XXIX

• L U K E •

Mein Herz machte einen schmerzlichen Satz als ich seit langer Zeit wieder in die Augen meines Bruders sah. Blau wie der Himmel schienen sie mir entgegen und trugen so viele Emotionen in sich, dass mir fast die Tränen kamen. Nie hätte ich geglaubt ihn so schnell wiederzusehen. Und dann auch noch an solch einem Ort.

„Luke, was machst du denn hier?"

„Was machst du hier?!", schrie ich ihm entgegen und ignorierte mein Herz, welches merklich immer schneller schlug. Die Freude ihn zu sehen, machte meiner Wut und Angst Platz.

Doch sein Blick blieb sanft wie eh und je. „Offensichtlich das Selbe wie du hier." Noch nicht ganz bei Sinnen, mein Kopf schmerzte schließlich noch immer, sah ich ihn verdutzt an. Meine Augen gewöhnten sich langsam an die Dunkelheit hier drinnen. Seufzend lehnte er sich an die Wand in seinem Rücken, wobei die dunklen Ketten an seinen Händen klirrten. „Mich haben sie noch in der Nacht gefunden als du mich verlassen hast." Kurz lachte er humorlos auf. „Ich wusste nicht, ob ich froh oder traurig sein sollte, weil du nicht mehr da warst."

„Ich hätte es nicht tun dürfen", flüsterte ich und spürte, wie sich mein Brustkorb um mein Herz zusammenzog und mir die Luft abdrückte. „Es tut mir so leid, Zain. Ich..."

Erschöpft brach ich ab. Ich konnte nicht mehr. Ob es die Gefahr war, die uns umgab oder die schmerzliche Erinnerung, die Zains Gegenwart mitbrachte, es war mir einfach alles zu viel. Kraftlos ließ ich meinen Kopf auf die Knie sinken und atmete einmal die kühle Höhlenluft ein.

„Ist in Ordnung", sagte er genauso leise zurück und ich kniff die Augen zusammen. Er sollte mich anschreien. Nicht alles hinnehmen!

„Ich will eure echt rührende Familienzusammenführung eigentlich nicht unterbrechen, aber wir sollten uns einen Plan überlegen, wie wir hier wieder rauskommen!", knurrte Darryl plötzlich von der anderen Seite. Einen Moment später zischte er leise auf. Wahrscheinlich hatte Laila ihn geschlagen.

Weitere Seile hörte ich über den Boden schleifen und einen Moment später war Molotov neben mir. „Dreh dich mit dem Rücken zu mir."

Stirnrunzelnd tat ich was er verlangte. Ich spürte seine Hände auf meinen Armen und hob überrascht die Augenbrauen. War er etwa frei? Hoffnungsvoll sah ich nach hinten und keinen Augenblick später sanken die einschneidenden Seile zu Boden. Grinsend sah er hoch zu mir und hielt mir ein kleines Messer vor die Nase. Sein Ernst?

„Hör auf mit deinen Fähigkeiten anzugeben und nutz sie lieber!", keifte Darryl.

Lachend wandte sich der Orangehaarige ab und befreite auch die anderen. Erleichtert rieb Arthur sich die Arme als er aufstand und zu Zain hinüberging. Ratlos nahm er dessen Ketten in die Hand und sah zu mir. „Dein Bruder?" Ich nickte nur und unser Lehrer fuhr sich übers Gesicht. „Die kriegen wir so nicht auf... Wir brauchen den Schlüssel."

„Schlüssel?"

„Klein. Aus Metall. Für das Schloss?"

„Ich weiß was ein Schlüssel ist!", warf ich ihm beleidigt an den Kopf, doch er ignorierte mich. Stattdessen sah er in den Gang, der weiter in die tropfende Höhle führte.

In der Zwischenzeit waren alle anderen auch befreit und Darryl kam schnell auf uns zu. „Unser Plan die bescheuerte Sekte auszulöschen hat zwar ne ordentliche Delle bekommen, aber wir werden das trotzdem durchziehen", bestimmte er sicher. „Nur dieses Mal anders."

„Wie meinst du das?", fragte David zögerlich nach.

Unbehaglich sah der Schwarzhaarige in die Runde. „Wir werden die Polizei einschalten. Die Sache muss offiziell gemacht werden, endgültig."

„Sicher?"

Darryl nickte. „Ich wünschte es gäbe einen anderen Weg, aber... Jedenfalls haben wir hier unten kein Netz. Laila du gehst mit David nach draußen. Ihr werdet Hilfe holen."

Unzufrieden wanderte der Blick seiner Freundin zu ihm. „Und du?"

„Wir werden dafür sorgen, dass das ein Ende hat. Und den Schlüssel für Zain holen", erklärte er und während wir zustimmend nickten und den Gang betraten, blieb Laila sauer zurück. Ich sah nur aus dem Augenwinkel wie Darryl seine Hand an ihre Wange legte, ihr einige Worte ins Ohr flüsterte und ihr anschließend einen hingebungsvollen Kuss gab.

Ich kniete mich derweil zu meinem Bruder. „Wir holen den Schlüssel, bleib du so lange hier."

