresst sie dich?", frage ich und kann mir nicht vorstellen, dass Wilma irgendeine Macht auf Raphael hat.
„Mit meinen Sozialstunden", sagt er. Nicht mal bei dem Wort Sozialstunden läuten meine Alarmglocken. Ich glaube, sie haben dringend Wartungsarbeiten nötig. Ich kann nur an Raphael und die Blumen denken. Das ist wie eine Feder, die sich im Stacheldrahtzaun verfängt. Wie ein Riese, der einen Marienkäfer streichelt. Ich muss wieder kichern. Er legt seine Hand in meinen Nacken, zieht mich an sich.
„Hör auf zu lachen!" knurrt er an meinen Lippen und ich höre auf. Ich verliere mich in seinem Kuss. In seinem Gefühl und seinem Halt. Wenn das der Anfang ist, gefällt er mir.
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