ALARMIERT.
Ich bin froh, dass Raphael zurück ist. Ich verstehe nicht, wieso er einfach abgehauen ist. Ich weiß nicht, was das für eine Macke ist. Immer haut er einfach ab. Doch jetzt ist er zurück und sitzt zwischen den Kindern und malt.
Es ist ein seltsamer Anblick. doch am liebsten würde ich ihn anstarren. Er nimmt sich einen Pinsel aus dem Becher. Der Pinsel wirkt viel zu klein in seiner großen Hand und hinterlässt blutrote Farbkleckse auf seinen Fingern. Seine Finger sind gepflegt. Erst jetzt fällt mir auf, dass er schöne Hände hat. Er runzelt die Stirn und zeichnet der kleinen Laura etwas aufs Blatt. Ein paar Haare fallen ihm in die Stirn. Sein Cap ist noch in meinem Zelt, doch das werde ich ihm so schnell nicht zurückgeben.
Er wirkt konzentriert. Er behauptet, er zeichnet eine Wurst aber ich finde, es sieht aus wie ein Luftballon. Es ist süß, dass er sich so viel Mühe gibt, obwohl er keine Ahnung von Kindern hat. Ich könnte ihn stundenlang ansehen. Von ihm geht eine besondere Stärke aus. Er will gerade etwas über Snoopys rosarote Hütte sagen, aber ich gebe ihm unter dem Tisch einen Tritt gegen sein Schienbein. Er ist wie ein Fels, er zuckt nicht mal. Er sieht mich nicht mal an. Er zeichnet weiter und fixiert mein Bein mit seinen Füßen. Als würde mich das davon abhalten, ihn mit dem anderen Bein zu treten.
In seiner Gegenwart fühle ich mich wie ein kleines Kind auf dem Rummelplatz. Es duftet nach Nüssen und Süßigkeiten. Es ist hell und bunt. Die Karussellpferde bewegen sich auf und ab. Sie drehen sich und ich steige auf. Er gibt mir ein tolles Gefühl. Auf meinem Karussellpferd sitzend male ich mit den Kindern ihre Bilder fertig.
Als wir fertig sind begleitet Valerie die Kleinen zu den Bauwägen, damit sie sich die Farbe von den Händen und den Gesichtern waschen. Raphael sitzt noch auf seinem Platz und sammelt die Bilder ein. Ich stehe vorsichtig auf, damit mir nicht schwindelig wird und sammle die nassen Pinsel ein. Ich stecke sie in einen Plastikbecher. Raphael greift über den Tisch und nimmt meine Hände. Sein Griff ist fest, ich zucke zusammen und setze mich wieder auf die Bank.
„Sorry", sagt er und lockert seinen Griff. Er lächelt mich an, seine Haare fallen ihm immer noch ins Gesicht. Bald wird er nach dem Cap fragen. Er beugt sich über den Tisch und berührt meine Wange.
„Du hast Farbe im Gesicht", sagt er und wischt sie mit dem Daumen weg.
„Danke", sage ich leise. Wie gerne würde ich meine Wange an seine Hand schmiegen, doch seine Stimmung ist seltsam. Er runzelt die Stirn, sein Lächeln wirkt nicht echt.
„Hannah, ich muss mit dir reden", seine Stimme ist dunkel, er spricht deutlich. Die alte Rummelplatzmusik verstummt, das Karussell bleibt stehen. In der Ferne höre ich meine Alarmglocken läuten. Der Wind trägt ihren schrillen Klang in meine Richtung. Ich entziehe ihm meine Hände.
„Über was?", frage ich. Ich hoffe, er kann den Kloß in meinem Hals nicht hören. Ich wünsche mir, dass es nichts mit unserem Gespräch von heute Morgen zu tun hat.
„Wollen wir uns auf die Bank setzen? Am Fluss?", fragt er und sieht mich an. Sein Blick ist sanft. Doch mein Herz pocht wild in meiner Brust, das Rauschen in meinen Ohren übertönt den leisen Glockenklang. „Okay", sage ich obwohl nichts okay ist.
Schweigend gehe ich neben ihm. Wie ein Gefangener auf dem Weg zum Galgen.
„Setz dich", sagt er, als wir die Bank erreichen. Es ist das gewohnte Spiel, nur dass ich diesmal nicht in der Stimmung bin zu salutieren. Die Bank fühlt sich härter an als sonst. Raphael setzt sich neben mich.
Ich lehne mich zurück. Das Holz drückt gegen meine Schulterblätter. Er streckt ein Bein aus und kramt eine Packung Zigaretten aus seiner Hosentasche. Er nimmt eine aus der Schachtel und zündet die Zigarette an. Er nimmt einen tiefen Zug. Ich schlage meine Beine übereinander. Der Rauch wird vom Wind in meine Richtung getragen. Zusammen mit dem Klang meiner Alarmglocken. Ich wippe mit dem Fuß.
„Ich möchte ehrlich sein", sagt er und fährt sich durch die Haare, „ich habe keine verdammte Ahnung, wie ich anfangen soll oder so", sagt er und zieht wieder an seiner Zigarette, „aber ich mache mir Sorgen um dich."
Himmel. Damit habe ich nicht gerechnet.
