Kapitel 19 - Gratwanderung

Der Bus hielt und die einzige Person, die ausstieg, war ein zotteliger Typ in verknitterter Jogginghose und zerknautschtem T-Shirt. Der Typ fühlte sich mindestens genauso ranzig wie er aussah, aber er war trotzdem glücklich. Glücklich darüber, dass er gerade hier war, dass er gerade aus diesem Bus aussteigen konnte und endlich wieder in sein gewohntes Leben zurück kehren konnte. Das, was den Typen jetzt erwarten würde, konnte er nicht vorhersehen und auch nicht einschätzen. Wie würden die Leute aus seinem Umfeld auf ihn reagieren?

"Sam!", rief Conny und lief ihm in die Arme. Er hatte sie aus dem Augenwinkel kommen sehen, aber sie warf ihn trotzdem fast um, wie sie angeflogen kam.

Eine ganze Weile lang standen beide einfach so da, in der festen Umarmung, als hätten sie sich jahrelang nicht mehr gesehen. In dem Moment wurde Sam klar, dass sie nicht an seine Schuld geglaubt haben musste. Andernfalls hätte sie ihn mit kühlem Blick in Empfang genommen. Andernfalls hätte sie nicht hier auf ihn gewartet. Sie wäre ja nicht einmal an ihr Handy gegangen, wenn sie ihn ernsthaft für schuldig gehalten hätte. 

Sie war jetzt gerade hier, was für ihn eine enorme Erleichterung war. Die gnadenlose Stimme des Zweifels, die einen immer dann befällt, wenn man gerade an einem persönlichen Tiefpunkt angekommen ist, hatte Sam schließlich nahegelegt, dass Conny ihn verlassen würde. Dass sie keinen Freund im Knast haben wollen würde. Dass sie nicht einmal daran glauben würde, dass er nie Fahrerflucht begangen hatte. Aber alle Zeichen signalisierten jetzt gerade etwas anderes.

"Sag mir bitte, was alles passiert ist", flüsterte Conny ihm ins Ohr. Sie wollte ihn gar nicht mehr loslassen. Was für ein schönes Gefühl das war. Sie liebte ihn wirklich. Anders ließ es sich nicht erklären, dass sie trotz allem - trotz der vielen Tränen, der vielen Seitenhiebe, die sie einstecken musste - immer noch zu ihm kam und ihn in den Arm nahm. Conny trat einen Schritt zurück und schaute Sam auffordernd an. Sie würde es jetzt hier und sofort wissen wollen, das sah er ihr an. Hier an der Bushaltestelle. Ging man für solche Gespräche nicht zu sich nach hause? Bis dahin würde Conny nicht warten wollen. Ihre wachsamen Augen forderten Antworten. Und die war Sam ihr auch schuldig.

"Das klingt jetzt unglaubwürdig, aber es ist tatsächlich nicht viel passiert. Also nicht viel im Sinne ... der Quantität. Was die Intensität angeht ... war es viel. Das, was alles passiert ist, lässt sich in wenigen Sätzen zusammenfassen. Am Morgen steht die Polizei bei mir vor der Tür und sagt, ich hätte eine Frau umgefahren. Sie sehen sich mein Auto an und sehen die Delle. Sie nehmen mich mit und ich hocke in Untersuchungshaft, ohne dass sich jemand bei mir meldet. Als ich den Antrag auf einen Anruf stellen will, sagt mir der Wärter, dass ich gehen darf, weil ich wohl der Falsche sei. Tja, das ist es, was passiert ist", sagte Sam und kratzte sich am Kopf.

Ihm fiel auf, dass sich Connys neugieriger Blick ab der Stelle verdüstert hatte, an der er davon gesprochen hatte, dass sich niemand bei ihm gemeldet hatte. War er damit schon wieder in ein Fettnäpfchen getappt? Hatte Sam etwas Falsches gesagt? Hatte Conny es nun als Anschuldigung ihr gegenüber aufgefasst? So war es gar nicht gemeint. Wenn sie in seiner Situation gewesen wäre, dann wäre ihr wohl derselbe Gedanke gekommen. Dann hätte sie auch ungeduldig darauf gewartet, dass sich endlich jemand meldete. Ihr hätte es sicher auch nicht gefallen, wenn sie unschuldig eingebuchtet worden wäre und von Außerhalb sich kein Mensch dafür interessiert hätte.

"Was?", fragte Sam trocken.

"Wie, was?", entgegnete Conny verwirrt.

"Dein Gesichtsausdruck. Als ich gesagt habe, dass sich niemand gemeldet hat. So ist es doch. Ich hatte erwartet, dass meine Mutter zumindest einen Anwalt für mich organisiert. Ist das denn nicht verständlich? Oder warum schaust du mich jetzt so an ...?" Conny zog die Augenbrauen zusammen und Sam merkte, dass er schon wieder zu weit gegangen war. Oder dass er auf dem besten Weg dahin war, schon wieder die Grenze zu übertreten.

