Kapitel 12 - Nachforschungen

Conny beschloss, noch einmal Sams Mutter aufzusuchen. Und das, obwohl sie sich eigentlich gar nicht dazu in der Lage fühlte. Ihr Kopf dröhnte. Ihr Gehirn fühlte sich an wie geröstet. Mit dem Versiegen der Tränen hatte unmittelbar das Kopfweh eingesetzt. Das war obligatorisch und es kam immer dann, wenn Conny wieder einmal besonders hingebungsvoll Tränen vergossen hatte.

Trotz des Drucks in ihrem Schädel war sie voller Tatendrang. Das, was Danny gesagt hatte, konnte und wollte sie nicht so stehen lassen. Sie würde es ihm schon zeigen. Sie würde das Gegenteil beweisen von dem, was er behauptet hatte. Sie würde beweisen, dass Sam kein Krimineller war.

Allerdings brauchte sie dafür mehr Informationen. Wo war Sam zu dem Zeitpunkt gewesen, an dem er angeblich die Frau überfahren haben sollte? Konnte jemand bestätigen, dass er zuhause gewesen war? Was genau hatten die Polizisten gesagt? Was hatten die angeblichen Zeugen gesehen?

Conny ging nach oben ins Bad und warf eine Kopfschmerztablette ein. Dann huschte sie in ihr Zimmer und suchte in den zahlreichen Schubladen ihres Schreibtisches nach einem kleinen Schreibblock. Sie fand einen im Mini-Format, der voller kleiner Zeichnungen von Conny war. Portraits von Schulfreundinnen, die in Freistunden entstanden waren. Ganz hinten waren allerdings noch ein paar unbeschriebene Blätter. Das reichte. Den Block steckte sie in ihre Tasche, warf noch einen Kugelschreiber hinterher und platzierte die Tasche auf ihrem Bett.

Aus dem Kleiderschrank nahm sie sich eine hellblaue Jeans und ein weißes T-Shirt. Frisch gewaschen dufteten sie nach dem Weichspüler, den ihre Mutter immer benutzte. Magnolie. Hmmm. Conny betrachtete sich im Spiegel. Was sie sah, war eine entschlossene junge Frau, die allen Zweifel - auch ihren eigenen - zum Trotz die Unschuld ihres Freundes beweisen wollte.

Das, was sie sah, gefiel ihr. Dieser Ausdruck in ihrem Gesicht stand ihr ausgesprochen gut und der Gedanke daran rang ihr ein kleines Lächeln ab. Sie schnappte sich die Tasche und verließ das Haus. Niemand war da, dem man Tschüss hätte sagen können, also ließ sie die Tür ins Schloss fallen und steuerte auf die Straße zu, in der Sam wohnte.

An dem Haus angekommen, drückte Conny auf die Klingel auf der der Name "Witter" stand. Als sich nach einer Weile des Wartens immer noch nichts rührte, klingelte Conny noch einmal. Wieder nichts. Diesmal hielt sie etwas länger gedrückt. Irgendwo in der Wohnung von Sam und seiner Mutter musste ein Fenster gekippt sein, denn sie konnte ihr eigenes Sturmklingeln sogar hier draußen hören.

Als sie merkte, dass niemand die Tür öffnen würde, ließ sie die Klingel los, trat ein paar Schritte zurück und schaute nach oben. An allen Fenstern außer an dem von Sams Zimmer waren die Jalousien unten. Sehr seltsam. Es war doch fast Mittag. Und so stark schien die Sonne an diesem Tag auch nicht, dass man die Rollläden unten lassen musste.

Conny trat wieder an die Haustür und überlegte, ob sie bei einem der Nachbarn klingeln sollte. Sicherlich, in einer Nachbarschaft bekam doch immer irgendjemand etwas mit. Sollte etwas mit Sams Mutter sein, dann würde ihr schon jemand Auskunft geben können. Andererseits, vielleicht machte sich Conny auch einfach nur verrückt. Vielleicht war Sams Mutter einfach nur bei der Arbeit.

