Kapitel 22 - Schmelzpunkt

Es hätte wirklich einfach sein können. Ganz einfach. Vergessen war dabei das Zauberwort. Es hätte alles vergessen werden können, unter den Teppich gekehrt werden und dann auf Nimmerwiedersehen dort verschwinden. Der Teppich wäre dann vielleicht in zehn oder zwanzig Jahren noch einmal angehoben worden, um da auch einmal zu saugen. Dann wäre es ans Licht gekommen. Aber dann hätte es wahrscheinlich auch keinen mehr interessiert.

Oder doch? War es nicht viel eher so, dass das, was sich unter dem Teppich befand, immer größer wurde, von Tag zu Tag? Dass es sich vom Staub und von der Zeit nährte, in der es im Dunkeln und unentdeckt einfach nur existierte? War es nicht so, dass etwas Schlimmes umso schlimmer wurde, je länger man es vor jemandem verschwieg, der es eigentlich wissen sollte?

Mit dem Tag, an dem Sam freigekommen war, hatte Conny - ob sie es wissentlich wahrgenommen hatte oder nicht - auch wieder angefangen, Pläne zu schmieden. Mit dem Wissen, das sie hatte, wollte sie die Zukunft in die Bahnen lenken, die für Sam und für sie aus ihrer Sicht am besten wären. Aber wie hätte diese Zukunft ausgesehen? Es wäre ein Wechselspiel aus Verheimlichung und Vermeidung geworden. Es wäre, als würde man auf rohen Eiern laufen. Man war sich dessen bewusst, dass sie zerbrechen würden, aber man tat es trotzdem.

Das oberste Ziel wäre gewesen, die Geschichte mit der Festnahme einfach zu vergessen. Den ausgelatschten und zerfransten Teppich des banalen Alltäglichen einfach über dem unangenehmen Zwischenfall auszubreiten. Aus den Augen aus dem Sinn. Dabei war Conny wahrscheinlich selbst auch die ganze Zeit bewusst gewesen, dass das real nicht funktionieren konnte. Es durfte ja geradezu nicht funktionieren, weil es so scheint, als ob jede Lüge früher oder später auffliegen musste. Die Lüge. Die Lüge um Danny. Wobei es weniger eine Lüge als eine Verheimlichung war. Das ist in den Augen vieler Leute dasselbe, dachte Conny, als sie Sams Hand fest umschlossen hielt.

Sie fühlte sich so, wie sich jemand fühlte, der genau wusste, dass er gerade auf ein unaufhaltsames Unheil zu rauschte. Wie jemand, der in einer Achterbahn fuhr, deren Strecke durch eine Lücke in den Schienen unterbrochen war. Man konnte es schon von Weitem sehen, aber man konnte nichts daran ändern, dass man sich in dieser vertrackten Lage befand, denn der Sicherheitsbügel hielt einen fest im Sitz. Man konnte es wahrnehmen, aber das half nichts. Es half nichts, zu wissen, dass da diese Lücke war. Denn das konnte den Lauf der Dinge auch nicht mehr ändern, weil man nicht aus dem verdammten Sitz heraus kam. Das Unglück rauschte immer näher und ehe man sich versah, war es auch schon geschehen.

Sams Vater hatte Conny nach dem Besuch im Krankenhaus bei ihr zu hause abgesetzt und war mit Sam zurück in die Wohnung gefahren. Connys Eltern waren beide zu hause gewesen und sie hatte ihnen dann erzählt, was passiert war. Wobei sie jedoch ein kleines, feines Detail weggelassen hatte: die Schaufensterpuppe. Ihre Eltern hatten erwartungsgemäß entsetzt reagiert, aber in erster Linie wegen der Tatsache, dass Sam unschuldig eingebuchtet worden war.

