Kapitel 6
Natürlich musste ich nicht lange überlegen. Um genau zu sein, musste ich das kein bisschen. Selbstverständlich habe ich eingewilligt und auf mein Frühstück verzichtet. Meine Mitmenschen sind mir eindeutig wichtiger als eine gute Note.
Also sind Stefan und ich in den Wald gegangen, wo er mich ein Reh jagen ließ. Ich habe mich zuerst geweigert, bin der Anweisung dann aber doch gefolgt. Der Geschmack des Blutes hat mich mein Gesicht erst einmal verziehen lassen, sodass ich den 17-Jährigen - wobei, eigentlich müsste er schon über 170 Jahre alt sein, wie ich erfahren habe - fragte, wie er so etwas freiwillig trinken kann. Ich würde Menschenblut jederzeit bevorzugen. Aber im Notfall komme ich auch mit Tierblut klar.
Nachdem ich mich im Wald gut unter Kontrolle gehabt hatte, haben wir uns unter Leute gemischt. In einer verlassenen Gasse hat Stefan einen jungen Mann beiseite gezogen, ihn manipuliert und mich auch von ihm trinken lassen. Sogar dieses Mal konnte ich rechtzeitig aufhören. Danach gab ich ihm etwas von meinem Blut, das auf Menschen eine heilende Wirkung hat.
Zum Schluss sollte ich selbst den Mann manipulieren, indem ich ihm in die Augen schaute und die Worte selbstbewusst und überzeugt zu ihm sprach. Ich war unglaublich nervös, fragte mich, was passieren würde, wenn ich versagen würde. Doch die Antwort blieb mir erspart. Ich brachte den Herren wirklich dazu, sich zweimal im Kreis zu drehen und dann zu verschwinden, ohne sich an unsere Begegnung zu erinnern.
Heute ist der Tag, an dem sich zeigen wird, ob sich diese Art Training gestern bezahlt macht. Heute ist mein erster Schultag als Vampir. Und da ich nicht überall mit Stefan oder Elena in einem Kurs bin, können sie mich nicht immer im Auge behalten.
Im Moment stehe ich draußen vor der Haustür unseres Hauses und warte auf Olivia. Da sie bereits im Besitz eines Autos ist und ich keine Lust auf einen vollen Bus habe, kann ich immer bei ihr mitfahren. Blöd ist nur, wenn sie dann mal früher aus hat, denn in dem Fall habe ich gar keine andere Wahl, als den Bus zu nehmen.
Gerade als ich auf meine Armbanduhr schauen möchte, nehme ich Motorgeräusche wahr und der weiße Wagen meiner Freundin bleibt direkt neben unserem Hof stehen. Schnell schreite ich darauf zu, ziehe meinen Rucksack von meiner Schulter ab, öffne die Tür und setze mich hinein auf den Beifahrersitz.
"Hey", begrüßt Olivia mich lächelnd, woraufhin ich ihr mit dem gleichen Wort antworte. Sie löst sogleich die Handbremse, setzt den Blinker und fährt von der Stelle. Ihr ist es besonders wichtig, immer rechtzeitig zum Unterricht zu kommen, weswegen sie auch nur keine Sekunde trödelt.
Nach kurzer Zeit erkundigt sie sich bei mir, ob ich gut vorbereitet auf den Test in Physik bin. Ich kann darauf nur lachen. "Nein, so gar nicht", pruste ich und ernte dafür einen verstörten Blick von ihr, den ich allerdings schon fast erwartet habe.
Tatsächlich hat es bisher kein einziges Mal gegeben, dass ich nicht auf eine Leistungsüberprüfung gelernt habe. Ich werde sogar ganz oft gefragt, ob man meine Zusammenfassungen kopieren kann, weil diese wirklich gut seien. Deshalb werde ich auch nicht selten Streber genannt, was mir jedoch nichts ausmacht. Ich arbeite eben hart dafür, nach der High School auf's College gehen zu können.