Sie arbeitet Abends, hatte Sam doch erzählt, fiel es Conny ein und sie verwarf den Verdacht wieder. Irene musste also zuhause sein. Und selbst, wenn sie einfach nur zum Einkaufen weggegangen wäre, dann hätte sie doch bestimmt vorher die Rollläden hochgezogen. Irgendetwas musste also passiert sein.

Conny hatte ihren Finger schon auf einem zufällig ausgewählten Klingelknopf eines Nachbarn, da öffnete sich die Eingangstür von innen und ein Mann, der einige Jahre älter sein musste als sie, trat heraus. Er trug eine labbrige Jogginghose leger kombiniert mit Gummisandalen und sah aus, als hätte er nur vor kurzem das Bett verlassen. Unter dem Arm hatte er einen vollen Papierkorb.

"Entschuldigen Sie", fing Conny an. Der Mann machte Anstalten, sie zu ignorieren und einfach an ihr vorbei in Richtung der Mülltonnen zu trotten. Er warf Conny einen kurzen Blick zu, als würde er es gerade bereuen, das Haus verlassen zu haben, blieb jedoch stehen und wandte sich Conny desinteressiert zu.

"Ja?", fragte er.

"Wissen Sie etwas von Frau Witter, die hier im Haus wohnt? Sie reagiert nicht auf mein Klingeln", sagte Conny.

"Deren Sohn die Frau überfahren hat? Keine Ahnung, was mit der ist", grummelte er und musterte Conny leicht überheblich. Plötzlich war er hellwach, sein Interesse schien geweckt zu sein sowie der Name "Witter" gefallen war. Sam musste wirklich ein bunter Hund in der Nachbarschaft sein.

"Was wissen Sie darüber?", hakte Conny nach.

"Das, was alle wissen. Der Kerl hat in der Nacht eine Frau umgemäht und ist weitergefahren. Was für ein Arschloch. Bei so einem ist das auch kein Wunder", erwiderte er und machte eine wegwerfende Handbewegung.

Conny brauchte gar nicht weiter nach zu fragen. Natürlich war man hier in der Gegend mit Sams Fahrstil vertraut. Man kam ja gar nicht drum herum. Natürlich hörte man das Jaulen des Motors und auch, wenn er mit quietschenden Reifen anfuhr. Doch es machte sie wütend, wie dieser Kerl über ihren Freund sprach. Nicht nur, dass er so abfällig über jemanden redete, den er gar nicht kannte, nein, er glaubte einfach die Gerüchte, die hier kursierten, ohne sie eine Sekunde lang zu hinterfragen.

"Danke", rang sich Conny verbissen ab und ließ den Mann gehen. Sie sah sich um. Häuser an Häuser. Dicht an dicht. Irgendwer musste doch mitbekommen haben, was mit Irene war. Ihr Blick fiel auf die Haustür, die offen stand. Der Papierkorb-Mann hatte sie mit einem Holzkeil offen gehalten, damit er sie nicht noch aufschließen musste. Schnell schlüpfte Conny ins Treppenhaus und lief hoch zu der Wohnung, in der Sam bis vor kurzem noch gehaust hatte. Vor seinem ungewollten Umzug in ein vergittertes Ein-Zimmer-Apartment.

An der Tür konnte sie aber keine eindeutigen Spuren erkennen, die ihr Aufschluss über Irenes Verbleib geben konnten. Nur der Fußabtreter, der sonst immer ordentlich an der Tür stand, war schief. Es sah aus, als hätte es jemand sehr eilig gehabt. Obwohl sie wusste, dass es keinen Sinn haben würde, klopfte sie an der Tür.

"Irene?", fragte sie durch die Tür hindurch.

"Was wollen Sie denn?" Hinter ihr hatte sich die Tür zur gegenüber liegenden Wohnung geöffnet und eine ausgezehrte, ältere Frau mit dünnem blondem Haar stand darin.