Nach dem Essen hatte sich Conny in ihr Zimmer begeben, wo sie nicht allzu lange ausharren musste, bis sich ihr Handy meldete. Sie hatte gerade vor dem Bild von sich und Sam gestanden, das sie noch nicht fertig gemalt hatte. Ihr war gerade ein kleiner Makel aufgefallen, was das Licht-Schatten-Verhältnis betraf, als ihr Handy auf ihrem Schreibtisch piepte. Eine Textnachricht von Sam. Ich muss mit ihm reden. Und schon waren sämtliche Alarmglocken bei Conny angegangen. Ihr Puls hatte bei diesen paar Worten, die sich von dem leuchtenden Bildschirm in ihre Netzhaut brannten, angefangen zu rasen. Ich muss mit ihm reden

Oh nein, lass das lieber, hatte Conny gedacht. In derselben Minute, in der sie die Nachricht empfangen hatte, schrieb sie zurück: Wann? Die Antwort kam prompt und entschlossen: Jetzt. Connys Finger schwebte über dem W. Willst du, dass ich mitkomme?, hatte sie schreiben wollen. Stattdessen hatte sie Sam direkt angerufen. 

"Sam, ich glaube, es ist besser, wenn ich auch mitkomme", hatte sie mit hörbar aufgeregter Stimme gesagt.

"Wenn du meinst", hatte Sam ihr entgegnet und sie hatten einen Treffpunkt vereinbart. Wie in Trance hatte Conny sich ihre Handtasche geschnappt, sich bei ihren Eltern abgemeldet und war aus dem Haus gelaufen. Und nun machte sie sich mit Sam an der Hand auf den Weg zu Danny. Seine neue Adresse hatte er Conny gegeben, als Sam im Restaurant hinaus gelaufen war. Als er die beleidigte Leberwurst gegeben hatte und Conny peinlich berührt das Gespräch auf Alltagsbanalitäten gelenkt hatte. Die Tatsache, dass Conny sie wusste und Sam nicht, hatte dieser nicht kommentiert. Conny sah es ihm an, dass ein Mensch gar nicht noch enttäuschter sein konnte, als ihr Freund es gerade war.

Seine Gesichtszüge wirkten wie eingefroren. Er war sehr wortkarg und Conny konnte überhaupt nicht einschätzen, was er tun würde. Aber vor allem konnte sie nicht einschätzen, was Danny tun würde. Würde er zuhause sein? Wenn ja, würde er die Tür öffnen? Wenn ja, wäre er bereit dazu, mit Sam zu sprechen? Wenn ja, würde er gerade heraus sagen, dass er der Idiot war, der die Puppe geworfen hatte? Und was am Ende dieser Kette stand, war die Frage, was Sam dann tun würde. Das war es eigentlich, was Conny am meisten Sorgen bereitete. Was würde Sam tun?

Das schöne Leben, das sie beide sich für die Zeit nach dem Schulabschluss erträumt hatten, schien einmal mehr dahin zu schmelzen. Wie ein Eis in der Sonne. War es einmal zergangen, war es vollkommen unbrauchbar. Ein geschmolzenes Eis wieder einzufrieren konnte man vergessen. Es würde nie wieder mehr so schmecken wie davor. Es würden sich Eiskristalle bilden und es würde nie wieder mehr die cremige Konsistenz wieder erlangen. Der Geschmack würde sich verändern. Es wäre nie wieder mehr wie davor.

Nach Sams Entlassung hatte Conny wirklich gedacht, dass alles wieder besser werden würde. War das Eis da nicht schon geschmolzen? Und hatte sie in der Zwischenzeit einfach nur versucht, ein geschmolzenes Eis wieder einzufrieren? War das Eis dabei, ein zweites Mal auf zu tauen? Nach dem Auftauen nicht wieder einfrieren, ging es Conny durch den Kopf. Beinahe musste sie lachen, bei dieser zusammenhanglosen Assoziation. Ihre jetzige Situation verknüpft mit einer Anweisung auf TK-Pizza-Packungen. Super. 

Was passierte denn, wenn man etwas Aufgetautes wieder einfror? Entstanden dann Salmonellen? Die das Ganze an sich ungenießbar machten? Hoffentlich nicht. Je nachdem, was Danny sagen würde oder nicht, würde Sam böser sein oder nicht. Was würde böse sein heißen? Was würde Sam tun? Würde er etwas tun, das ihm im Nachhinein leid tun würde? Würde er? 

Sam und Conny näherten sich einer hübschen Wohnsiedlung. Die Gegend wirkte sehr gepflegt und es war angenehm ruhig. Hohe Hecken verbargen die mit Sicherheit gut gehegten Gärten, in denen Springbrunnen Wasserfontänen in die Luft schossen. Glänzende Autos parkten unter Carports, die aussahen, als hätte man sie erst vor wenigen Monaten gebaut. Kein Moos, kein Grünspan. Die Gegend war wunderschön. Eigentlich genau das, was sich Conny für sich und Sam gewünscht hätte.

