Kapitel 7 - Aussagen
Sie hatten ihn direkt mitgenommen. Klar, denn es hatte zwei Zeugen gegeben und Beweise auch. Zumindest hatten sie das behauptet. Warum sollte es für sie dann noch Zweifel geben? Als Sahnehäubchen obendrauf hatte sich Sam auch äußerst vorbildlich verhalten. Zugegeben, einen Polizisten als Penner zu beschimpfen, war nicht die feine Art. Zuerst hatte Sam versucht, den beiden Polizisten zu erklären, dass er nichts von dem besagten Unfall wusste und dass er nicht einmal in besagter Gegend gewesen war.
Als er gemerkt hatte, dass sie ihm nicht glauben wollten, hatte Sam eindringlicher argumentiert. Und das bedeutete nichts Geringeres, als dass er in feinster Sam-Manier angefangen hatte, zu wüten. Er war ausfallend geworden. Wahrscheinlich war es genau die angestaute Energie gewesen, die er Ella gegenüber nicht in vollster Pracht hatte entfesseln können. Die ungesagten Dinge, die er ihr nicht in das geschminkte Gesicht hatte werfen können. So kam es, dass nicht die unliebsame Freundin seines besten Freundes etwas zu hören bekommen hatte, sondern zwei Polizeibeamte. Was aber die härteren Konsequenzen mit sich gebracht hatte.
Ja, im Nachhinein betrachtet, hatte Sam ihnen allen Grund gegeben, ihn mitzunehmen. Stichwort Fluchtgefahr. Wie wahrscheinlich war es, dass ein Typ wie Sam - der sich mit Händen und Füßen gegen die Vorwürfe der schweren Körperverletzung mit Fahrerflucht wehrte - bei Nacht und Nebel den Abgang machen könnte? Ziemlich wahrscheinlich. Das konnte er selbst nicht leugnen. Getroffene Hunde bellen. Oder nicht? Vielleicht eher so: wer am lautesten schreit, hat Recht? Aus Sicht der Beamten war Sam ein getroffener Hund. Aus seiner eigenen Sicht hatte er allerdings Recht. Eine Patt-Situation. Aber eigentlich auch nicht, denn die Beamten waren am längeren Hebel. Das hatte Sam spätestens dann gewusst, als er auf dem Rücksitz des Streifenwagens gesessen hatte. Schachmatt.
Es hatte alles gegen ihn gesprochen. Und dennoch war er es nicht gewesen. Die beiden Gesetzeshüter hatten sich den Falschen geschnappt. Sam hatte keine Frau überfahren. Außer sie meinten die Schaufensterpuppe, aber deswegen hätten sie ihn doch niemals festgenommen. Vor seinem inneren Auge entfaltete sich das entsetzte Gesicht seiner Mutter. Die Türklingel am frühen Vormittag verhieß oft nichts Gutes. So auch heute. Es war zu früh für die Post gewesen, auch viel zu früh für Besuch. Wenn das Telefon oder die Tür früh am Morgen oder spät in der Nacht klingelte, dann brachte das oft schlechte Nachrichten.
Die schlechten Nachrichten waren frei Haus gekommen, sogar ohne dass Sam sie hatte bestellen müssen. Arglos, aber dennoch zögerlich hatte seine Mutter die Tür geöffnet. Weil sie es immer tat. Sam reagierte meistens gar nicht, wenn er die Türglocke schrillen hörte. Selbst wenn er wusste, dass er ein Paket erwartete. Durch die geschlossene Zimmertür hatte er eine forsche Stimme fragen hören, ob ein Samuel Witter zuhause sei.
Sam war von seinem Bett aufgesprungen und hatte die Jalousien hochgezogen, um einen besseren Blick auf die Straße zu haben. Die kleine, unangenehme Vermutung, dass ein Polizeiwagen am Straßenrand geparkt stehen könnte, hatte sich beim Blick nach draußen schnell bestätigt. Sein erster Gedanke war natürlich der Vorfall mit der Schaufensterpuppe gewesen. Zu anderen Gedanken war er nicht mehr gekommen. Sam hatte sich gar nicht richtig fassen können, da hatte auch schon seine Mutter mit den beiden Beamten im Schlepptau in seiner Tür gestanden.
Sie hatten sich Sams Auto ansehen wollen. Als der schlaksige Beamte mit den dichten hellbraunen Locken die Dellen in Augenschein genommen hatte, war alles klar gewesen. Natürlich war alles klar gewesen. Es hatte ja auch Zeugen gegeben, nicht zu vergessen. Zwei sogar. Oh ja, es hatte zwei Personen gegeben, die Sam gesehen haben sollen. Sam oder sein Auto oder sein Kennzeichen oder was auch immer. So genau konnte er es im Nachgang gar nicht mehr sagen, denn in seiner Aufregung hatte sein Gehirn statt als Auffangschale für Informationen eher als Sieb fungiert.