„Du bist ja witzig", entgegnete er mit genervtem Blick.

„Komm jetzt!", forderte Laslo und zog mich an der Schulter mit sich in den Gang. Würde es zu einem Kampf kommen hätten wir wohl kaum eine Chance. Aber sie wussten ja auch nicht, dass wir wieder frei waren.

Doch Zain hielt mich nochmal auf. „Sei vorsichtig", verlangte er.

„Mach ich", versicherte ich ihm und für einen Augenblick hielt unser Augenkontakt für eine gefühlte Ewigkeit. Ich konnte die schimmernde Angst in seinen Augen erkennen. Die Angst, einen Bruder zu verlieren. Erneut. Ohne, dass er etwas dagegen tun konnte. Angekettet und verletzt in einer Höhle. Einen solchen Verlust würde er ein zweites Mal nicht verkraften.

Ungern trennte ich mich von ihm. Wollte ihn nicht allein lassen. Doch es ging nicht anders.

So lief ich Laslo und den anderen hinterher ins Innere der Höhle. Nie hätte ich gedacht, dass vermeidliche Versteck des feindlichen Clans zu sehen. Der Grund der Schlucht, die wie ein böses Zeichen in meinem Leben war, war schon immer eine mysteriöse Sache. Dass dort aber eben das geheime und zurückgezogene Lager der Mantelträger war, hätte ich mir eigentlich auch selbst denken können.

„Was machen wir, wenn wir erwischt werden?", stellte Molotov die Frage, die mir auch schon die ganze Zeit Magenschmerzen bereitete.

„Dann rennen wir um unser Leben", gab unser Lehrer eintönig von sich und spähte vorsichtig um die Ecke.

Empört sah ich ihn an. „Und was ist dann mit Zain?!"

„Der hat dann Pech ge-"

„Ruhe jetzt!", unterbrach ihn Darryls flüsternd und sah uns alle mahnend an. Genervt zog ich den Kopf ein und zog die kalte Luft in meine Lunge. Wir sollten besser unentdeckt bleiben. Denn Zain würde ich unter keinen Umständen zurücklassen! Lieber würde ich sterben.

Laslo deutete uns an, ebenfalls um die Ecke zu sehen. Drei Männer. Die konnten wir zu viert leicht überwältigen. Nur würde dies wahrscheinlich die anderen alarmieren. „Der Dicke hat den Schlüssel, würden wir sie angreifen, brauchen die anderen zu lange hier her. Sie sind mit Sicherheit im Versammlungsraum."

„Es gibt nen Versammlungsraum?!", krähte Molotov dazwischen.

Hochnäsig zog Arthur die Nase kraus. „Was dachtest du denn wo die Opfer gegeben werden?" Ungläubig schüttelte er mit dem Kopf. „Eure kleine Freundin wird die Polizei hoffentlich bald verständigen. Von hier aus ist es nicht weit bis zum Tunnelausgang. Wenn-"

„Man, woher weißt du das alles?", wollte der Orangehaarige wissen.
Sauer stieß Darryl ihn an. „Der hat bei denen gearbeitet!"

„Aha."

„Wir greifen sie an", begann Laslo erneut. „Verschaffen Laila und David Zeit, damit sie Hilfe holen können." Sein Blick wanderte zu mir. „Und du holst Zain. Er ist sicherlich verletzt, ich glaub kaum, dass sie ihn gut behandelt haben. Wenn er überhaupt richtig laufen kann."

Ich nickte. Mein Blick entschlossen. Das klang nach einem guten Plan. Wir hatten ja auch keinen anderen.

Da wir uns alle einig waren, ging von da an alles recht schnell. Aber auch laut. Die anderen Sektenmitglieder hatten uns bestimmt schon gehört. Wie auch nicht? Ich verhielt mich im Kampf gegen die drei eher passiv. Erst als Molotov mir den Schlüssel zuwarf und ich schnell den Gang zurück rannte, hörte ich mein Herz laut pochen. Meine Hände zitterten und der eisige Schlüssel klapperte in meiner Hand. Hinter mir hörte ich entfernte Kampfgeräusche.

Bei Zain angekommen, schmiss ich mich vor ihm auf die Knie und versuchte das Schloss aufzusperren. Dabei rutschte mir der Schlüssel immer wieder auf den Boden vor Aufregung.

„Luke, beruhig dich!", wies mich mein großer Bruder an.

Ungläubig sah ich ihn an. „Versuch du das mal. Außerdem bleibt uns nicht viel Zeit!"

„Da hat er allerdings recht", vernahm ich plötzlich eine fremde Stimme hinter mir und als ich etwas kaltes am Kopf spürte, war mir sofort klar, dass ich am Arsch war. „Dachtet ihr wirklich, dass es so einfach wird?" Erstarrt blieb ich sitzen und hielt den Atem an. „Was denkt ihr-"

Doch er sprach nicht zu Ende, schrie stattdessen nur erschrocken auf. Blitzschnell drehte ich mich um und sah, wie Darryl den Angreifer an die Wand drückte. Die schwarze Waffe lag auf dem Boden und war somit keine Gefahr mehr.

