Kapitel 4 - Verzeihung
Conny hatte ihm natürlich kein Wort geglaubt. Er würde gemäßigt fahren, ja ja. Eigentlich war sie letztendlich nur zu ihm ins Auto gestiegen, damit der Depp hinter ihnen endlich aufhörte zu hupen. Und nun saß sie wieder in diesem verhassten Wagen und die Autobahnauffahrt erstreckte sich durch die perfekt geputzte Windschutzscheibe vor ihr.
Wenn Sam sein Zimmer auch so ordentlich reinigen würde, wie er es bei seinem Auto tut, dann wäre er ein echter Traummann, dachte Conny zynisch. Sie wurde mit einem sanften Ruck in den Sitz gedrückt, als Sam aufs Gaspedal trat und auf den Beschleunigungsstreifen fuhr. Dann blinkte er und fädelte sich auf der rechten Fahrspur in den Verkehr ein. Er hielt die vorgeschriebene Geschwindigkeit von einhundertzwanzig fast exakt.
Wow, Herr Sam kann sich auch an die Verkehrsregeln halten, dachte Conny, wollte aber keinen Kommentar dazu abgeben. Lieber nichts heraufbeschwören. Sie wurde ein wenig lockerer und schaute aus dem Fenster. Es war kaum Verkehr, weswegen Sam auch einige Zeit lang niemanden überholen musste. Nach einigen Kilometern kam eine weitere Auffahrt und es scherte ein Lastwagen auf die rechte Spur vor Sam ein. Sofort setzte Sam den Blinker und fuhr auf die mittlere Spur.
Ein kurzer Blick auf den Tacho verriet Conny, dass Sams guter Vorsatz nicht allzu lange Bestand gehabt hatte. Hundertdreißig, hunderteinunddreißig ... Tendenz steigend. Immerhin keine zweihundert, tröstete sich Conny. Sie konnte ja nicht von jetzt auf gleich verlangen, dass Sam normal fuhr, oder? Tief in ihrem Inneren wusste sie, dass sie es sehr wohl konnte und dass sie damit auch im Recht sein würde. Aber sie sagte nichts dazu. Sie sah, wie der Tacho auf hundertvierundfünfzig kletterte. Oh ja, sie hatten doch in der Zwischenzeit das magische Schild erreicht ...
Ich werde nie wieder mehr mit dir mitfahren, du verlogener Mistkerl, dachte Conny und hielt ihre Handtasche fester. Danke für nichts. Danke fürs Anlügen. Nein, ich lüge dich nicht an, Conny. Nein, du hast nicht gelogen, du hast mich nicht verarscht. Diesmal nicht, nein. Die Tränen traten Conny in die Augen, heiß und brennend drückten sie sich nach draußen und sammelten sich in ihren Wimpern. Die Autobahn vor ihr verschwamm. Die Rücklichter des vorausfahrenden Kombis schienen sich nach links und rechts auszubreiten. Vergeblich versuchte sie, die Tränen weg zu blinzeln. Dabei löste sich eine Träne und lief seitlich an ihrer Wange herunter.
Wie gerne wäre Conny jetzt einfach abgehauen. Aber sie konnte ja schlecht aus dem fahrenden Wagen springen. Auch wenn sie das gerne getan hätte. Hauptsache weg aus diesem höllischen Auto. Die Fahrt dauerte endlos lange zwanzig Minuten. Es begann zu dämmern und das machte Conny noch mehr Angst. Wenn es auch noch dunkel wurde, dann wurde die Wahrscheinlichkeit noch größer, dass Sam einen Unfall baute. Mit seiner hohen Geschwindigkeit und dann auch noch die Dunkelheit ... Ja, er hatte Scheinwerfer, aber ... Conny wand sich im Sitz. Ihr wurde schlecht.
Als die Abfahrt in Sicht kam, atmete Conny auf. Sam ging auf die Bremse. Endlich. Die Bremse. Die Abfahrt. Sie fuhren endlich von der Autobahn ab. Jetzt waren sie fast zuhause. Fast bei Conny. Der Weg zu dem Haus ihrer Eltern führte die beiden durch ein Wohngebiet, in dem rechts von der Straße Häuser waren und links davon ein einziges hohes Gebüsch. Hinter dem Gebüsch lag ein Bolzplatz, der von Laternen beleuchtet wurde. Jetzt gerade war dort niemand.