"Wo habt ihr denn bitte Zeugen eines Unfalls, den es so nicht gegeben hat, aus dem Boden gestampft?", hatte Sam wissen wollen. Polizisten zu duzen wurde als Beleidigung gewertet, das wusste er. Und es war ihm egal. Natürlich hatte er keine konkrete Antwort darauf bekommen. Was ihn wiederum noch mehr provoziert hatte. Weshalb er seine Argumente um ein paar Dezibel nach oben geschraubt hatte. Nur anders als in so vielen vorherigen Situationen hatte Sam dieses Mal den Kürzeren gezogen.
Das war der Grund, weshalb er jetzt gerade in einer muffigen Zelle saß und sein Kopf vor lauter Gedanken zu explodieren drohte. Dabei wurde ihm gerade jetzt in diesem Moment die Ironie seiner Situation bewusst. Wie oft hatte er davon geträumt, Connys Leben leben zu dürfen? In einem schönen Haus, in einer schönen Gegend? Zweihundert Quadratmeter statt sechzig? Vollautomat statt Filtertüte? So lange war es gar nicht her.
Immer wenn es ihm einfiel, ärgerte er sich darüber, dass er mit seiner Mutter, die ihn mit ihren eigenen Sorgen erdrückte, auf den paar Quadratmetern leben musste, die die Wohnung hergab. Ihrer Ansicht nach reichte die Größe der Wohnung für beide vollkommen aus. Aber jedes Mal, wenn Sam durch die Tür herein kam, fühlte er sich eingeengt. Ganz im Gegensatz zu dem Gefühl, das er hatte, wenn er bei Conny war.
Und jetzt hatte sogar noch ein grandioses Upgrade zu seiner Situation stattgefunden. Er hatte jetzt statt sechzig Quadratmetern gefühlt nur noch ein Drittel zur Verfügung. Wenn das so weiter geht, dann lebe ich bald in einem Vogelkäfig, dachte sich Sam und bekam plötzlich Lust, gegen die Wand zu boxen oder gegen die Tür zu treten. Das unterließ er aber genauso, wie er seine Tirade gegen Ella unterlassen hatte.
Alles sprach gegen Sam, nur er selbst wusste, dass er unschuldig war. Aber es hatte nichts genutzt, so laut und vehement er seine Unschuld beteuert hatte. Im Gegenteil. Das Schlimmste an der ganzen Sache war, dass er nicht wusste, was als Nächstes passieren würde. Die Ungewissheit. Die Ungewissheit war wie Futter für seine Unsicherheit. Wie Öl, das man ins Feuer goss, an dem sich die Flammen nährten und weiter züngelten, sich den Sauerstoff im Raum einverleibten und wuchsen.
In seiner Vorstellung sah er Conny, wie sie am Rand des Feldweges stand und auf ihn wartete. Minute um Minute verging und sie würde immer ungeduldiger werden. Mit verschränkten Armen würde sie Ausschau halten, aber er würde nicht auftauchen. Was würde sie tun? Einfach wieder nach Hause gehen? Sicher nicht. Nicht sie, nicht Conny. Niemals. Sie würde nachforschen. Selbstverständlich würde sie das tun. Und wenn sie das tat, dann würde sie schnell herausfinden, was mit Sam passiert war.
Und einmal mehr wäre das ein Grund für sie, ihn für das Rasen anzuklagen. Würde sie die Geschichte glauben, die ihr alle erzählen würden? Würde sie glauben, dass Sam eine Frau überfahren hatte? Nein. Oder? Conny hielt zu Sam. Sie würde schon wissen, dass er so etwas niemals tun würde. Und auch, dass ihm so etwas niemals passieren würde. Oder? Oder? War es so? Er wollte es hoffen.
Doch es konnte auch ganz anders aussehen. Was, wenn sie ihn verlassen wollen würde? Wenn sie ihn einen Scheiß-Freund nennen würde, was dann als Begründung reichte, um Schluss zu machen? Sam starrte mit leeren Augen an die graue Wand. Er stellte sich Connys Eltern vor, wie sie ihr dazu raten würden, die Beziehung mit ihrem Knast-Freund zu beenden. Welche Eltern würden denn wollen, dass ihre Tochter mit einem Straftäter zusammen war? Und dann auch noch eine Beziehung aus dem Gefängnis heraus! Eine Fernbeziehung der besonderen Art ...