"Frag lieber nicht", sage ich nun. "Ich bin einfach nicht dazu gekommen." Es fühlt sich komisch an, meiner besten Freundin nicht die ganze Geschichte zu erzählen. Ich habe ihr noch nie etwas verschwiegen und jetzt gibt es da diese eine Sache, die mein Leben grundlegend verändert hat, und ich kann es ihr nicht anvertrauen.
Was würde Olivia bloß denken, wenn sie es wüsste? Würde sie Angst vor mir haben und sich von mir fernhalten? Würde sie mich vor aller Welt bloßstellen und dafür sorgen, dass ich keiner Fliege etwas zu Leide tun kann? Oder würde sie mich immer noch als ihre Freundin sehen und mich sogar unterstützen? Darüber möchte ich im Moment wirklich nicht nachdenken.
Die Fahrt über reden wir über einen Film, der bald im Kino erscheinen soll. Ich könnte zwar versuchen, noch ein paar Informationen in meinem Kurzzeitgedächtnis zu speichern, indem Olivia mir etwas erzählt, aber ich denke, das wird mir nicht arg viel weiter bringen.
An der Schule angekommen, begeben wir uns gleich in den Physik-Saal, da wir das Fach bereits in der ersten Stunde haben. Das Gute daran ist, dass wir den Test dann gleich hinter uns haben und uns deswegen nicht mehr verrückt machen müssen.
Und auch wenn kurz nach Unterrichtsbeginn nur wenige Fragen beantworten kann und die meisten Felder auf dem Blatt Papier leider leer lassen muss, gebe ich meinen Test recht gut gelaunt am Ende der Stunde ab. Die ganze erste Stunde habe ich mich komplett unter Kontrolle gehabt und ich schätze, das verursacht bei mir eine super Stimmung.
Als Olivia und ich schließlich zusammen durch die Gänge schlendern, um zu unseren Spinden zu gelangen, fragt sie vorsichtig nach: "Ich weiß, du wolltest vorhin nicht mehr darüber reden, aber wie war der Test für dich?"
"Also, gut ist was anderes", lache ich leicht auf und bleibe stehen, um ein Buch aus meinem Rucksack zu holen. "Ich habe jedenfalls keine großen Erwartungen. Nur weiß ich nicht, was ich schlimmer finden soll: Eine schlechte Note zu bekommen oder Mr. Nathan erklären zu müssen, wie es dazu kam."
Meine beste Freundin möchte gerade etwas erwidern, doch das nehme ich plötzlich nicht mehr wahr, da sich Bilder aus der Stadtbibliothek vor mein inneres Auge schleichen.
Unglaublicher Schmerz. Ich liege auf dem Boden und kann mich mein Stück bewegen. Der Schmerz droht mich zu überwältigen, denn ich habe das Gefühl, jeden Moment das Bewusstsein zu verlieren.
Dennoch registriere ich schnelle Schritte, die auf mich zukommen. Ein Junge erscheint vor mir - wenn ich mich nicht täusche und nicht halluziniere, kenne ich ihn von der Schule - und redet auf mich ein, doch ich kann nicht verstehen, was er sagt.
Er sieht sich kurz meine Wunde an, schüttelt dann den Kopf, als würde er einen Entschluss fassen, und beißt sich selbst in den Arm. Ehe ich mich versehe, hält er seine entstandene Wunde an meinen Mund. Sein Blut klebt an meinen Lippen und aus Reflex fahre ich mit meiner Zunge darüber und schlucke einmal.
Danach lässt er von mir ab und sieht sich einmal um. Im nächsten Moment sagt er: "Hey, sieh mich an!" Ich versuche, ihm Folge zu leisten, und richte meinen Blick so gut es geht auf ihn. Das letzte, das ich wahrnehme, ist, wie sich seine Pupillen vergrößern und er mir einredet: "Du wirst dich an nichts hiervon erinnern. Nicht an deine Wunde, nicht an den Schmerz und auch nicht an mich."
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