Kapitel 8 - Gerüchte

"Du hast doch keine Schuld. Was meinst du, wie oft ich es ihm gesagt habe. Und Danny. Es hat doch nichts gebracht", sagte Conny und suchte Blickkontakt zu Irene. Die hatte ihre Augen fest auf die hellblaue Wachstischdecke auf dem Küchentisch gerichtet. Conny beschlich das Gefühl, Irene habe das, was sie eben gesagt hatte, gar nicht wahrgenommen, denn sie reagierte nicht darauf. Sie starrte weiter auf die Tischdecke.

"Sam ist eben ...", setzte Conny wieder an, wurde aber diesmal energisch von Irene unterbrochen.

"Was ist er? Ein unverbesserliches, naives Kind! Ich kann dir die Briefe zeigen. Er hat sie in den Papierkorb geworfen, weil er nicht wollte, dass ich sie sehe. Dass ich nicht sehe, wie sehr er die Höchstgeschwindigkeit überschreitet. Immer hat er beteuert, es handle sich nur um ein paar Kilometer pro Stunde. Es sei nichts Großes. Dabei scheint es bei ihm mehr die Regel als die Ausnahme zu sein, innerorts siebzig zu fahren!"

Aus trüben und zugleich ängstlichen Augen sah Irene Conny starr in die ihren. In diesen Augen erkannte Conny die Mutter ihres Freundes nicht wieder. Es war eher, als würde sie in die Augen eines Hasen blicken, der dem Jäger gegenüber stand und keine Fluchtmöglichkeit mehr hatte. Conny tat es weh, sie so zu sehen. Als sei für einen Moment Irene nicht mehr Irene, sondern nur noch eine vor den Schrecken der Welt verzerrte Maske.

Conny spürte, dass es keinen Sinn haben würde, beruhigende Worte an sie zu richten. Alles würde an ihr abprallen. Diese dunklen Augen, die so voller Angst und gleichzeitig doch so leer waren, ließen daran keinen Zweifel. Um ihrem Blick zu entgehen, schaute Conny hinab auf ihre rosafarbenen Fingernägel. An einer Stelle war etwas von dem Nagellack abgesplittert. Normalerweise hätte sie den Lack zuhause direkt erneuert. Aber für solche Kleinigkeiten hatte sie jetzt keine Nerven. 

Nach Hause. Conny spielte mit dem Gedanken, sich zügig zu verabschieden, um dieser angespannten Situation zu entkommen. Sie wollte die neuen Informationen in Ruhe verarbeiten. Andererseits wollte sie die verschreckte Frau ungern alleine lassen. Eine Weile lang blieb sie einfach sitzen und ließ ihren Blick durch die Küche wandern, auf der Suche nach einem Punkt, an dem sie sich festhalten konnte.

"Entschuldige ...", murmelte Irene plötzlich und fuhr sich mit der Hand übers Gesicht. Ihre Haare flogen genauso fusselig um ihren Kopf wie die von Sam, wenn er sie offen trug.

"Nein, wofür denn?", fragte Conny.

"Ich bin ganz durch den Wind. Ich muss dem Jungen jetzt einen Anwalt besorgen. Sei mir nicht böse, aber mein erster Gedanke war, ... wie sage ich das jetzt? Ich denke, dass es sowieso nicht viel bringt. Es hat Zeugen gegeben, die ihn gesehen haben. Das Kind ist also schon in den Brunnen gefallen. Was soll da jetzt noch ein Anwalt ausrichten? Versteh mich nicht falsch, er ist mein Sohn. Natürlich werde ich alles tun, um ihm zu helfen. Aber ... ach, ich weiß auch nicht ..."

Conny saß starr am Küchentisch und versuchte aus Irenes Gesicht abzulesen, wie sie das eben Gesagte gemeint hatte. Ob das wirklich ihr purer Ernst war. Hatte sie denn ihren eigenen Sohn schon aufgegeben? Viel Kampfgeist sprach weder aus ihrer Mimik noch aus ihrer Körperhaltung. Mit schlaff herunter hängenden Schultern saß sie da, mit einer tiefen Sorgenfalte auf der Stirn.

"Sag doch so etwas nicht! Meinst du nicht, dass es sein kann, dass Sam es gar nicht gewesen ist? Dass es vielleicht auch nur ein Missverständnis war?", gab ihr Conny zu denken und bemühte sich, einen ehrlich hoffnungsvollen Ton in ihre Stimme zu legen.

Irene wiegte den Kopf hin und her. Sie schien die Möglichkeit in Erwägung zu ziehen, das Für und Wider abzuwägen und erwiderte dann: "Aber wie erklärst du dir dann die Delle auf der Motorhaube? Eindeutiger geht es doch gar nicht."

