Kapitel 27 - Freie Fahrt

Rechts und links zogen sattgrüne Bäume vorbei, die sich in den wolkenlosen Himmel zu strecken schienen. Das Thermometer zeigte achtundzwanzig Grad an. Das leise Rauschen der Klimaanlage konnte nicht das Lied übertönen, das aus dem Radio tönte. Gitarrenklänge mit einem Hauch von Lagerfeuerstimmung und ein Text, der den Sommer hochlobte. Alles zusammen genommen hätte man meinen können, der Sommer sei ewig. Als sei es immer schon Sommer gewesen. Beim Wechsel vom vierten in den fünften Gang ruckte der Wagen ein wenig.

"Gib ein bisschen Gas, wenn du den Gang wechselst, dann ist der Übergang sanfter."

"Alles klar."

Conny machte einen kurzen Blick zur Seite und grinste, ehe sie ihre Augen wieder auf die Landstraße vor ihr richtete. Hier und da waren ein paar Schlaglöcher und der kleine hellblaue Wagen schaukelte, wenn sie direkt in eines davon hinein fuhr. 

"Du machst das gut", sagte Sam nach einer Weile und setzte sich ein wenig entspannter in seinem Sitz hin und setzte seine Sonnenbrille auf. Durch die getönten Gläser sah alles noch ein wenig sommerlicher aus. Alles bekam einen goldenen Weichzeichnereffekt und wirkte freundlicher, als es an diesem sonnigen Tag ohnehin schon war.

"Danke", erwiderte Conny und musste unwillkürlich grinsen. Sam sah das und konnte es auch nicht verhindern, dass sich ein kleines Lächeln auf sein Gesicht stahl. Nahm sie da gerade ein Kompliment zu ihrem Fahrstil von jemandem an, der bis zum letzten Jahr noch keinen Wert auf Verkehrsregeln gelegt hatte? Das Bild von Sam in einem Fahrschulauto drängte sich in seinen Kopf. Sam als Fahrlehrer, der den Fuß auf der Bremse hatte, anstatt auf dem Gaspedal. 

Der kleine Kofferraum war fast bis nach oben hin vollgestopft. Auch auf der Hutablage hatte noch das eine oder andere Kleinteil Platz gefunden. Auf der Rückbank lag eine zusammengerollte Picknickdecke und eine Sechserpackung Mineralwasser. Das Wurfzelt, das sie sich gekauft hatten, steckte ganz unten im Kofferraum. Um an es heran zu kommen, würden sie alles wieder ausräumen müssen.

"Pass auf, da kommt noch so ein Schlagloch", warnte Sam sie und deutete nach vorne. Conny trat sachte auf die Bremse. Sam mochte es, auf der Landstraße zu fahren, aber hier waren Schäden am Straßenbelag alle paar Kilometer. So machte das Fahren sicher wenig Spaß. Vor allem dieser Wagen schien keine allzu guten Stoßdämpfer zu haben.

Sam sah aus dem Fenster nach draußen. Bald würden sie die nächste Großstadt erreicht haben. Nervös spielte er am Saum seines T-Shirts herum. Seine Hände waren rastlos und suchten nach einer Beschäftigung. Er öffnete das Handschuhfach und holte eine Schachtel Zigaretten heraus. Aus dem Augenwinkel sah Conny, was ihr Beifahrer vor hatte und protestierte.

"Nicht im Auto! Wir werden gleich anhalten, aber fang mir ja nicht an, im Auto zu rauchen!"

Ohne Widerworte steckte Sam die Packung in seine Hosentasche und richtete den Blick wieder auf die Straße, die vor ihnen lag. Dabei fiel sein Blick unwillkürlich auf etwas, das auf dem Armaturenbrett lag. Mehr oder weniger unwillkürlich, denn es lag dort wie auf dem Silbertablett. Ein Brief. Ein weißer, rechteckiger Umschlag, nichts Besonderes. Auf ihm klebte eine Briefmarke und der Empfänger stand in gedruckten Buchstaben darauf. Allerdings kein Absender.

Der Brief wog schwer in Sams Hand. Als sei ein Zentner Blei darin verpackt. Ein Zentner Blei komprimiert auf eine denkbar kleine Fläche. Sam hatte ihn nicht halten wollen und hatte ihn deshalb auf dem Armaturenbrett deponiert, wo er sich nun in der Windschutzscheibe spiegelte, wenn die Sonne günstig durch das Glas einfiel. Das bedeutete, dass Sam den Brief gleich zwei Mal sehen musste. Einmal das Original und einmal die Spiegelung. Es kam ihm vor wie Hohn.

