Kapitel 25 - Zielsicher
Mit einer flinken Bewegung griff Mario sich hinten unter sein weites T-Shirt, zog eine Waffe aus dem Hosenbund und hielt sie in Connys Richtung. Dieser Moment war so unbegreiflich, so surreal, dass Sam fast nicht glauben konnte, was er gerade sah. Wie war es gekommen, dass diese Situation derart ausartete? Wie ein eiskalter Blitz schoss die Angst durch Sams drahtigen Körper und schlug in seinem Verstand ein. Dort entzündete er ein gleißendes Feuer, aus der eine Chimäre aus Furcht und Wut emporstieg.
"Rück dein verdammtes Handy raus", forderte Mario. Sam machte eine unwillkürliche Bewegung und als Mario das sah, schwenkte er den Lauf in dessen Richtung.
Sam wagte es kaum, sich noch einmal zu rühren. Was ging hier ab? Er war hierher gekommen, mit der Absicht, Danny alles zu entlocken, was in irgendeiner Form mit der Festnahme zu tun hatte. Und jetzt stand er hier mit seiner Freundin in der Wohnung seines ehemals besten Freundes und sah in den Lauf einer Waffe. In diesem Moment war er ganz und vollkommen in der Gegenwart. Alles - sein Körper, sein Verstand - war im Hier und Jetzt. Und in diesem Augenblick, wo seine Sinne einzig und alleine auf den Moment fokussiert waren, sah er jedes kleine Detail in atemberaubender Schärfe. Die Zahnräder seines Verstandes griffen ineinander, als seien sie frisch geölt worden.
"Alter, was soll das? Nimm das Ding runter", sagte Danny mit einer Mischung aus Schreck und Ärger.
Mario ignorierte die Aufforderung und fixierte Sam mit einem Adlerblick. Als würde er versuchen, dessen nächste Handlung vorherzusehen, um schon einige Sekunden früher darauf reagieren zu können. Wie versteinert stand er da und lauerte nur auf Sams nächste Reaktion. Wie ein Wasserspeier, der in einer dynamischen Statik verharrte um sein Opfer zu täuschen, ehe er sich aus der Starre löste und angesprungen kam. Die Situation war gefährlich und Sam wusste, dass eine plötzliche, unbedachte Bewegung böse enden könnte.
"Sag deiner Perle, dass sie ihr Handy hergeben soll", raunte Mario. Sam antwortete nicht. Er sah an Mario vorbei zu Danny und Ella. Seine Augen nahmen jede Kleinigkeit auf und sendeten jeden Reiz an sein Gehirn weiter. Daher fiel ihm etwas an den Gesichtern der beiden auf. Etwas machte ihn stutzig. Da waren sie wieder, die kleinen feinen Details, die ein ganzes Gebilde zum Einsturz bringen konnten. Danny, der nicht überrascht gewirkt hatte, als Sam ihm davon erzählt hatte, dass die exakte Farbe seines Autos den Ausschlag gegeben hatte, dass er wieder frei gekommen war. Die nagelneue Einrichtung in dieser Wohnung. Verdachtsmomente, die die Lügenblase von seinem ex-besten Freund zum Implodieren brachten.
"Keinen Schritt näher", drohte Mario und wiegte die Waffe in der Hand. Und das war der Moment, in dem Sam auf ein Pferd setzte. Und diesmal war es wichtiger denn je, dass es das richtige Pferd war. Er ließ Connys Hand los und kam einen Schritt auf den Kerl zu. Dabei hatte Sam nicht etwas erkannt, das da war, sondern etwas, das fehlte. Ja, nicht immer gaben die Dinge, die vorhanden waren, einen Hinweis, sondern die, die eben nicht da waren. Und was fehlte, war eine ganz bestimmte Gefühlsregung in den Augen von Danny und Ella.
Wie sah man aus, wenn jemand zuhause im eigenen Flur plötzlich eine Waffe zog? Garantiert nicht so, wie Danny und Ella. In deren Augen stand kein Funke Entsetzen. Vielmehr war es ein Ausdruck unangenehmer Überraschung. Aber keine Panik, nichts dergleichen. Sams Blick ging zu Mario. Er traute ihm nicht zu, die Waffe zu benutzen. Viel zu viel Unsicherheit flimmerte jetzt in seinen Augen.
Jetzt, wo Sam das gewagt hatte, das Mario ihm wahrscheinlich nicht zugetraut hätte. Die Gleichung war denkbar einfach. Waffe ist gleich gefährlich. Gefahr ist gleich Angst. Angst ist gleich Starre. Mario hatte erwartet, mit dem Ziehen seines Jokers die Situation in der Hand zu haben. Er hatte damit gerechnet, Sam einschüchtern zu können. Er hatte darauf gezählt, Sams Synapsen durch teerige Angst verkleben zu können, damit sie ihm den Dienst versagten. Da kannte er Sam aber schlecht. Und er hatte sich verkalkuliert. Dieser unausgegorene Plan, der wahrscheinlich nur in diesem Moment im Affekt entstanden sein konnte, würde ihm das Genick brechen.