Wenn du wüsstest, dachte Conny bitter. Sollte sie es sagen? Wäre Sam böse, wenn sie es sagen würde? Eindringlich hatte er sie gebeten, dicht zu halten. Wenigstens ein Jahr zu warten. Damit sie sehen konnte, dass nichts passieren würde. Aber jetzt hatte sich die Situation geändert. Es war etwas passiert. Zwar schien dieser Vorfall nicht mit dem Schaufensterpuppen-Unfall zusammen zu hängen, aber dennoch hatte der eine Unfall indirekt etwas mit dem anderen zu tun. Der gemeinsame Punkt war die beschädigte Motorhaube.

Sam war wegen eines Unfalls festgenommen worden, den sich auch Conny nicht erklären konnte. Statt einigen Kilogramm Plastik sollte angeblich diesmal ein echter Mensch auf seiner Motorhaube aufgeschlagen sein. Was aber keiner außer Sam und Conny wusste, war die Tatsache, dass die Delle mit absoluter Sicherheit nicht von einem Menschen verursacht worden war.

Warum hat er es nicht selbst gesagt, fragte sich Conny. Warum hat Sam nicht sofort klar gestellt, dass die Beschädigung aus einem anderen Unfall hervorgegangen ist? Aus einem Unfall, bei dem kein Mensch physisch zu Schaden gekommen ist? Er hätte es einfach nur sagen müssen und vielleicht hätte das ja schon geholfen.  

Aber er hatte die Chance offenbar nicht genutzt. Was wäre denn, wenn Conny es sagen würde? Sie könnte dazu beitragen, denn Fall aufzuklären. Das wäre doch gut! Sie war ja schließlich Zeugin davon, wie die Motorhaube von einer Schaufensterpuppe beschädigt worden war und nicht von einem echten Menschen. Ein entlastender Beweis wenigstens. Vielleicht sogar der entlastende Beweis, um zu verhindern, dass Sam angeklagt wurde!

Conny wollte schon den Mund aufmachen, da kamen ihr wieder Sams Worte in den Sinn. Wenn Conny die Sache mit der Schaufensterpuppe erzählte, dann würde man dort nachforschen. Eine weitere Baustelle, die eröffnet werden würde. Man würde womöglich den Unfallort in Augenschein nehmen, man würde Zeugen befragen und dann würde man wahrscheinlich herausfinden, dass Sam mit einer ordentlich hohen Geschwindigkeit durch ein ruhiges Wohngebiet geheizt war. 

Wäre das aber nicht besser als eine Anklage wegen ... wegen was alles? Wahrscheinlich wegen fahrlässiger Körperverletzung mit Fahrerflucht ... und unterlassener Hilfeleistung. Wäre das besser? Dann lieber die Geschwindigkeitsübertretung zugeben und ein Bußgeld zahlen oder den Führerschein für einige Monate abgeben oder was auch immer. Und hoffen, dass Sam endlich etwas daraus gelernt hatte.

Vorausgesetzt, er war es wirklich nicht. Conny konnte sich zwar nicht vorstellen, dass Sam eine Frau überfahren könnte und sie dann einfach liegen lassen und weiterfahren würde. Außerdem wusste sie ja, dass der Schaden auf der Motorhabe zu einhundert Prozent von der Schaufensterpuppe war. Doch der giftige Keim des leisen Verdachts begann in ihrem Kopf zu sprießen. Was wenn doch, flog ihr durch die Gedanken wie ein Banner, das von einem Flugzeug über den Himmel gezogen wurde. Was wenn doch? Wenn er es eben doch getan hatte? Was war dann? Dann würde sie mit einer eventuellen Aussage vielleicht ganz viel Schaden anrichten.

Und was wäre, wenn sie zu Sams Gunsten aussagen würde und sich am Ende - nur mal angenommen - doch herausstellen würde, dass er es doch gewesen war? Würde man Conny dann der Falschaussage bezichtigen? Klar doch. Sie war immerhin Sams Freundin. Logisch, dass sie zu ihm halten würde. Was passierte, wenn man wegen einer Falschaussage dran war? Bestimmt ein dunkler Fleck auf dem blütenweißen Führungszeugnis. Und damit ein ordentlicher Dämpfer für Connys Zukunftspläne.

"Wolltest du etwas sagen?", hakte Irene nach.

"Nein ...", wimmelte Conny ab.

"Na gut. Du könntest Recht haben ... Vielleicht war es nur ein Missverständnis. Vielleicht hat die Delle einen anderen Grund, den ich mir zwar nicht ausdenken kann, aber möglich wäre es. Nur dadurch, dass weder du noch ich bei dem Unfall dabei gewesen waren, können wir nicht sagen, ob er jetzt schuldig ist oder nicht. Daher müssen wir von beiden Möglichkeiten ausgehen", fasste Irene zusammen.

"Ja. Beides ist möglich. Wobei ich mir ehrlich nicht vorstellen will, dass Sam wirklich eine Frau überfahren haben soll. Das kann ich mir einfach nicht vorstellen", murmelte Conny.

"Ich will es mir auch nicht vorstellen. Vor allem, dass Sam auch noch Fahrerflucht begangen haben soll. Er ist zwar ein richtiger Draufgänger, aber bestimmt kein Krimineller", entgegnete Irene. Dabei klang sie jedoch so, als sei sie selbst nicht ganz von ihrer eigenen Aussage überzeugt.