„Du machst dir Sorgen? Warum?", frage ich ihn. Er sieht kurz zu den Zelten, dann wieder zu mir.
„Also ich kenne dich ja schon etwas länger", sagt er, „und ich finde, also du hast so abgenommen", sagt er. Ich grinse. Es ist ihm aufgefallen. Wahnsinn.
„Danke", sage ich. Ich fühle, wie locker die Jeans sitzt. Es fühlt sich toll an. Ja, es war ein hartes Stück Arbeit, aber es hat sich offensichtlich gelohnt.
„Hannah, das ist kein Kompliment", sagt er.
„Was?", frage ich. Das ist das schönste Kompliment, das er mir machen kann. Männer und ihre Macken. Doch ich sehe seinen Blick. Ich halte die Luft an.
„Also ich finde, dass du sehr dünn geworden bist", sagt er. Dünn. Ja. Jackpot. Ich wollte auch einmal dünn sein. Dünn, schlank. Dazugehören. Nicht die mit der normalen Figur sein. Normal ist langweilig. Ich möchte schön sein. Und das bin ich doch jetzt.
„Ach", sage ich, „ich bin doch nicht seeehr dünn!" Am liebsten würde ich lachen. Männer haben wohl einen seltsamen Bezug zum weiblichen Körper. Er zieht wieder an seiner Zigarette. Er lässt den Rauch aus seiner Lunge und sieht mich an.
„Doch, Hannah", sagt er, „ich mache mir Sorgen, weil du sehr dünn bist."
„Das ist lieb von dir, aber du brauchst dir keine Sorgen machen. Mir geht es gut!", sage ich. Er legt seine Hand auf meinen Oberschenkel.
„Ich habe einfach Angst, dass du krank bist", sagt er leise. Ich? Krank? Mir ist ab und zu schwindlig, wenn ich aufstehe aber mehr nicht. Das ist doch ganz normal. Das hat jeder andere doch auch.
„Mir geht es gut", sage ich wieder. Ich möchte diese Unterhaltung nicht führen. Er hat ja ein völlig verzerrtes Bild.
„Können wir jetzt zurück gehen?", frage ich.
„Hannah, bitte nehm das ernst. Ich mache mir verdammt nochmal Sorgen. Du bist so dünn geworden, seit das mit Tobi war. Du isst kaum etwas. Ich habe es doch gesehen! Es ist verdammt nochmal möglich, dass du krank bist!", er spricht viel zu laut. Es ist, als würden Gewehrkugeln auf mich gefeuert werden. Seine Augen sind zu Schlitzen verengt, ich sehe eine Ader an seinem Hals hervortreten. Er hat meinen Oberarm gepackt.
„Au!", schreie ich und ziehe meinen Arm weg.
„Was stimmt nicht mit dir?", schreie ich.
„Mit mir? Was mit mir nicht stimmt? Du bist krank, Hannah!", schreit er. Hoppla, so kenne ich ihn gar nicht.
„Ich bin nicht krank! Du spinnst ja!", schreie ich und springe auf. Ich habe die Schnauze voll. Ich lasse mir von ihm nichts einreden. Ich ernähre mich gesund. Ich achte eben auf meine Figur. Das ist doch kein Problem. Er steht auf und schnippt die Zigarette in den Fluss. Ich schnaube. Unter anderen Umständen hätte ich ihm jetzt meine Meinung gesagt.
„Es tut mir leid", sagt er sanfter und streckt seinen Arm nach mir aus. Ich will nicht. Ich will seine Nähe nicht. Doch ich schmiege mich an ihn. Sein gewohnter Duft ist verschwunden. Er riecht fremd, er riecht nach Rauch. Aber ich möchte mich nicht streiten. Nicht wegen so etwas dummen. Er küsst mich auf den Scheitel und hält mich fest. Sein Griff ist fest. Wahrscheinlich ist er noch sauer, doch ich bleibe stumm und nehme damit seine Entschuldigung an.
Ich lege meinen Kopf auf seine Brust. Das Rauschen des Flusses beruhigt mich ein wenig. Obwohl ich sauer bin finde ich es süß, dass er mich dünn findet. Aber die Fettpölsterchen an meinen Oberschenkeln müssen noch weg. Das sieht einfach nicht schön aus. Das würde er mir natürlich nie sagen. Er hat ja keine Ahnung wie das ist, wenn man auf seine Figur achten muss. Er ist schlank und muskulös. Er braucht sich keine Sorgen um seine Figur machen.
„Honey?", fragt er sanft. Mein Ohr vibriert an seiner Brust.
„Hmmmm?" „Bitte denk nochmal drüber nach. Ich mache mir wirklich Sorgen", sagt er.
Ich dachte, die Unterhaltung wäre beendet. Ich möchte mich von ihm wegdrücken, doch er hält mich fest. Ich lehne mich zurück und sehe ihn an.
„Mir. Geht. Es. Gut.", sage ich. Er atmet tief, schließt kurz seine Augen.
„Bitte", presst er zwischen seinen Zähnen hervor.
„Raphael. Hör bitte auf damit. Ich finde es wirklich süß von dir, dass du dir Sorgen machst. Aber ich achte auf eine gesunde Ernährung und ich esse viel genug", sage ich, „und jetzt lass mich bitte los."
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