Der Kerl hat eine noch kürzere Zündschnur als ich, ging es Sam durch den Kopf. Eine Eigenschaft, die einen zu einem schlechten Companion für ein Verbrechen machte. In der ganzen Gleichung, die Danny und Ella aufgestellt hatten, war Mario das unsichere Element.
"Mach keinen Scheiß", zischte Ella ihm zu. Dabei dachte Sam im ersten Moment, die Aufforderung würde ihm gelten. Dann ließ Mario langsam die Waffe sinken.
"Scheiße, Mann, woher wusstest du, dass sie nicht echt ist?", fragte Danny. Neben Enttäuschung schwang eine ordentliche Portion ungewollt gezollten Respekts mit. Es hätte auch anders ausgehen können. Es hätte auch daneben gehen können.
"Weil ihr es gewusst habt", sagte Sam. Die Gesichter von Danny und Ella hatten ihm alles gesagt, was er hatte wissen müssen. Äußerlich sah die Waffe täuschend echt aus. Sie hätte auch echt sein können. Sie hätte geladen sein können. Tödlich statt gefährlich. Aber sie war es nicht und das hatten ihm nicht etwa ein Detail am Aussehen der Waffe verraten, sondern diejenigen, die hier im Flur standen.
Sam drehte sich zu Conny. In ihrem Ausdruck konnte er ohne jeden Zweifel ablesen, dass sie die Waffe für echt gehalten hatte. Alles Blut war aus ihrem Gesicht gewichen und ihre Augen hingen starr an der verschissenen Kunstblume, die auf der Kommode im Flur stand. Verdammt, was für eine Angst dieser Penner ihr eingejagt hatte.
"Hey, das ist nur eine Schreckschusswaffe", sagte er leise zu Conny, nahm ihre Hand und drückte sie sanft. Dann wandte er sich Mario zu. Sam sah ihn einen Moment lang nur an, dann kam er mit einem großen Schritt auf ihn zu, packte ihn vorne an seinem Shirt und drückte ihn gegen die Wand. Dabei fiel ihm die Waffe aus der Hand und landete mit einem metallischen Poltern auf dem Parkettboden. Sie würde sicherlich unschöne Kratzer hinterlassen.
"Verdammter Penner", zischte Sam ihm zu.
"Hey, hey, Sam, lass ihn los." Conny stand hinter ihm und legte ihm ihre Hand auf die Schulter. Und da war es wieder passiert. Der gute Sam hatte wieder einmal die Beherrschung verloren. Aber war es denn nicht gerechtfertigt? Diesmal war es legitim. Weil es diesmal tatsächlich um mehr ging als nur das Unverständnis für den verdammten Logarithmus. Sam ließ das T-Shirt los und entfernte sich langsam von Mario, ohne ihm den Rücken zu kehren. Als er mit dem Fuß gegen die Schreckschusswaffe stieß, zögerte er einen Moment, ließ sie dann aber liegen.
Zu fünft standen sie nun hier im Flur einer gepflegten Wohnung in einer gut situierten Wohnsiedlung. Schweigend. Wie ein Orchester, bei dem gerade niemand wusste, welches Stück als nächstes gespielt werden würde. Alle warteten darauf, dass jemand den ersten Ton vorgab, um dann einsteigen zu können. Den ersten Streich auf dem Kontrabass machte Sam, düster und unheilvoll.
"Wenn ich jetzt die Polizei rufen würde, wer könnte dann einen kleinen Waffenschein vorweisen?", brach Sam die Stille und musste sich sehr zurückhalten, um nicht zu schreien. Sein Körper bebte.
"Mach dich nicht lächerlich", sagte Danny matt, aber dennoch mit einer Spur Überlegenheit in der Stimme. Sam schnaubte, zuckte betont gleichgültig mit den Schultern und holte sein Handy aus der Hosentasche.
"Und wenn sie dann hier sind, können wir ihnen gleich davon erzählen, wie wir dich durchs Wohngebiet haben rasen sehen", sagte Ella kühl.
"Mach das nur. Was soll mir dann passieren? Im schlimmsten Fall kassieren sie meinen Führerschein für ein paar Wochen. Aber ihr? Du, Danny? Ein gefährlicher Eingriff in den Straßenverkehr? Und ein Überfall?", sagte Sam. Das Ass, das Danny ihm gegeben hatte, musste er ausspielen. Nein, er hatte keine Ahnung, was es mit dem Überfall auf sich hatte. Aber auf diesem Weg würde er es vielleicht erfahren. Und wenn nicht, dann hatte er immerhin ein Mittel, um Danny in der Hand zu haben. Dannys Blick verdunkelte sich. Er hatte ihn. Er hatte ihn definitiv.