"Ich wollte zu Frau Witter ...", sagte Conny. Sie fühlte sich auf seltsame Weise ertappt. Diese Frau gab ihr mit ihrem schneidenden Blick das Gefühl, als sollte sie eigentlich gar nicht hier sein.

"Da sind Sie derzeit an der falschen Adresse", gab die Frau mit ausdruckslosem Gesicht zurück.

"Warum? Sie wohnt doch hier", gab Conny zurück und deutete auf die Tür, an der sie angeklopft hatte.

"Sie liegt im Krankenhaus", sagte die Frau. 

"Bitte?"

"Sie hatte einen Nervenzusammenbruch. Einen üblen. Was mich ehrlich gesagt nicht wundert, bei dem Sohn", sagte sie und verdrehte die Augen.

"Wissen Sie, wie es ihr geht?", fragte Conny.

"Na, wie soll es ihr schon gehen? Sie hat sehr viel geweint. Ich konnte sie durch die Wand hören. Die Frau kann einem wirklich leid tun ..." Auf dem Gesicht der Frau stand ehrliches Mitleid. Doch Conny wusste genau, was ihr leid tat. Es tat ihr ganz sicher leid, dass die arme Frau Witter einen solchen Sohn hatte. Einen Sohn, der seiner Mutter graue Haare bereitete. Einen Sohn, der seine Mutter zum Weinen brachte. Ganz sicher war es so. Bei dem Gedanken daran wurde Conny übel.

"Scheiße", murmelte sie, als ihr in derselben Sekunde einfiel, dass niemand Sam einen Anwalt besorgen würde, wenn seine Mutter im Krankenhaus lag. Nahe Verwandte hatte er keine in der Gegend, sein Vater lebte mittlerweile in England und auf seinen besten Freund konnte er auch nicht mehr zählen. Wer noch blieb, war Conny.

"Das können Sie laut sagen. Aber gut, sie haben ihn zum Glück geschnappt. Der ist besser aufgehoben, da wo er jetzt ist. Dann sind unsere Straßen wenigstens sicherer, wenn so ein Bescheuerter nicht mehr sein Unwesen treibt", plauderte die Frau leichthin.

Conny taxierte sie mit starrem Blick. Die Frau fehlinterpretierte dies als Zeichen, dass Conny ihrer Meinung war und fuhr fort. Sie kam regelrecht in Fahrt, als sich die Gelegenheit bot, über Sam her zu ziehen.

"Ich hoffe, die lassen ihn nie wieder mehr raus. So einer ist doch gemeingefährlich! Fast hätte er dieses arme Mädchen umgebracht, habe ich gehört! So einen sollten sie am besten für immer hinter Schloss und Riegel halten ..."

"Wissen Sie, wovon Sie da sprechen?", fragte Conny und zwang sich dazu, das Beben in ihrer Stimme zu verbergen.

"Ich rede von einem stadtbekannten Raser, dem endlich das Handwerk gelegt wurde", sagte die Frau kühl und richtete sich auf, sodass sie ein paar Zentimeter größer wirkte. In ihrer Stimme konnte Conny die volle Überzeugung heraus hören. Ja, sie war vollkommen davon überzeugt, dass Sam der Böse war. Die Unerschütterlichkeit dieser Meinung sah man ihr förmlich an den harten Zügen um ihre schmalen Lippen an.

"Haben Sie auch nur eine Sekunde lang in Betracht gezogen, dass er nicht diese Frau überfahren hat? Dass es jemand anderes gewesen war?", gab Conny ihr zu denken.

"Es liegt doch auf der Hand! Kennen Sie ihn? Wollen Sie mir erzählen, dass der Kerl sicher fährt? Das können Sie mir doch nicht weismachen wollen?" Die Frau trat einen Schritt aus ihrer Tür heraus auf Conny zu. Sie musterte sie eindringlicher und Conny sah ihr an, wie sie in den verstaubten Ecken ihrer Erinnerung nach der Information suchte, woher sie Conny kennen könnte oder wo sie sie schon einmal gesehen hatte. Plötzlich hellte sich das blasse Gesicht auf und ein wissendes Grinsen breitete sich aus.

