Caucus-Rennen

Es regnete in Strömen über der kleinen Stadt. Kleine Bäche sammelten sich in den Straßenrinnen, eine eigene kleine Landschaft bildete sich. Doch es machte ihm nichts aus. Evan nahm sogar einen Umweg, sodass es länger dauerte bis er zu Hause ankam. Er betrachtete fasziniert den grauen Himmel. Regentropfen fielen ihm ins Gesicht. Der Himmel sah aus wie gemalt, mehrere Schichten von Graustufen übereinander, gingen ineinander, formten Wolken und zogen vorüber. Stillschweigend, wie ein Beobachter, der schon alle Antworten kannte. Alle versteckten sich unter gespannten Regenschirmen, das Gesicht zum Boden gewandt, versuchten dem gefährlichen Nass zu entkommen, blickten nicht hinauf zu der Antwort.

Aus seinen Kopfhörern drangen laute Ambience Klänge. Nur so konnte er es ertragen. Ertragen raus zu gehen.

Evan erinnerte sich noch zu gut daran. An die Panikattacken. Jedes mal, wenn sie ihn in ein Einkaufszentrum schleppte oder in die Stadt Mitte, die höllisch überfüllt war. Oder ihn dazu brachte mit fremden Kindern zu spielen. Das war wahrscheinlich das schlimmste. Selbst als Kind waren ihm andere Kinder zuwider.

Sie wollte nicht einsehen, dass es ihm schlecht ging. Dass er anders war. Sie zwang ihn normal zu sein. Sie zwang es ihm auf und er stieß es ab, wie einen Fremdkörper, begann zu schwitzen, alles drehte sich und flimmerte vor seinen Augen, es war zu viel. Bis ihn eines Tages eine erlösende Ruhe überkam. Nur war sie leider nicht von Dauer.

Er wachte im Krankenhaus auf. Nach den Untersuchungen und einigen Gesprächen mit dem Arzt, kam sie unter Tränen in sein Zimmer.

Evan betrachtete gerade das Essen, dass ihm gebracht worden war. Es war Tomatensuppe. Er konzentrierte sich auf die rote Flüssigkeit vor ihm und wägte ab, ob er es versuchen sollte. Schließlich schob er den Teller von sich und betrachtete die Blumenvase auf dem kleinen Tisch neben ihm. Es waren keine Blumen darin.

Er hatte sie längst bemerkt.
Sie hielt eine Broschüre für einen Kinderpsychologen in der Hand. Er war damals 6 Jahre alt. Sie versuchte ihn zu einem Gespräch zu zwingen, doch er ignorierte sie.
Warum soll ich jetzt mit ihr reden ?, dachte er. Es gab keinen besonderen Grund, er hatte in dem Moment einfach kein verlangen danach gehabt, sich mit ihr zu unterhalten. Unter anderem, weil es nie sonderlich erfreulich war. Er sah sich weiter um während sie es irgendwann aufgab, ihn zum reden zu bringen. Seine Hände glitten über den rauen Stoff des Bettzeugs und er beschloss, dass er Krankenhäuser nicht mochte.

Evan stand vor seiner Haustür. Er wollte nicht rein. Er hatte gar nicht gemerkt, wie er hier her gekommen war, da er sich an diesen Tag erinnert hatte.
Er dachte oft an die Vergangenheit.
So oft, dass er schon fast dort lebte.

Schon seit langem analysierte er jeden Moment der vergangen war um heraus zu finden, warum es jetzt so ist wie es ist, welche getroffenen Entscheidungen falsch waren.
Warum er so ein Leben führen musste.

Es hatte aufgehört zu Regnen. Es nieselte nur noch leicht. Er war von oben bis unten durchnässt, doch es störte ihn nicht. Sie würde es sicherlich stören.

Seine Hand lag auf der Türklinke. Der Regen tropfte ihm aus der Kleidung.
So stand er eine Weile da, konnte sich nicht bewegen. Etwas hielt ihn davon ab, eine unsichtbare Macht, womöglich sogar sein früheres Ich, das verhindern wollte, dass er eintrat, weil es wusste was passieren würde. Seine Gedanken kreisten weiter um diesen einen Tag, rannten im Kreis, doch es gab kein Ziel, keinen Gewinner, wie ein Caucus-Rennen, das einzig dazu da war ihn zu trocknen. Als er eintrat ließ er eine Pfütze hinter sich zurück.

Leise schloss er die Tür. Er hoffte, sie hörte es nicht. Er wollte nicht mit ihr reden. Nichts erklären müssen.
Evan war es leid sich zu erklären.

Er schlich die Treppe hinauf und hinterließ dabei eine nasse Spur hinter sich. Im Bad zog er sich die nassen Sachen aus und trocknete sich ab.

Sein Blick fiel in den Spiegel. Nein, er fiel nicht, er haftete sich daran fest.
Was sahen andere, wenn er vor ihnen stand ? Offenbar nicht das Gleiche wie er.

Seine Augenringe zeichneten sich auf seiner blassen Haut deutlich ab. Sein Gesicht wirkte eingefallen.

Er konnte nicht schlafen. Er konnte nicht essen.

Sein schwarzes Haar hing ihm ins Gesicht. Seine grünen Augen hatten längst jedes leuchten verloren.

Irgendwo tief in ihm schlummerte sein wahres Ich, dass er irgendwann ein mal gewesen war. Wer genau hin schaute, konnte es noch sehen.

Er sah nichts.

Evan nahm ein Tuch von dem Regal und verhängte den Spiegel. Er wollte das Nichts nicht sehen.
Er ging in den Flur hinaus. Seine Zehen vergruben sich in dem weichen Teppich unter ihm. Er hatte als Kind oft hier gesessen, mitten im Flur, auf diesem Teppich. Der altmodische Teppich war dunkelrot und hatte kleine, zierliche Blumenmuster und Schnörkel. Er entdeckte immer wieder etwas neues in dem Muster.

Er lauschte und hörte sie in der Küche herumhantieren. Gut, also würde sie ihn vorerst nicht stören.

Er aß nichts.

Der magere Junge schlurfte in sein Zimmer und zog sich um. Er wollte sich nur ins Bett legen. Sein Zimmer lag im Dunkeln, er ließ nur selten Licht hinein.
In seine warme Decke gehüllt lag er einfach nur da.

Er schlief nicht.

Evan versuchte sich nur ein besseres Leben zu erträumen. Ein leichteres.

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Ich würde mich freuen, wenn ihr ein Kommentar bezüglich Verbesserungsvorschläge oder Kritik hinterlässt. Danke :)

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