"So kommen wir nicht weiter. Das hier macht keinen Sinn. Was willst du eigentlich damit erreichen?", fragte er.
"Ich will alles wissen. Alles. Jedes kleine Detail, das irgendetwas mit meinem Fall zu tun hat", sagte Sam.
"Und was machst du mit dem Wissen?"
"Meinen Seelenfrieden wieder herstellen."
"Ist klar."
Und wieder stand Sam in einer Sackgasse. Hätte er die ganze Aktion vielleicht bleiben lassen sollen? Hätte er nicht zu Danny gehen sollen und einfach sein Leben weiter leben? Als sei nichts passiert? Wenn er sowieso nicht vor hatte, etwas mit dem Wissen anzustellen, das er Danny entlocken wollte, warum war er dann gerade hier? Weil Danny sein bester Freund war und weil er keinen Punkt hinter diesen mächtigen Verrat hatte machen wollen. Weil sein bester Freund offensichtlich darin verstrickt war, ihm eine Straftat anzulasten, die er nie begangen hatte. Ließ man so etwas einfach stehen? Sam wollte keine Rache. Die negativen Gefühle hatten schon zu oft zu vieles ruiniert.
"Was hast du mit der Sache zu tun?", fragte Sam Mario.
Keine Antwort. Mario hatte den Blick gesenkt und betrachtete die Schreckschusswaffe, die auf dem Boden lag. Er machte Anstalten, sie wieder aufzuheben, doch Ella schnappte sie ihm weg und legte sie auf die Kommode. Sie fasste sie an, als sei es bloß ein Ding des täglichen Gebrauchs, das da eben auf den Boden gefallen war. Ohne zu zögern. Ganz natürlich.
"Also gut. Wie machen wir das jetzt? Ich koche uns eine Runde Kaffee, Danny holt einen Kuchen vom Bäcker, wir setzen uns zusammen ins Wohnzimmer und machen eine Beichtrunde?", fragte sie sarkastisch und lachte kurz auf.
"So ungefähr", sagte Sam. "Oder Conny und ich gehen jetzt und machen einen kleinen Zwischenstopp auf dem Polizeirevier."
"Das ist Erpressung ...", schnappte Mario wenig überzeugt von der Wirkung seiner Worte.
"Das mag sein. Aber wir drehen uns hier nur im Kreis. Außerdem hast du gerade Conny und mich mit einer verdammten Schreckschusswaffe bedroht. Das kann richtig ins Auge gehen, gerade auf so kurze Distanz, du Idiot! Wollen wir wirklich abwiegen, wessen Schuld schwerer ist? Also?", sagte Sam.
"Sam, es gibt Dinge, bei denen es besser ist, wenn man sie nicht weiß", sagte Danny.
Sam sah ihn starr an und schwieg. Danny zog die Augenbrauen zusammen und hielt Sams Blick stand. Er schien abzuwägen, was er tun sollte. Es war, als huschte ein Schatten hinter seinen Augen durch seinen Kopf. Er schien zu erkennen, dass jetzt der Punkt gekommen war, an dem er Sam doch alles sagen musste. Sam bereitete sich innerlich auf das vor, das er besser nicht hören sollte.
"Gut. Du fragst dich, wie wir die Wohnung finanzieren? Wir haben einen Kredit aufgenommen. Also, Ella hat es gemacht. Es ist uns aber über den Kopf gewachsen. Wir hätten die nächste Rate nicht bezahlen können, also haben wir uns andere Wege überlegt, wie man schnell an Geld kommt. Tja, wir haben eine Tankstelle überfallen", sagte Danny.
Es war, als würde im verdunkelten Theater plötzlich ein Scheinwerfer die einzige Person beleuchten, die gerade auf der Bühne stand. Diese Person war Danny. Jede noch so kleine Furche in seinem Gesicht wurde ausgeleuchtet und er sah erschreckender aus, als im weichen, schmeichelnden Tageslicht. Genau so sah Sam ihn jetzt gerade. In einem anderen Licht, als ob er den, der da gerade redete, gar nicht kennen würde.
"Was? Du?", fragte Conny entsetzt.
"Wir. Mario hat den Fluchtwagen gefahren, Ella hat aufgepasst, ob jemand kommt. Wir haben so schnell gemacht, wie möglich und konnten abhauen, bevor die Polizei vor Ort war. Nur ist doch etwas ... Ungeplantes passiert", fuhr Danny fort.
"Mario hat eine Frau umgefahren", sagte Ella. "Er hat sie nicht gesehen, es war dunkel und in der Nacht ..."