Eine nette Wohnung in so einer Gegend. Das wäre Connys Traum gewesen. Eine gemeinsame Wohnung mit Sam in einem schönen Wohngebiet. Drei oder vier Zimmer. Für eventuellen Nachwuchs. Oh je, wo drifteten Connys Gedanken hin? Bei dem Anblick dieses wunderbaren Ortes war sie ins Träumen verfallen. Dabei drängte sich erst, als sie den ersten Glitter des zauberhaften Eindrucks abgeschüttelt hatte, die Frage danach auf, wie Danny und Ella sich diesen Wohntraum bezahlten.

Danny war - genau wie Sam und Conny - erst seit Kurzem aus der Schule raus. Klar, er hatte einen kleinen Job, aber wie war es möglich, dass Danny mit einem Minigehalt und Ella, die als Friseurin arbeitete, so eine Wohnung finanzieren konnten? Da musste beinahe ihr ganzes Gehalt auf die Miete gehen ...

"Da hinten", sagte Sam und unterbrach Connys Gedankenspaziergang. Er deutete auf ein hellorange gestrichenes Mehrfamilienhaus. Mit der sauberen Fassade fügte es sich perfekt in das Gesamtbild ein.

"Bist du sicher ...?", fragte Conny.

"Klar", sagte Sam. Ein Funken Zweifel schwang in seiner Stimme mit, als er Connys Gesichtsausdruck sah. Jetzt musste sie eine Entscheidung treffen. Sagte sie Sam nichts davon, dass Danny die Puppe geworfen hatte und nahm in Kauf, dass Danny es ihm auf die Nase binden würde, dann wäre Sam enttäuscht von ihr. Sagte sie es ihm und er ging danach auf Danny los, wäre auch nicht viel gewonnen. Egal wie sie sich entschied, Conny würde Federn lassen müssen.

Aber was für ein Inferno würde entfacht werden, wenn Sam diese Information erfuhr? Würde diese Information der Tropfen Wasser in siedend heißem Öl sein? Oder würde sich Sam zurück halten können? Wäre er vielleicht gar nicht überrascht darüber? Die Zeit rannte Conny davon und sie wusste, dass sie es jetzt sagen musste. Sonst würde es Danny vielleicht tun. Oder auch nicht. Was, wenn Conny es sich nur in zu bunten Farben ausmalte? Wenn Danny kein Wörtchen davon sagen würde? Dann wäre sie zu voreilig gewesen. Dann hätte sie einen schlafenden Hund geweckt. Wollte sie schlafende Hunde wecken? Wollte sie das?

"Sam, warte noch einen Moment", sagte Conny und räusperte sich.

Sam sah sie erwartungsvoll an. Ahnte er etwas?

"Ich muss dir etwas sagen."

Wieder dieser Blick. Warum sagte er nicht etwas? Warum schaute er sie nur an? Aus diesem Blick konnte sie nichts ableiten.

"Ich werde dir jetzt etwas sagen, aber du darfst nicht ausrasten", sagte Conny. Wie komisch dieser Satz klingen musste. Wenn jemand schon so anfing, dann konnte man sich denken, was kommen würde. Dann rauschten bereits Mengen an Adrenalin durch den Körper, die auf eine Gefahrensituation vorbereitete, die es so nicht gab. Alles nur im Kopf. Flight or fight. 

"Ich weiß nicht, was das, was in den letzten Tagen passiert ist, noch toppen könnte", sagte Sam tonlos, "also verspreche ich dir, nicht auszurasten. Okay, leg los."

"Ich weiß, wer die Schaufensterpuppe geworfen hat."

Sams Augen schienen ungeduldig in Connys Blick ablesen zu wollen, was jetzt kommen würde. In seinem Kopf ratterte es sichtbar. Er ging wahrscheinlich alle Leute durch, denen er es zutrauen würde und wappnete sich innerlich davor, dass Conny nun einen dieser Namen erwähnen würde. Eine ganze Liste an Leuten, bei denen er die Wahrscheinlichkeit und Unwahrscheinlichkeit kalkulierte, mit denen sie etwas mit dieser Sache zu tun haben könnten.

"Wer?", fragte er.

"Danny."

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