Wenn Sam an das vergangene Jahr zurück dachte, dann hätte er den Ereignissen, die sich zugetragen hatten, keine Überschrift verleihen können, die alles in nuce zusammenfasste und dabei den Kern der Sache traf. Es war jetzt fast genau ein Jahr her, seitdem eine fliegende Schaufensterpuppe sein Leben verändert hatte. Fast ein Jahr, seitdem er kein Wort mehr mit seinem ehemaligen besten Freund Danny gesprochen hatte. Fast ein Jahr vergangen.

Vor drei Monaten hatte Conny die Führerscheinprüfung bestanden. Sam hatte ihr angeboten, mit seinem Wagen zu fahren, hatte sich die Antwort aber denken können, noch bevor er die Frage ausgesprochen hatte. Der Schaden an der Motorhaube war inzwischen behoben, nichts erinnerte mehr äußerlich an den Vorfall. Nein, äußerlich war da nichts mehr. Doch das Auto selbst war wie ein einziges Mahnmal, das einen nicht vergessen ließ, dass etwas passiert war.

Sam konnte es verstehen, dass Conny das Fahrzeug hasste. Zu viele schlechte Erinnerungen klebten daran. Sie hingen an den Sitzen wie Kaugummis, sie steckten in den Reifen wie rostige Nägel, sie verschmierten die Windschutzscheibe wie ein penetranter Ölfilm und sie verpesteten die Luft im Inneren des Wagens und nahmen einem die Luft. Kein Duftbäumchen der Welt hätte den modrigen Geruch dieses Andenkens überdecken können. Kein Lack der Welt hätte es übertünchen können. Es war das Auto selbst.

Andererseits hatte Sam es nicht übers Herz bringen können, es zu verkaufen. Er fuhr weiterhin damit. Er genoss weiterhin das Gefühl, der vielen Pferdestärken, die in dem Gefährt schlummerten. Nur dass er jetzt weniger der verfügbaren Rösser dafür in Anspruch nahm als früher. Wenn es sich ergab, dann stieg Conny bei ihm auf dem Beifahrersitz ein. Sie fuhr mit ihm, weil sie ihm wieder vertraute. Aber das Auto selbst fahren, das wollte sie nicht. Und Sam beließ es dabei. 

Es war in Ordnung für ihn, wenn es in Ordnung für sie war. Auch wenn Sam immer wieder der Gedanke kam, dass sein Auto allemal bessere Stoßdämpfer hatte als der Wagen, den Conny sich von ihrer Mutter auslieh, wenn sie ihn brauchte. Auch wenn er wusste, dass sein Wagen ein Warmbluthengst war und dieses Gefährt viel eher ein Pony.

In Sams Hosentasche meldete sich sein Handy. Eine Nachricht von seiner Mutter. Sie wollte wissen, ob Sam und Conny ihr Ziel schon erreicht hatten. Sam entsperrte den Bildschirm und hielt einen Moment lang inne, um den Bildschirmhintergrund zu betrachten. Es war das Foto eines Bildes. Das besagte Bild hing an der Wand in Sams Zimmer genau über seinem Bett. Wenn man sein Zimmer betrat, dann war es genau das erste, das man erblickte. Und wenn er morgens aufwachte, war es das erste, das er sah.

Das Bild basierte auf einem Foto und zeigte ihn und Conny, Hand in Hand, wie sie glücklich auf dem Feldweg liefen. Conny hatte das Foto mit Ölfarben gemalt und ihm zu seinem Geburtstag geschenkt. Das war nicht lange, nachdem sie Danny zur Rede gestellt hatten, gewesen. Im Angesicht der ganzen Ereignisse, im Angesicht dessen, was sie zusammen erlebt hatten, im Angesicht dessen, dass das alles sie nur noch näher zusammen gebracht hatte, war er den Tränen nahe gewesen, als er das Geschenkpapier entfernt hatte. Sachte hatte er mit dem Finger den Duktus des Pinsels nachgefahren. Die perfekten Linien bewundert. 