Schweigen senkte sich über die Küche und wieder hatte Conny den Drang, einfach alles auf den Tisch zu legen. Es wollte förmlich aus ihr herausplatzen, sie wollte Irene alles bis ins kleinste Detail erzählen. Das Geheimnis lag wie eine Last auf ihren Schultern und sie würde diese Last so gerne los werden, einfach hier in Irenes Küche abladen und dann nach Hause gehen. Und dann weiter?

Was würde weiter passieren? Der Rattenschwanz, von dem Sam gesprochen hatte. Man sagte etwas und setzte damit einen ganzen Prozess in Gang. Man sagte etwas und stupste damit den ersten Dominostein an. Und was würde am Ende der Kette von hunderten oder tausenden Dominosteinen stehen? Eine Verurteilung oder ein Freispruch. Und für Conny? Sie konnte eine Hilfe sein - falls Sam unschuldig wäre, oder sich selbst in die Scheiße reiten - falls er es doch gewesen war.

"Was droht ihm denn?", erkundigte sich Conny.

Irene zuckte mutlos mit den Schultern.

"Wenn ich das wüsste. Das erfahre ich wohl erst, wenn ich einen Anwalt habe. Was es auch sein wird, sollte er verurteilt werden, dann ist er ein beschriebenes Blatt. Und dann ist da noch die Frau, die verletzt wurde. Sollte er das gewesen sein - und ich hoffe wirklich, dass das nicht so ist - dann wird er damit leben müssen, dass er jemandem das Leben ruiniert hat", meinte sie.

"Was ist mit der Frau?", hakte Conny nach.

"Das weiß ich auch nicht so genau. Die Polizei hat nicht viel dazu gesagt. Aber von einer Nachbarin, die auch mitbekommen hat, dass Sam verhaftet worden ist, wurde mir gesagt, sie läge im Krankenhaus. Gehirnerschütterung und mehrere Knochenbrüche. Sie hat es zum Glück überlebt, aber denk mal darüber nach, wie lange sie brauchen wird, um wieder auf die Beine zu kommen, geschweige denn, sich richtig zu erholen", entgegnete Irene und die Sorgenfalte auf ihrer Stirn wurde tiefer.

"Woher weiß die Nachbarin denn das?", wollte Conny wissen.

"Die junge Frau ist die Tochter ihrer Arbeitskollegin. So eine Neuigkeit verbreitet sich doch wie ein Lauffeuer. Und umso schneller wird sich die Nachricht verbreiten, dass mein Sohn deswegen festgenommen wurde. Die ganzen Tratschtanten interessiert es doch nicht, dass seine Schuld noch nicht endgültig bewiesen ist. Es interessiert sie nicht, dass er noch nicht verurteilt wurde, denn in ihren Augen ist er das längst. Das habe ich ihr angesehen", murmelte Irene und schaute wieder auf die Tischdecke.

Nach einer Weile fuhr sie fort: "Weißt du, was sie gesagt hat? Dass das dein Sohn war, hätte ich nie gedacht, aber so, wie er fährt, ist das kein Wunder." Irene hielt wieder inne um sich zu sammeln, bevor sie weitersprach. "Siehst du? Alle hier haben ihn doch schon längst verurteilt."

Conny presste die Lippen zusammen. Ihr fiel kein beruhigender Kommentar mehr ein. Was sollte sie denn dazu sagen? Dass alles gut werden würde? Das sollte sie der Frau sagen, deren Sohn wegen eines Unfalls festgenommen wurde, den er angeblich begangen haben sollte, und innerhalb der Nachbarschaft bereits als Krimineller abgestempelt worden war? Nichts lag Conny ferner und deswegen beschloss sie, lieber nichts zu sagen.

Außerdem hatte sie das Gefühl, als würden ihre Versuche, Irene zu trösten, eher das Gegenteil bewirken. Als sie Irenes Hand hatte nehmen wollen, hatte sie sie weg gezogen. Das hatte Conny verunsichert. Sie fragte sich, ob Irene neuerdings etwas gegen sie hatte. Seitdem Sam sie zum ersten Mal mit nach Hause genommen hatte, gab es keinen Anlass anzunehmen, Irene fände sie in besonderem Maße unsympathisch. Was war passiert?

Conny schob es auf die Situation. Die äußeren Umstände, der hohe Druck, der auf Irene lastete. Das war alles nicht einfach. Natürlich reagierte Sams Mutter dann gereizt. Und vielleicht wollte sie auch einfach vor ihrer Schwiegertochter in spe keine Schwäche zeigen. Ganz überzeugt war Conny nicht von ihrer eigenen Erklärung, aber sie beschloss, es dabei zu belassen.

"Ich glaube, ich gehe jetzt nach Hause", sagte sie.

"Ich bringe dich zur Tür." Irene stand auf und begleitete Conny bis zur Haustür. Dann verabschiedeten sie sich und Conny verließ die Wohnung mit einem seltsamen Gefühl im Bauch.

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