Wenn jemand das Recht hatte, sauer und pampig zu sein, dann doch wohl Conny. Sam hatte ihr Sorgen bereitet, ganz klar. Ganz sicher hatte sie schlecht schlafen können. Seinetwegen. Er kannte sie. Und jetzt standen sie hier, sie hatte sich so sehr gefreut, ihn wieder zu sehen, dass sie ihm um den Hals gefallen war. Und Sam wurde schon wieder rückfällig. Keine paar Minuten waren vergangen und er war schon wieder drauf und dran, die Stimmung an den Nullpunkt zu drücken. Und das Schlimmste daran war, dass er sich dessen bewusst war.

Manchmal dachte sich Sam, dass es für ihn wahrscheinlich leichter wäre, wenn er nicht wissen würde, dass er sich nicht richtig verhielt. Und zwar in solchen Situationen, wenn er wie ein Bulldozer ohne Fahrer über die Blumenwiese heizte und dadurch, dass die Maschine keinen Fahrer hatte, wusste sie auch nicht, was richtig oder falsch war. Ja, für ihn wäre das leichter, aber für andere dafür umso schlimmer. Sein Bulldozer hatte einen Fahrer und der war er selbst. Er steuerte die Maschine und sie fuhr auch eine ganze Weile lang dort entlang, wo sie sollte. Nur manchmal driftete sie ab und dann machte Sam alles kaputt, was er sich zuvor aufgebaut hatte.

"Entschuldige", seufzte er und wischte sich mit der Hand übers Gesicht. Conny schaute einige Momente lang in Richtung der Apfelbäume auf dem Feld, atmete tief ein und schaute Sam ernst an. Jetzt kommt's, dachte sich Sam und machte sich darauf gefasst, etwas zu hören zu bekommen, das ihm nicht gefallen würde. Anschuldigungen, Kritik an seiner Person. Die wäre auch berechtigt. 

"Ich kann dir sagen, warum deine Mutter dir keinen Anwalt organisieren konnte. Kurz nachdem du verhaftet wurdest, hatte sie einen Nervenzusammenbruch und ist ins Krankenhaus gekommen. Was inzwischen mit ihr ist, weiß ich leider nicht", sagte Conny.

Das war nicht das, was er zu hören gedacht hatte. Es war sogar um Längen schlimmer. Ein lähmendes Gefühl zog sich durch seinen Körper und es fühlte sich an, als würden Sams Beine ihre Kraft verlieren. Ein dumpfes Kribbeln wie von abertausend Ameisen breitete sich von seinen Füßen über die Schienbeine hoch zu den Knien aus. Er hatte gehört, was sie gesagt hatte und er hatte es auch verstanden, aber er wollte es trotzdem nicht glauben. 

Ja, seine Mutter hatte nicht die besten Nerven. Hatte sie nie gehabt. Als Sams Vater sie verlassen hatte und nach England gezogen war, hatte sie sehr lange gebraucht, um das zu verdauen. Die ersten paar Monate nachdem Sam seinen Führerschein erhalten hatte, hatte sie immer am Fenster seiner Ankunft entgegen gefiebert, weil sie so eine unwahrscheinlich große Angst bei dem Gedanken hatte, dass ihr Sohn allein Auto fuhr. Sie hatte einen Hang dazu, sich wegen vielem verrückt zu machen und Probleme aufzublasen, bis sie so groß waren, dass sie ihr selbst im Weg standen.

Aber es war ihr doch gut gegangen, in letzter Zeit. Es hatte doch gar keinen Anlass gegeben, der einen Nervenzusammenbruch provozieren könnte. Keinen Anlass außer das Auto ihres Sohnes. Keinen Anlass außer das Auftauchen zweier blau gekleideter Menschen, die ihrem Sohn etwas Schreckliches vorgeworfen hatten und ihn am Ende auch noch mitgenommen hatten. Seine Mutter war alleine zurück geblieben. Wen hatte sie denn dann noch zum Reden? Wem hätte sie ihre Sorgen erzählen sollen? Den Tratschtanten aus der Nachbarschaft? Es war ihr wohl einfach zu viel geworden.

Sam war nicht der Typ, der in Tränen ausbrach. Nicht, weil es ihm peinlich wäre, sondern einfach, weil er Fassungslosigkeit und Trauer nicht nach außen hin zeigen konnte. Er gehörte zu der Sorte Leute, denen nicht einmal beim Zwiebelschneiden Tränen kamen. Dabei ließ er seinen Frust manchmal an Gegenständen aus. Das durchgerissene Mathebuch sprach da eine eindeutige Sprache. Manchmal blieb er aber äußerlich ganz ruhig, auch wenn innerlich das reinste Theater herrschte. So wie jetzt.