"So ist die Sache also. Ich wusste, ich habe dich hier schon einmal gesehen. Bist du nicht die Freundin? Die, die immer zu ihm ins Auto steigt? Wenn ich deine Mutter wäre, dann hätte ich das schon längst unterbunden. Und außerdem ... müsstest du nicht den größten Einfluss auf deinen Lover haben? Hört er nicht auf dich? Oder hast du ihm nie gesagt, wie gefährlich das ist, was er tut?"

Die Frau blühte förmlich auf. Während sie von Sam gesprochen hatte, musste sie ihn sich wohl die ganze Zeit über vor Augen geführt haben, das Bild des Rasers in seinem mattgrauen Sportwagen, das ihre Wut über ihn auch in seiner Abwesenheit angefacht hatte. Conny hingegen stand nun direkt vor ihr. Ein weiteres Feindbild, auf das sie ihren Unmut projizieren konnte. Sie drängte Conny verbal in die Ecke.

"Kann man das schon unter Beihilfe fassen?", überlegte die Frau laut und rieb sich nachdenklich das Kinn. Conny traute ihren Ohren kaum. Warum können Menschen so sein, dachte sie. Dieser Hass, den diese Nachbarin auf Sam hatte, machte auch vor Conny nicht Halt. Für sie waren wohl alle, die sich im Dunstkreis von Sam bewegten, mitschuldig. Alle Leute, die etwas hätten tun sollen. Jeder hätte etwas tun sollen, nur man selbst nicht. Vor der eigenen Tür zu fegen war unbequem.

"Was, verdammt nochmal, wollen Sie eigentlich von mir? Sie mit ihrem Halbwissen, das Sie wahrscheinlich aus irgendeiner Fernsehshow haben? Ja, ich habe ihm gesagt, dass er es lassen soll und nein, ich konnte damit nichts ausrichten. Aber warum erzähle ich Ihnen das eigentlich? Es geht Sie einen Scheiß an!", brüllte Conny. Ihre Stimme hallte im Treppenhaus nach.

Das Blut pulsierte in ihrem Gesicht. Sie atmete schwer. Die Frau schien sich jedoch nicht wirklich erschreckt zu haben oder sie war es gewohnt, angeschrien zu werden. Auf jeden Fall schaute sie Conny ausdruckslos an und sagte einige Sekunden lang nichts weiter. Eine Spur von Einsicht suchte Conny in diesem Gesicht vergebens.

"Geh sofort oder ich rufe die Polizei. Dann kannst du deinem Freund in seiner Zelle Gesellschaft leisten", zischte sie.

Ohne ein weiteres Wort zu sagen, drehte sich Conny um und lief die Treppen herunter. Den Tränenschleier, der sich wieder zart über ihre Augen werfen wollte, wischte sie mit dem Handrücken weg. Nein, keine Tränen, nicht wegen so einer Frau. Nicht wegen solchen Menschen. Conny war schockiert über den unausgesprochenen Hass, den sie hier alle gegen ihren Freund hegten. Niemand sagte etwas, aber wenn man sie darauf ansprach, dann kam das volle Ausmaß ihrer bodenlosen Abneigung zum Tragen.

Draußen vor dem Haus drehte sich Conny noch einmal um, weil sie Blicke in ihrem Rücken gespürt hatte. Tatsächlich, die Frau stand ins Fenster gelehnt und schaute ihr nach. Conny wollte vor Wut platzen. So war das also, wenn man sich von jemandem so sehr provoziert fühlte, dass man bebte. Wenn man eine Wut am Rande des Irrsinns erlebte.

Einen Moment lang blieb sie stehen, dann aber lief sie weiter. Beruhige dich und atme tief durch, sagte sie sich. Etwas Unüberlegtes zu tun war nicht ihre Art. Gerade deswegen war sie erschrocken über sich selbst. War sie das gewesen, die gerade diese Frau angebrüllt hatte? Offenbar schon. Sam, was machst du mit mir, dachte sie sich.


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