„Du Verräter!", knurrte Darryl. „Wie konntest du nur?!"

„Ich bin kein Verräter!", entgegnete dieser nur und so langsam erinnerte ich mich an seinen Namen. Kion. „Ich war von Anfang an bei ihnen-", erklärte er, doch für Darryl war das genug.

Ich konnte die Wut in seinen Augen, in dem Moment als ihm die List klar wurde, förmlich sehen. Deswegen überraschte es mich auch nicht als Darryl ihn nochmals energisch gegen die Wand drückte und Kions Kopf heftig gegen den Stein schlug. Blut spritzte und färbte den sandigen Boden rot. Anschließend fiel sein bewusstloser, oder vielleicht auch toter Körper zu Boden.

Aus Darryl schien die Kraft, die durch die Wut entstanden war, zu entweichen und seine Schultern sackten nach unten. Ich hingegen spürte nur Erleichterung, weil ich noch lebte.

Der Zustand hielt aber nicht lange, denn die Schreie mehrere Männer drangen zu uns hindurch und ich widmete mich wieder meiner Aufgabe. Zain befreien. Meine Hände waren noch immer zittrig, doch die angespannte Situation sorgte dafür, dass ich mich zusammenriss und das Schloss letztlich dennoch aufbekam.

„Bring ihn nach draußen, ich helfe den anderen", meinte Darryl mit einem verletzten Blick in Kions Richtung noch, ehe er wieder verschwand.

Ich wollte erst protestieren, immerhin konnte er kaum etwas gegen den ganzen Clan ausrichten. Doch ich hielt den Mund. Zain war wichtiger. Und außerdem brauchten Arthur und Molotov sicher Hilfe. So half ich Zain auf, der wie zu erwarten äußerst schwach auf den Beinen war und selbst kaum laufen konnte. Seinen Arm legte ich über meine Schultern und stand zusammen mit ihm auf.

„Dann bringen wir dich mal raus."

Doch mein großer Bruder schüttelte den Kopf. „Das schaffen wir nie... lass mich hier."

„Bist du irre?!", fauchte ich ihn an. „Du hast mich damals bei der Verbannung nicht allein gelassen, hast alles aufgegeben und dich mit mir ins Ungewisse gestürzt. Denkst du da allen Ernstes, dass ich wegrenne und dich zurücklasse?!"

Zain senkte den Kopf. „Nein, aber es wäre vermutlich klüger."

„Vermutlich", schnaubte ich nur und zog ihn den Gang entlang.

Früher war er immer schwerer als ich. Jetzt hingegen hätte ich ihn auch gleich tragen können, unglaublich, wie viel er abgenommen hatte. Sehr weit kamen wir aber dennoch nicht. Ich hörte Schritte von hinten, bekam Angst. Und da ich keine Ahnung hatte, was ich tun sollte, sah ich mich nur nervös um und schob Zain und anschließend mich in eine Spalte an der Wand. Im Schutz der Dunkelheit ein ideales Versteck.

Mein Herz pochte kräftig in meiner Brust und beinahe hatte ich mich schon mit dem Gedanken abgefunden, dass mein letztes Stündlein geschlagen hätte.

Doch es kam anders. Statt einer Person, die um die Ecke schnellte und uns angriff, hörte ich nur einen Ohrenbetäubenden Schuss und zuckte stark zusammen. Ein dumpfer Aufprall vor der Nische erklang und als ich meinen Hals zögerlich nach vorn streckte, sah ich eine Hand am Boden liegen. Der Körper, zu dem sie gehörte sicherlich tot. Aufatmend entspannte ich mich, bis mir der Gedanke kam, wer denn geschossen hatte!

„Geh raus, Kleiner!", verlangte eine bekannte Stimme und schon sah ich in das Gesicht des alten Mannes. Oder Jägers. Besser gesagt Lailas Vater. Jetzt verstand ich gar nichts mehr.

Zögerlich betrat ich den engen Gang, musste jedoch schnell zur Seite gehen, als ich von recht jungen Mann beinahe über den Haufen gerannt worden wäre. „Wie?", entwich es mir und ein Blick zu meinem Bruder zeigte mir, dass er noch weniger verstand.

„Das ist Darryls Clan, sieht man doch", herrschte er uns an und lud seine Waffe neu. „Und jetzt raus hier!"

Immer noch verwirrte, aber mit einem leichten Gefühl in der Brust, bahnte ich mir einen Weg nach draußen. Dabei kamen mir unzählige weitere Clanmitglieder entgegen. Keine Ahnung, wie das passieren konnte, aber Laila hatte sich scheinbar nicht an den Plan gehalten. Auch David kam mir entgegen, warf uns einen besorgten Blick zu und folgte dann den anderen.

Mit einem schlechten Gewissen, weil ich sie allein ließ, verließ ich die Höhle. Zain hatte Vorrang. Das hatte er schon immer. Bei der Verbannung hatte er seinen Bruder seinem Clan vorgezogen. Und jetzt würde ich ihn vorziehen. Und das jederzeit. Weil ich nun wusste, wo mein Zuhause war und was für mich das Wichtigste war.

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