IX
Geschockt starrte ich meine Zimmertür an. Was war das denn jetzt? So etwas hatte er doch noch nie getan! Wieso war er jetzt so?!
Irgendwann hatte ich mich wieder gefasst und stand auf, um gegen die Tür zu klopfen. „Lass mich raus! Bitte!", schrie ich, doch er antwortete nicht. „Dad!", versuchte ich es erneut, wurde aber wieder ignoriert.
Geschlagen ließ ich mich an der Tür hinab sinken und versteckte mein Gesicht in meinen Händen. Ich wollte nicht weinen, aber eine einzelne Träne entwich mir dennoch. Da kam mein Vater einmal eher nach Hause und ich musste mal nicht allein den Abend verbringen und dann das!
Da wäre ich lieber allein gewesen.
Ein Vibrieren durchbrach die Stille und ich hob meinen Kopf. Dann holte ich mein Handy aus der Hosentasche und schaute auf das Display. Es hatte einen kleinen Sprung von heute Mittag, aber war sonst in Ordnung. Eine Nachricht von David.
David: (20:10)
Hi, wollte mal eben fragen, ob alles in Ordnung ist. Du bist nicht mehr zum Unterricht gekommen und Darryl auch nicht. 😕
Ich musste lächeln als ich seine Worte las. Er war offenbar neben Sara der Einzige, der sich Sorgen um mich machte. Und vielleicht noch Darryl, aber bei ihm war ich mir nicht so sicher. Aber andererseits hätte David doch auch einfach Darryl selbst fragen können. Oder hatte er es ihm nicht erzählt?
Was sollte ich denn jetzt darauf antworten? Gerade ging es mir alles andere als gut und eigentlich sollte ich ja den Kontakt zu ihnen meiden. Sollte ich ihm die Wahrheit sagen oder eher anlügen? Hin und her gerissen kaute ich auf meiner Unterlippe herum.
Du: (20:11)
Hey, ja geht schon, Darryl war ja da. Wir sind
dann eben einfach gegangen, den Rest kann er
dir ja selbst erzählen.
Ich drückte auf Absenden und schloss kurz die Augen. Die Erinnerung an heute saß mir noch tief in den Knochen und ließ mich beim bloßen Gedanken erschaudern. Ob sie mich jetzt wirklich in Ruhe lassen würden? Um ehrlich zu sein, ich bezweifelte es, auch wenn Darryls Auftritt für mächtig Angst bei ihnen gesorgt hatte. Es dauerte nicht lange, da vibrierte mein Handy erneut.
David: (20:11)
Aha, ihr habt also zu zweit die Schule verlassen?😏
Vor meinem inneren Auge sah ich ihn grinsen und mit den Augenbrauen wackeln. Dann kam auch schon die nächste Nachricht.
David: (20:11)
Und mich habt ihr einfach allein gelassen?! Wie gemein seid ihr denn bitte?!😱😫
Jetzt musste ich loslachen. Wenn er wüsste. Schnell tippte ich meine Antwort.
Du: (20:12)
Erstens haben wir gar nicht zusammen die Schule verlassen und zweitens haben wir dich auch nicht allein gelassen. Du warst im Unterricht, also selbst schuld.
Er wollte doch so dringend in den Unterricht, also sollte er sich auch nicht beschweren. Außerdem war das definitiv nicht geplant gewesen. Mit einem leichten Lächeln auf den Lippen starrte ich aufs Handy und wartete auf seine Antwort.
David: (20:13)
Ihr habt euch gegen mich verschworen! Außerdem bin ich nur in den Unterricht geflüchtete, weil du mich so ausgequetscht hast!😠🧐🤯
Verteidigte er sich und brachte mich somit wieder zum Schmunzeln. Ich konnte nicht anders, als ihn ein bisschen zu provozieren. Seine kindliche Art, ließ einfach nichts anderes zu.
Du: (20:13)
Wenn wir schon mal dabei sind, was meintest du mit, dass Darryl nachts in der Nähe war?
Jetzt war David offline. Na super! Allerdings brachte ich es nicht übers Herz, ihm für das Fest abzusagen. Den Grund, warum ich eigentlich hier auf dem Boden saß, hatte ich schon längst vergessen. David hatte es echt geschafft mich aufzumuntern und er wusste es noch nicht mal.
Ich stand erstmal auf, da es schon dunkel war und ging zum Fenster, um es zu öffnen. Kühler Wind kam mir entgegen und blies mir ins Gesicht. Es war eine sehr klare Nacht und ich konnte die Sterne und den hellen Mond deutlich sehen. Meine Arme stützte ich auf der Fensterbank ab und genoss einfach den Moment der Stille.