"Da vorne parke ich", sagte Conny und holte Sam aus seinen Gedanken wieder zurück. Sie waren in der Stadt angekommen. Ein letzter Halt in den bekannten Gefilden im Umkreis von hundert Kilometern, dann ging es los. Der Roadtrip. Der Roadtrip, der schon lange Geschichte gewesen war, bis die Idee wieder aus dem diesigen Keller aus einer verstaubten Kiste ans Tageslicht geholt worden war. Nur noch diese eine unangenehme Sache musste erledigt werden, dann ging es richtig los.

Conny fuhr in eine Parklücke direkt vor einer Bäckerei. In einigen Metern Entfernung war ein Briefkasten, in dem der Brief, der jetzt noch unangetastet auf dem Armaturenbrett lag, gleich stecken würde. Dann würde er unwiderruflich nicht mehr heraus zu holen sein, dann würde jemand kommen, ihn holen und abliefern. Er würde geöffnet werden und ...

"Wir machen das jetzt doch, oder?", vergewisserte Conny sich und warf einen vielsagenden Blick auf den Brief.

"Klar", entgegnete Sam schnell.

"Soll ich oder gehst du?"

Sam nahm den Brief in die Hand und löste den Anschnallgurt.

"Bin gleich wieder da", sagte er und stieg aus. In diesem Moment, als er sich Schritt für Schritt dem Briefkasten näherte, wurde sein Herz immer schwerer. Er konnte nicht genau erkennen, was es ihm damit sagen wollte. Beging er gerade eine extrem große Dummheit oder war es genau das Richtige? Würde dieses schwere Gefühl wieder weg sein, nachdem die Klappe endlich zugefallen war, nachdem der Brief endlich in die Dunkelheit verschwunden war? Nachdem Sam ihn abgegeben hatte und nicht mehr dafür zuständig war, was im Folgenden passierte?

Sam warf noch einmal einen Blick auf den Empfänger. Welches Gesicht genau hinter dem Namen steckte, wusste er nicht. Genauso wenig wusste er, welche Geschichte sich dahinter verbarg. Er kannte nur einen kleinen, aber signifikanten Teil der Historie, die dieser Name beinhaltete. Nichts hatten Conny und er mit dieser Frau zu tun. Rein gar nichts verband sie, objektiv betrachtet. Und trotzdem hatte es sich falsch angefühlt, den Kelch einfach so an sich vorbei gehen zu lassen. Es war nicht ihre Sache, nein. Es war die Sache von jemand ganz anderem. Aber Sam und Conny hatten es nun zu ihrer Sache gemacht.

Es war alles andere als schwer gewesen, den Namen der Frau, die an einem verhängnisvollen Abend überfahren worden war, in Erfahrung zu bringen. Es war umso leichter gewesen, auch ihre Adresse heraus zu bekommen. Was aber gar nicht so leicht gewesen war, war das Schreiben des Briefes. Das war der schwierigste Teil am Ganzen gewesen.

Sam blickte über den Briefkasten hinweg zum Auto, in dem Conny saß. Er konnte sehen, dass sie zu ihm schaute. Wie die Mutter bei der Aufführung des Theaterstücks in der Schule zu ihrem Kind sah, das im Moment noch am Rande der Bühne stand, aber gerade im Begriff war, die Treppen hinauf zu steigen und dann seinen Text zu rezitieren. Das schaffst du schon, schien ihr Blick zu sagen. Doch wenn er zu lange zögern würde, dann würde Conny wahrscheinlich aussteigen und den Brief selbst einwerfen.

Es war ihre Idee gewesen, ihn zu schreiben. Doch auch Sam hatte die Frau wochenlang nicht mehr losgelassen. Der Satz, den Conny gesagt hatte, war ihm nicht mehr aus dem Kopf gegangen. Sollte der Frau denn keine Gerechtigkeit widerfahren? Sie hatte wenigstens ein Recht darauf, zu wissen, was sich in der Nacht zugetragen hatte. Irgendwann hatte Conny ihm ihre Idee als fast komplett ausgegorenen Plan mitgeteilt. Sie hatten beide dann gemeinsam daran gefeilt, hatten lange diskutiert. Doch eine gewisse Furcht vor dem, was passieren würde, wenn die Geschichte um Danny, Ella und Mario ans Licht kommen würde, hatte Sam sehr beschäftigt. Was würde das nach sich ziehen? Und so hatten er und Conny sich auf einen Kompromiss geeinigt.