Es musste für Conny irritierend sein, ihn so da stehen zu sehen. Wie eine Wachsfigur stand er da und starrte sie an. Ihr Blick wurde besorgt. Sie wartete ab, was er sagen würde, dabei war er gerade gar nicht in der Lage, etwas zu sagen. Ihm fehlten die Worte, aber es fühlte sich gleichzeitig auch so an, als habe der Schock seine Stimmbänder lahmgelegt. Irgendwo tief in seinem Inneren hoffte Sam darauf, dass sie ihn in den Arm nehmen würde. Er selbst fühlte sich, als sei er zu keiner Bewegung fähig. Aber Conny war wohl zu sehr verunsichert und blieb dort stehen, wo sie war.

"Sam ...?", fragte sie nach einer Weile vorsichtig.

"Und ich bin schuld daran ...", murmelte er.

"Darüber brauchen wir jetzt nicht zu diskutieren, was passiert ist, ist passiert", sagte sie. Eine ausweichende Antwort, um nicht das sagen zu müssen, was Sam im Prinzip schon wusste. Das Ja hing unausgesprochen in der Luft. Wir brauchen nicht zu diskutieren. Ja. Was passiert ist, ist passiert. Ja.

"Ja", entgegnete Sam knapp.

Was sollte er dazu sagen? Aber vor allem, was sollte er jetzt tun? Nach hause gehen? Ins Krankenhaus fahren? Im Krankenhaus anrufen? Was tat man denn in so einer Situation? Da war sie wieder, die Unsicherheit, in ihrer vollsten und ausladenden Pracht präsentierte sie sich Sam wie ein Ungeheuer, das sich windend aus dem Abwasserkanal aufsteigt und seinen Schatten wirft, bevor es einen verschlingt.

"Was soll ich machen?", fragte er.

Connys Gesichtszüge wurden weicher. Jetzt kam das Mitleidsgesicht. Oh je, das war das Mitleidsgesicht, das für Sam noch nie nötig gewesen war. Für Sam hatte bislang es eher das Du-Scheißfreund-Gesicht gegeben. Jetzt konnte er sich aussuchen, was ihm lieber war. Dabei konnte er es ihr gar nicht verübeln. Ja, mit Sam konnte man doch gerade nur Mitleid haben. Der arme Tropf, der seine Mutter in den Wahnsinn treibt und die Liebe seiner Freundin auf eine harte Probe stellt.

"Wir gehen jetzt erst einmal zu dir nach hause, würde ich sagen. Vielleicht ist deine Mutter inzwischen wieder da. Es tut mir wirklich leid, dass ich mich nicht mehr darüber erkundigt habe, wie es ihr geht. Weißt du, ich habe es auch nur herausgefunden, weil ich bei euch geklingelt hatte, um Einzelheiten darüber zu erfahren, weshalb du verhaftet worden bist und wie das Ganze abgelaufen ist. Von einer ... ziemlich unfreundlichen Nachbarin habe ich dann erfahren, wo sie ist", sagte Conny.

"Du musst dich nicht entschuldigen. Wirklich nicht. Ich habe dich doch in die Scheiße geritten und du hast sowieso zu viel für mich getan. Danke dir", sagte Sam.

Connys Gesicht drückte mildes Erstaunen aus. Einen Moment lang schien es, als wolle sie etwas sagen, doch dann lächelte sie nur und griff sich Sams Hand. So gingen sie gemeinsam zu der Wohnung, in der Sam und seine Mutter lebten. Den ganzen Weg lang sagten sie nichts, aber es musste auch nichts gesagt werden. Manchmal musste ein Moment einfach so für sich stehen. Dann schimmerte er wie eine Perle, deren Schönheit man auch nicht kommentieren musste. Sie stand einfach für sich in ihrer natürlichen Pracht.

Von Weitem konnte Sam erkennen, dass ein paar Fenster offen standen. Es waren zweifelsfrei jene Fenster, die zu der Wohnung gehörten, die er behauste. Eines der Fenster gehörte sogar zu seinem eigenen Zimmer. War seine Mutter wieder da? Sams Herz machte einen kleinen, freudigen Hüpfer. Gleich, sobald er die Wohnung betreten würde, würde er seine Mutter fest in den Arm nehmen und sich für alles entschuldigen, mit was er ihre Seele belastet hatte. 

"Meinst du, deine Mutter ist wieder da?", fragte Conny hoffnungsvoll und drückte seine Hand.

"Ich will es hoffen", sagte Sam und lief unwillkürlich schneller. Der Weg kam ihm vor, als würde er sich unfassbar lang und zäh hinziehen. Er hatte es eilig, sie wieder zu sehen. Wenige Meter vor der Haustür griff er in seine Hosentasche und suchte nach dem Schlüssel. Den hatte er immer in der Tasche, auch wenn er nur zuhause war. Man wusste ja nie. An der Haustür angekommen, ließ Conny seine Hand los und er schloss die Tür auf. Es war ein unverwechselbar schönes Gefühl, wieder nach hause zu kommen.

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