Dann glitt mein Blick wieder nach unten. Genau hier war Darryl vergangene Nacht runtergesprungen, ganz ohne sich zu verletzen. Aber da gab es noch eine Frage, wie hatte er mein Fenster aufbekommen?
Irgendwie fühlte ich mich beobachtet. Doch in meinem Zimmer war niemand und als ich wieder nach draußen sah, war da auch nur der dunkle Wald, sonst niemand. Langsam bekam ich wieder Angst und schnell schloss ich das Fenster. Ich liebte den Wald genauso wie die Nacht, auch wenn ich auf der anderen Seite eine gewisse Angst davor hatte.
Nach dem ich nochmal kontrolliert hatte, ob die Tür auch wirklich zu gesperrt war, legte ich mich schlafen. Würde ich heute wieder Träumen? Die Antwort würde ich bald bekommen, denn meine Augenlider wurden schwer und ich schlief langsam ein. Irgendwie hoffte ich ja schon fast, ihn zu sehen.
Erst sah ich nur Dunkelheit, dann klärte sich mein Sichtfeld und ich stand wieder inmitten des dunklen Waldes umringt von Nebel. Doch ich wurde mal nicht gejagt und halb zu Tode gehetzt. Stattdessen durchbrach ein Schrei die Stille. Unweigerlich zuckte ich zusammen.
Es war ein Schrei, der durch Mark und Bein ging und er klang so verzweifelt und leidend. Augenblicklich bekam ich Gänsehaut und meine altbekannte Angst kam zurück.
Hektisch sah ich mich um. Doch ich war allein, nur das Echo des Schreis war noch da, wurde aber immer leiser. Der Nebel verschwand und gab die Sicht auf zwei Personen frei. Ich sah nur ihre Umrisse, da ich zu weit weg war. Die eine Person lag am Boden und die andere hockte daneben.
Ich trat etwas näher und war erstaunt, woher ich auf einmal den Mut dazu hatte. Doch ein Knacksen ließ mich zusammenzucken. Ich war offenbar auf einen Ast getreten. Ängstlich sah ich zu den beiden Männern. Doch keine Reaktion, also konnten sie mich wohl nicht sehen, ich trat also etwas näher.
Und da sah ich auch, weshalb der eine Mann auf dem Boden lag. Eine große Blutlache hatte sich unter ihm gesammelt und seine Augen starrten ins Weite. Er war tot.
Seine langen blonden Haare waren bereits rot und verklebt vom Blut und seine braunen Augen fehlte jeglicher Lebensfunke.
Mein Blick ging zu dem Jungen, der daneben kniete. Er hatte schwarze Haare und hielt etwas Silbernes in der Hand. Mit krummen Rücken saß er da und litt. Seine Hände und Klamotten waren ebenfalls blutverklebt und ich hatte unendlich viel Mitleid mit ihm. Wie er da saß und trauerte, brach mir fast das Herz.
Am liebsten würde ich zu ihm gehen, ihm die Hand auf die Schulter legen und sagen, dass er nicht allein war. Doch das konnte ich nicht. Ich konnte nur daneben stehen und zusehen. Von ihm kam wohl auch der verzweifelte Schrei. Vielleicht hatte er um Hilfe gerufen oder es war nur ein bitterer Klagelaut.
Da er seinen Kopf nun auf die Brust des Mannes gelegt hatte, konnte ich sein Gesicht nicht sehen. Der Anblick war einfach schrecklich.
Aber wer hatte den Mann getötet? Wir waren hier doch ganz allein, oder nicht? Wie um meine Fragen zu beantworten, hörte ich weitere Stimmen und Schritte. Sie kamen schnell näher und auch der Junge zuckte zusammen. Er hob sein von Tränen nasses Gesicht und sah sich panisch um. Ich tat es ihm gleich, doch konnte nichts sehen.
Dann ein weiterer Schuss und mir entwich ein ängstlicher Schrei.
Ich schreckte hoch und war wieder in meinem Zimmer. Kein Blut, keine Schüsse, kein dunkler Wald und kein trauernder Junge. Ich atmete durch. Zum Glück musste ich das schreckliche Bild nicht mehr sehen, aber auf der anderen Seite hätte ich dem Jungen gerne geholfen. Keine Ahnung wie, aber irgendwas hätte ich tun müssen.
Doch jetzt stand erstmal Schule an. Am liebsten hätte ich mich wieder hingelegt, aber auf der anderen Seite wartete Sara auf mich. Wenigstens eine gute Sache. Also machte ich mich doch fertig. Die Tür war auch wieder auf, aber mein Vater war schon weg, war vielleicht auch gut so...
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