Sam öffnete die Klappe des Briefkastens und blickte in die schwarze Dunkelheit. Mach es endlich, sagte er sich in Gedanken. Und dann agierte sein Arm ganz wie von alleine, bevor der Kopf noch protestieren konnte. Für einen blitzschnellen Moment erinnerte sich Sam an den Autopiloten, der mit einem Bulldozer über eine Blumenwiese fuhr. Doch diesmal fühlte es sich anders an. Er warf den Brief durch den Schlitz, sah zu, wie er hinunter glitt und mit einem leisen, kaum hörbaren Geräusch unten aufkam. Jetzt war es geschehen.

Sam ließ die Klappe zufallen und stand einen Moment lang vor dem Briefkasten. Dann entfernte er sich langsam, ohne noch einen Blick zurück zu werfen. Als er wieder neben Conny im Auto saß, starrte er auf das Armaturenbrett. Jetzt lag kein Brief mehr dort. Jetzt lag er im Briefkasten und bald würde er im Briefkasten von der Empfängerin liegen.

"Wir tun genau das Richtige", sagte Conny.

"Ja", bestätigte Sam.

"Sie wird wissen, was passiert ist, wird aber weder Rückschlüsse auf uns noch auf ... das Trio ziehen können", sagte Conny.

"Ja", gab Sam zurück.

Conny strich ihm sanft über den Arm und nahm dann seine Hand und drückte sie. Er schaute ihr in die Augen und sie lächelte ihn an.

"Jetzt sind wir die ganze Sache endlich los", sagte sie.

"Das wurde auch Zeit", antwortete Sam.

"Und jetzt geht's los mit unserem Abenteuer ... mit unserem eigenen Abenteuer. Sag mal, wolltest du nicht noch eine rauchen? Im Auto machst du das auf keinen Fall. Also entweder jetzt oder du wartest, bis wir bei der nächsten Raststätte anhalten ... oder bis wir auf dem Campingplatz angekommen sind", sagte Conny.

Sam hatte den Drang nach einer Zigarette wegen der Aufregung vergessen. Und jetzt hatte er auch keine Lust mehr darauf. Zu sehr hatten ihn die widerstreitenden Gefühle im Griff, die gerade in ihn tobten.

"Jetzt ist mir nicht mehr danach. Ich glaube, ich halte es bestimmt bis zur nächsten Raststätte durch", meinte er.

Conny legte den Rückwärtsgang ein und fuhr los. Als sie das Ortsschild hinter sich gelassen hatten, passierte etwas Komisches. Sam hätte es gerne mit Conny kommuniziert, aber ihm fehlten die Worte dafür. So etwas hatte er noch nie erlebt. Und deshalb behielt er es für sich. Es war, als wären sie durch eine unsichtbare Wand gefahren, wobei er ab der Grenze mit lauter Endorphinen überschüttet worden wäre. Eine Welle totaler Glückseligkeit schwappte über Sam und tauchte ihn von den Füßen bis zum Scheitel ein in wunderbare Frische.

Jetzt. Jetzt konnte es endlich anfangen. Das Gute, das durfte endlich kommen. Er hatte sich der letzten Altlast entledigt, die die belastende Geschichte ihm auferlegt hatte. Dunkel erinnerte sich Sam an ein Märchen, das er einmal im Fernsehen gesehen hatte, konnte sich aber weder des Titels noch der genauen Handlung entsinnen. Es war irgendetwas mit einem Mann, der nach langen Jahren endlich einer eisernen Last los geworden war. Genau so fühlte sich Sam gerade.

Er beugte sich etwas nach vorne und drehte das Radio lauter. Ein schönes, sommerliches Lied lief gerade. Auf Italienisch oder Spanisch, was genau es war, wusste er nicht, aber es gefiel ihm. Er verstand auch kein einziges Wort in dieser Sprache, doch das sommerliche Gefühl, das durch die perlenden Klänge kommuniziert wurde, benötigte auch keine Sprache. Conny grinste und fing an, mit zu singen.

"Kennst du das Lied?", fragte Sam. Conny schüttelte den Kopf und lachte.

Der nächste Halt? Dort, wo es ihnen gefiel. Was passieren würde? Das ließen sie auf sich zukommen. Ihre Aufgabe war erledigt. Es war jetzt am Lauf der Dinge, zu entscheiden wie es kommen würde.

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