Da hier ein Wohngebiet war, durfte man nur dreißig fahren. Natürlich hielt das Sam nicht davon ab, die doppelte Geschwindigkeit auszureizen. Conny wollte es sich nicht mehr länger ansehen und war drauf und dran, etwas dazu zu sagen. Sie hatte schon den Mund aufgemacht, da flog plötzlich aus dem Gebüsch etwas Großes und Dunkles auf die Motorhaube, schlitterte polternd darüber und landete einige Meter vom Auto entfernt auf der Straße.
Mit aller Kraft trat Sam auf die Bremse und er und Conny wurden nach vorne geschleudert. Conny fing sich ungeschickt mit den Händen am Armaturenbrett ab. Der Airbag hatte nicht ausgelöst. Verwirrt hielt sich Conny den Kopf, der sich anfühlte, als hätte man seinen Inhalt in einem Shaker verarbeitet. Sie schaute zu Sam.
Der starrte sie an und das reine Entsetzen stand ihm ins bleiche Gesicht geschrieben. Seine kantigen Gesichtszüge traten, entstellt durch den Schock, noch schärfer hervor. Ein paar Strähnen hatten sich aus seinem Zopf gelöst und hingen ihm fusselig ins Gesicht. Conny befreite sich als erste aus der Schockstarre. Sie löste ihren Sicherheitsgurt und sprang nach draußen.
"Was war das?", rief Sam schrill. Er saß immer noch hinter apathisch dem Lenkrad, während Conny sich der Gestalt näherte.
Da lag einige Meter vom Auto entfernt ein grotesk verdrehtes Bündel auf der Straße. Die Sonne war schon untergegangen und die Gestalt lag außerhalb des Lichtkegels der Straßenlaterne. Im Halbdunkel sah es aus wie etwas, das man achtlos hingeworfen hatte. Conny wurde geschüttelt vom Grauen, bei dem Gedanken, dass es sich um einen Menschen handeln musste. Da waren Arme, da waren Beine und ... der Kopf ... Conny rannte auf das Bündel zu.
"Hallo? Hallo?", keuchte sie und ging neben der Gestalt auf die Knie. Diese trug dunkle Kleidungsstücke - eine schwarze Jogginghose und einen schwarzen Hoodie. Mit dem Gesicht nach unten lag sie auf der Straße und rührte sich nicht. Sie reagierte nicht auf Conny, die sie nun an der Schulter rüttelte. Hinter Conny kam nun auch Sam angelaufen.
"Hallo, geht es Ihnen gut? Hallo?", wimmerte er verzweifelt. Conny stieß einen schrillen Lacher aus.
"Klar, geht's ihm gut, du hast ihn auch nur gerade überfahren", sagte sie. Ihre Stimme überschlug sich regelrecht. Sie musste sich zusammenreißen, Sam nicht anzubrüllen. Schließlich wäre der Aufprall sicher nicht so schlimm gewesen, wenn Sam die dreißig Kilometer pro Stunde eingehalten hätte. Und er hätte schneller reagieren können. Aber nun war es passiert. Conny kniete neben diesem Menschen auf der Straße.
Sie würde ihn umdrehen müssen. Sie wollte sein Gesicht nicht sehen. Wie schrecklich würde es aussehen? Nach so einem Aufprall? Conny hielt sich den linken Unterarm vor den Mund und griff mit der rechten Hand nach der Gestalt. Wenn es zu schlimm werden würde, dann würde sie sich umdrehen, um sich zu fangen. Aber das musste jetzt sein. Eins, zwei ... drei. Mit einem Ruck zog sie die Gestalt hoch und schaute in ein starres weißes Gesicht, das sie milde mit roséfarbenen Lippen anlächelte.
Im ersten Moment war Conny verwirrt und der Gedanke, der ihr durch den Kopf sauste, konnte in dieser Situation absurder nicht sein. Es geht ihm ja ganz gut, wenn er lächeln kann, dachte sie. Dann realisierte sie, wen sie da gerade wirklich an der Schulter festhielt.
"Was?", schrie sie und ließ die Gestalt los. Es war eine Schaufensterpuppe. Sam schaute die Puppe einen sprachlosen Moment lang an, dann gab er ihr einen Kick, dass sie über die Straße flog.
"Ey, komm raus! Komm raus, du Penner! Wer war das?", brüllte er wie von Sinnen. Die Hände hatte er zu Fäusten geballt und sah sich wild nach allen Seiten um. Außer ihnen beiden war niemand auf der Straße zu sehen. In vielen Fenstern brannte noch Licht. Vielleicht hatte irgendjemand etwas gesehen?
Sam sprang mit einem Satz ins Gebüsch und brüllte weiter, dass derjenige, der die Puppe geworfen hatte, rauskommen solle. Conny befürchtete, dass bald die Polizei auf den Plan gerufen werden würde, wenn Sam so weiter brüllte.