Die Gedanken an Conny quälten Sam, sodass sein Magen anfing, sich zu verkrampfen. In seinem Kopf schwebten seine Mutter, Conny und ihre Eltern, Danny und Ella wie im Reigen um Sam herum und zeigten alle mit dem Finger auf ihn und klagten ihn an. Du hättest anständig fahren sollen, Junge! Du hättest dich an die Geschwindigkeitsbegrenzung halten sollen! Das geschieht dir recht! Was hast du denn erwartet? Ich habe es dir tausendmal gesagt! Wir haben es dir tausendmal gesagt!
Wie gerne hätte Sam Conny jetzt angerufen! Einfach nur, um ihre Stimme zu hören. Um hören zu können, ob sie mit kalter Ablehnung oder mit warmem Mitleid zu ihm sprach. Um Gewissheit darüber zu haben, ob er sich noch Hoffnungen machen sollte oder nicht.
Stattdessen lag er apathisch auf der durchgelegenen Matratze, die nach allem Möglichen miefte und starrte an die Decke. Warten. Nichts anderes als warten konnte er jetzt tun. Seine Mutter würde ihm einen Anwalt besorgen. Sie hatte zwar kein einziges Wort gesagt, seitdem sie mit den Beamten in seinem Zimmer gestanden hatte, aber sie würde es doch bestimmt tun. Wie sollte er es denn selbst von hier drinnen aus tun? Was konnte er denn schon von hier drinnen aus regeln?
Sein Kopf fing an, zu rattern. Über seine verzwickte Lage wusste er selbst sehr gut Bescheid. Wie schwer es war, zu beweisen, dass er nicht diese Frau überfahren hatte, wenn zwei Aussagen gegen ihn sprachen. Dass er nicht zu dieser Zeit an diesem Ort gewesen war. Dass er die Frau noch nie gesehen hatte. Was half denn seine Aussage, wenn anscheinend zwei Zeugen und mehrere Beweismittel gegen ihn sprachen?
Neben dem Gefühl der Hilflosigkeit gedieh gefährlich schleichend noch ein anderes Gefühl. Es war die blinde Wut auf die beiden angeblichen Zeugen. Was waren das für Leute, die gegen jemanden aussagten, der das Verbrechen nicht begangen hatte? Sam ballte seine Hände zu Fäusten. Ich hätte niemals eine Aussage gemacht, wenn ich mir nicht absolut sicher gewesen wäre, dachte er sich. Ob die beiden wussten, was sie angerichtet hatten? Oder war es vielleicht sogar berechnende Absicht gewesen?
Sam ging in seinem Kopf die Liste mit seinen Feinden durch. Hauptsächlich waren es Leute aus der Schulzeit. Und von Feinden im engen Sinn konnte auch gar nicht die Rede sein. Vielmehr waren es Neider gewesen, die sich selbst nie getraut hatten, den Mund auf zu machen. Als Sam die Klasse vor dem Nachsitzen gerettet hatte, hatten sie die Augen verdreht. Solche Leute wie Sam waren nicht bei allen beliebt. Wenn man offen sagte, wenn einem etwas nicht passte, dann machte man sich schnell unbeliebt.
Aber so unbeliebt, dass man jemanden dafür unschuldig in den Knast beförderte? Es wollte Sam keine einzige Person einfallen, der er eine absichtliche Falschaussage mit diesem Hintergedanken zutrauen würde. Unendlicher Hass und der Wille, jemanden zu brechen, mussten der Antrieb eines solchen Menschen sein. Ein solcher Mensch konnte nur aus Wut und Missgunst bestehen. Seine einzige Freude musste es sein, andere leiden zu sehen.
Sam formte das Profil des Menschen aus, der für seine elende Lage verantwortlich war und allmählich nahm es Gestalt an. Es formten sich unwillkürliche Gesichtszüge, die ein solcher Mensch haben konnte. Sam brauchte ein Bild zu den Leuten, die er bisher nur als Zeugen kannte. Zeugen. Hinter diesem Wort verbargen sich zwei Gestalten, die es vollbracht hatten, Sams Leben zu ruinieren.
"Wer könntet ihr sein?", fragte er in die Zelle hinein. Der Mangel an Gesprächspartnern hatte ihm noch nie so zugesetzt wie jetzt gerade. Sam war nicht der Typ für Selbstgespräche. Es hatte schließlich immer jemanden zum Reden gegeben. Bis heute. Jetzt stand alles in der Schwebe. Alles unsicher. Alles offen.
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