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Es war das Meer, das mich gefangen hielt. 

Die kühle Seeluft bließ mir ins Gesicht und Tränen bildeten sich in meinen Augenwinkeln. Doch ironischerweise schien die Brise all meine Sorgen zu verwehen, selbst das elende Gefühl in meiner Magengrube und besonders das Ziehen in meinem Herzen. 

Ich sah auf das Meer, das so wirkte, als würde es die gesamte Erdoberfläche bedecken. In diesem Moment mochte man nicht glauben, dass es irgendwo Land gäbe. Manchmal fühlte es sich an als würde ich dort draußen nach etwas suchen, aber was wäre das gewesen? Alles, das ich wollte war doch auf diesem Schiff. Einerlei ob ich es nun wirklich haben konnte oder nicht.

Einige Wolken schoben sich über die Sonne, die schon bald untergehen würde. Schon am ersten Tag tat ich die weise Entscheidung an Deck zu gehen, um die Umgebung zu beobachten, doch jedes mal fing mich das Farbenspiel des Himmels ein, dem ich meine Zeit schenkte, bis der große Feuerball von den dunklen Massen verschluckt wurde und ich somit beinahe das Dinner versäumte. Aber wenn ich ehrlich war, hätte es mir keine Umstände bereitet, dieses Ereignis einmal zu verpassen, war es doch die Gesellschaft am Tisch, die mich daran erinnerte, dass mein Leben niemals in den Fugen laufen würde, die ich ausgekerbt hatte. Jedoch war es meine eigene Schuld, denn es stand mir nicht zu, derlei Hoffnungen in mir zu tragen.

Eine Hand berührte meinen Unterarm, wobei ich diesen sogleich zurückzog und ich mein Gesicht dem vermeintlichen Übeltäter zuwandte. 

"Dachte ich mir, dass ich dich hier finden würde", sagte die liebliche Stimme.

Ich seufzte auf, als ich meine Schwester erkannte und widmete mich wieder dem Horizont. 

"Dein Vater wollte, dass ich dich hole, bevor du wieder Schande über die Manieren der Ryersons bringst", setzte Suzette erneut an, diesmal mit eindeutigem Drängen in der Stimme.

"Nur noch einen Moment... Sieh doch, jeden Moment verschwindet die Sonne im Meer. Es ist als ob man Goliath dabei zusehen, wie er versuchte David zu besiegen... Dieser Augenblick ist schöner, als jedes Gemälde, das man jemals malen könnte."

Ich spürte förmlich wie sie gedanklich ihren Kopf schüttelte und mich als schwachsinnig abstempelte, aber es war mir egal, was sie dachte. Diesmal umgriff sie meinen Oberarm, um zu verdeutlichen, dass es ihre Pflicht war, mich rechtzeitig zurückzubringen. "Suzy, sieh doch!" Aber meine Worten blieben ungehört, als sie mich von der Reling wegzerrte. Diesmal würde das Schauspiel der untergehenden Sonne ohne mich stattfinden.

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Es war das Meer der Gefühle, in dem ich ertrank.

Ein Schauspiel der anderen Art trug sich vor meinen Augen zu, und ich war mittendrin. Wie immer wurde das Abendessen von meiner Familie zelebriert - 11 Gänge voller bunter Farben, intensiven Gerüchen und fadem Geschmack. Den Passagieren der 1. Klasse  fehlte es hier an nichts und doch wirkten so viele von ihnen unglücklich. Alles in diesem Raum war widersprüchlich, allem voran das Schauspiel auf eben diesem Tisch.

"Emily!" - Erst als mich mein Bruder John unauffällig mit seinem Ellbogen anstupste, erwachte ich aus meiner Trance. "Verzeihung", erwiderte ich peinlich berührt, ohne die Bemühung mich über das aktuelle Thema zu informieren, da es ohnehin typisch für mich war, in Träume von fernen Welten zu fallen, während alle anderen in der Gegenwarten lebten. Es war meine Flucht von dem Drama, an dem ich eigentlich gar nicht teilhaben wollte, und es war meine Methode, die Person schräg gegenüber von mir gar nicht wahrhaben zu müssen. Nur ein Blick - es wäre zu viel.

Die Konversation verlief auch ohne mich weiter, wie zuvor. Nur diesmal konnte ich mir meine Flucht nicht mehr erlauben. Ich starrte auf das Essen vor mir, in der Hoffnung, dass dieses Dinner so schnell vorüber gehen würde, wie die Sonne jeden Abend in den Wellen versank. Mein Glas musste öfter nachgefüllt werden als sonst und ich konnte förmlich spüren, wie Mutter mich bereits mit skeptischen Blicken strafte. Diesmal war mir ihre Rüge egal - irgendetwas an diesem Abend fühlte sich final an. Ich dachte, ich könnte so ausgelassen sein, wie ich wollte, doch da war eine Leere in mir, die alles verdrängte.

"Mary Eloise fühlt sich nicht wohl, deshalb verbringt sie den Abend in der Kabine", erschallte es plötzlich gegenüber von mir.

Diese Stimme - sie schnitt wie zerbrochenes Glas durch die dünnen Seile, die sich meine Nerven nannte.

"Nun, wir werden es ihr und ihren besonderen Umständen verzeihen", schmunzelte meine Mutter und alle anderen stimmten ihr fröhlich zu, während sich mir der Magen umdrehte. Es war mir unmöglich auch nur einen weiteren Bissen zu mir zu nehmen. Lamm, Perlhuhn, Spargel, Pastete sowie Desserts - all das ging an mir unberührt vorbei.

Ich war ein Wrack auf diesem Schiff.

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Es war das Meer der ungesagten Worte, das uns verschlang.

Es war schon dunkel, die Luft eisig kalt. Ich hörte das Surren der Maschinen des Dampfschiffes als ich einmal mehr an Deck spazieren ging. Die Sterne funkelte am schwarzen Nachthimmel des Ozeans und es schien, als wären sie meine einzigen Lichtblicke.

Eine Tür neben mir öffnete sich, eine Hand zog mich in den dunklen Raum.

Schwaches Licht schien auf das Gesicht zu der Stimme, die mich noch vor kurzem aus der Fassung brachte. Und da sprach sie schon meinen Namen. Leise, zart, ehrlich.

Ein Blick - er war zu viel.

"Nein, ich kann nicht -", sagte ich zittrig und wand mich zu gehen. Doch seine Hand fand die meine und drehte mein Vorhaben um, was umso leichter war, da mein Wille zu gehen ohnehin nicht vorhanden war.

Zwei Blicke, drei Blicke, vier Blicke,... ewig hätte ich hier stehen und ihn nichtssagend ansehen können. Ich erkannte - es war das Meer in seinen Augen, das mich gefangen hielt. "Lucian", flüsterte ich und Tränen stiegen mir in die Augen, doch konnte ich unmöglich einordnen, ob der Grund Trauer oder Glück war. Seine Nähe - es war richtig, und es war doch so falsch.

Seine Hand auf meinem Kinn - alles in mir brannte. Es war als ob mein Magen knurrte, und nur er konnte diesen Hunger stillen. Alles das ich wollte, war hier.

Seine Lippen auf den meinen - der Augenblick war vollkommen.

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Es war das Meer der Unendlichkeit, das uns mitriss.

Und es war der Eisberg, der uns auseinander riss.

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