Mit verzottelten Haaren und irre geweiteten Augen kletterte Sam wieder aus dem Gebüsch und lehnte sich mit beiden Händen an die Motorhaube seines Wagens. Er keuchte. Conny beobachtete ihn. Jetzt gerade sah er aus wie ein Waldmensch. Blätter hatten sich in seinen Haaren verfangen und ein Ast musste ihm eine Schramme ins Gesicht gekratzt haben. Wenn die Situation nicht so ernst gewesen wäre, hätte Conny über diesen Anblick lachen müssen.
Aber in dieser Situation erstarb ihr das Lachen im Hals. Was sollte sie jetzt tun? Ein paar aufbauende Worte an ihn richten? Was denn für aufbauende Worte? Du hast dir nichts zu Schulden kommen lassen, du bist ja sooo aufmerksam gefahren. An dir kann es nicht gelegen haben. Fahr einfach nächstes Mal auch so, dann kann uns nichts passieren. Du hättest nicht noch langsamer fahren brauchen, es hat ja zum rechtzeitigen Bremsen gereicht.
"Wo kam denn die Puppe her?", fragte Conny an sich selbst gerichtet und spähte ins Gebüsch. Da war nur Dunkelheit und ein wenig von der schwachen Beleuchtung des Bolzplatzes.
"Ich hab niemanden gefunden", berichtete Sam und fuhr sich mit den Fingern durch die Haare.
"Was sollte das denn? Wer wirft aus heiterem Himmel eine Schaufensterpuppe auf ein fahrendes Auto?", fragte Conny und warf einen Blick auf die Puppe, die Sam auf die Mitte der Straße gekickt hatte.
"Ein richtiges Arschloch muss das gemacht haben", erwiderte Sam und machte eine wegwerfende Handbewegung.
"Aber wir können die nicht hier liegen lassen ... was machen wir denn jetzt? Das ist doch eigentlich eine Straftat ...", murmelte Conny.
"Tja, ja, das ist eine Straftat. Und was willst du mir jetzt damit sagen? Willst du die Polizei holen, oder was? Weißt du, was das für einen Rattenschwanz nach sich zieht? Schau mal, wie viele Leute hier wohnen", sagte Sam und machte mit dem Arm eine ausholende Geste, "da hat sicher jemand am Fenster gestanden."
"Ja, aber das ist doch gut. Dann hat vielleicht jemand mitbekommen, wer die Puppe geworfen haben könnte ...", sagte Conny hoffnungsvoll.
Sam packte sie mit beiden Händen an den Schultern und schaute ihr eindringlich in die Augen. "Weißt du, was die viel eher mitbekommen haben? Dass ich hier mit sechzig durch die Straße geheizt bin. Das werden die mitbekommen haben. Das konnte man sehen und hören, dass ich die Geschwindigkeit nicht eingehalten habe. Der Penner, der die scheiß Puppe geworfen hat, hat sich doch schon längst in Luft aufgelöst!"
"Scheiße, und was sollen wir dann machen?", fuhr Conny ihn an.
"Nichts. Wir werfen das Ding zurück ins Gebüsch. Ich fahr dich nach hause. Und dann werden wir es einfach vergessen", sagte Sam.
"Sam ...", hauchte Conny.
Er ließ sie los, packte sich die Puppe und schleuderte sie ins Gebüsch. Dort flog sie raschelnd hinein und war nicht mehr zu sehen.
"So, erledigt. Und jetzt bringe ich dich heim. Es ist nichts passiert ...", sagte Sam, setzte sich hinters Steuer und wartete darauf, dass sich auch Conny setzte. Ihr war es alles andere als recht, in diesem Zustand mit Sam zu fahren. Er stand offenbar unter Schock, seine Augen waren geweitet und sein flacher Brustkorb hob und senkte sich sehr schnell. Er hatte das Lenkrad so fest umklammert, dass seine Knöchel weiß wurden.
"Ich glaube nicht, dass du in dem Zustand fahren solltest", sagte Conny vorsichtig.
"Ach was, wir fahren jetzt. Ich fahre jetzt langsam. Ich fahre jetzt nur dreißig. Komm, steig ein", raunte er.
"Sam, ich ..."
"Steig ein, Conny."
Conny warf noch einen letzten Blick auf das dunkle Gebüsch. Dort drin lag jetzt die Schaufensterpuppe. Wer sie nicht suchen würde, der würde sie auch nicht finden. Mit diesem Gedanken stieg sie ein und Sam fuhr los.
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