Sams Augen hängten sich an Mario. Der schaute ihn seinerseits an wie ein Hund, den man dabei erwischt hatte, wie er ein Kissen zerfetzt hatte.
"Du? Du hast die Frau umgefahren?", rief Sam. Er konnte seine Stimme nicht mehr in Schach halten. Das Theater war hell erleuchtet und der Vorhang zog sich unerbittlich immer weiter auf. Immer deutlicher und immer vollkommener wurde das Bild, das sich ergab.
"Es war ein Versehen. Keine Absicht. Sie war über die Straße gelaufen, ohne sich umzusehen", versuchte Mario sich zu verteidigen.
"Alter ...", schnaubte Sam verständnislos.
"Mario und ich sind ausgestiegen, um nach der Frau zu sehen. Alles war ruhig, aber dann ist in einem Fenster ein Licht angegangen. Jemand musste etwas gehört haben und ist ans Fenster gekommen. Danny ist schnell auf den Fahrersitz geklettert und sofort losgefahren, damit sich niemand Einzelheiten über das Auto merken konnte. Wir hatten zwar ein falsches Kennzeichen angebracht, aber trotzdem. Der Mann hat uns zugerufen, ob der Typ, der weggefahren sei, die Frau überfahren habe und ob wir etwas mitbekommen hätten. Es stellte sich heraus, dass er gar nicht gesehen hatte, dass wir aus dem Auto ausgestiegen waren. Er dachte, wir seien bloß zwei nächtliche Spaziergänger. Also sagten wir, wir hätten es mitbekommen und der Unfallfahrer sei schon auf und davon. Der Mann hat dann natürlich den Krankenwagen und die Polizei gerufen und wir ... haben eine Aussage gemacht ...", sagte Ella.
"Am nächsten Tag ist Mario allerdings festgenommen worden, weil eine Zeugin ihn anhand seiner Tattoos erkannt hat", ergänzte Danny. "Allerdings nicht wegen der Fahrerflucht, sondern wegen des Überfalls auf die Tankstelle."
"Und so ist er in Untersuchungshaft gekommen ...", spann Sam die Geschehnisse weiter.
"Genau", sagte Ella.
"Dann seid ihr die beiden Zeugen", sagte Sam und deutete auf Ella und Mario.
Einen Moment lang herrschte angespanntes Schweigen.
"Ihr seid solche miesen Arschlöcher", presste Sam hervor.
"Wie kannst du eigentlich so lügen?", schnappte Conny plötzlich hinter Sam. Sie trat näher an Ella heran.
"Es war schon schlimm genug, dass ich mich verplappert habe, wegen der Sache mit der Schaufensterpuppe", sagte Ella und hob beschwichtigend die Hände. "Dir hat es doch auch nicht gefallen, dass dein Freund im Knast gelandet ist, oder? Meinst du, ich wäre glücklich gewesen, wenn sie Danny einkassiert hätten? Wir wollten uns doch nur ein schönes Leben hier aufbauen. Wir wollten nur ein schönes Leben haben und es ist alles verdammt nochmal den Bach runter gegangen!"
In Ellas Augen sammelten sich Tränen. Gegen seinen Willen verspürte Sam einen Hauch von Mitleid mit dieser Frau. Ja, sie hatte sich mit ihrem Liebsten ein schönes Leben aufbauen wollen. Das Fundament war jedoch auf Lügen gegründet. Diese waren bekanntermaßen ein noch schlechteres Fundament als Treibsand.
"Verlogene Schlange", zischte Conny.
Sam nahm ihre Hand und zog sie sanft zu sich. Ihr Brustkorb hob und senkte sich schnell. Sie war richtig wütend. Sie war ganz außer sich.
"Seid ihr jetzt zufrieden? Jetzt wisst ihr alles", sagte Danny. Aber Sam glaubte das keinesfalls. Das sollte alles gewesen sein? Es hatten sich nur noch mehr Fragen ergeben. Die Köpfe der Hydra hatten sich inzwischen potenziert. Wie hatten sie Mario aus dem Knast bekommen? Warum war er ausgerechnet am selben Tag wie Sam entlassen worden? Aus welchem Grund hatte er ihm die offensichtlich erlogene Geschichte mit den vertauschten Kennzeichen aufgetischt? Am liebsten hätte er alles auf einmal fragen wollen. Aber dann fiel ihm eine grundlegende Frage ein, die all den anderen voraus ging. Wer war dieser Typ überhaupt und in welcher Beziehung stand er zu Danny und Ella?
Sam deutete auf Mario.
"Wer ist der Typ?", fragte er. Mario tauschte Blicke mit Ella aus. Sie blickte dann zu Sam.
"Er ist mein Bruder", sagte Ella dann.
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