Kapitel 10
"Willst du mir nicht doch erzählen, warum du so niedergeschlagen bist? Ich meine, es scheint dich sehr zu belasten."
Ohne meinen Blick zu heben, weiß ich sofort, wer da neben mir steht. Stefan, wer auch sonst. Warum muss er mir dauernd auf Schritt und Tritt sein? Kann er mich nicht einfach mal in Ruhe lassen?
"Ich wüsste nicht, womit du dir das verdient hättest. Schließlich warst du auch nicht ehrlich zu mir", schnauze ich ihn an, nachdem ich aufgestanden bin, mir meine Haare aus dem Gesicht gestrichen und somit die Sicht auf meine vermutlich vom Weinen angeschwollenen Augen freigegeben habe.
Auch wenn meine Sicht noch immer von den Tränen verschleiert ist, sehe ich allzu gut, wie sich der Gesichtsausdruck des Jungen auf der Stelle ändert. Von besorgt zu ahnend und sogar ein wenig reuevoll.
"Du weißt es, oder? Dass ich dich verwandelt habe?", gibt er von sich und fährt fort, ohne mich zu Wort kommen zu lassen. "Ich wollte es dir sagen, aber ich wusste einfach nicht, wie. Ich dachte mir, der richtige Zeitpunkt dafür würde sein, wenn du dich wieder zurecht findest."
Die Worte sprudeln aus mir heraus, bevor ich überhaupt richtig darüber nachdenken kann: "Dann hätte ich es vermutlich nie erfahren. Denn weißt du, Stefan? Ich zweifle stark daran, dass ich jemals wieder glücklich in meinem Leben sein kann."
Stefan möchte wohl etwas erwidern, aber diesmal lasse ich ihn nicht reden. Und ohne dass ich es kontrollieren kann, wird meine Stimme immer lauter. "Ich hatte so viele Pläne! Ich wollte einen guten Abschluss und auf's College gehen. Okay, vielleicht kann ich das auch jetzt noch. Aber ich muss mich ständig von Blut ernähren, damit ich nicht austrockne. Ich kann kein unbeschwertes Leben mehr führen. Und ich kann mir den Traum einer eigenen Familie nicht erfüllen. Und daran bist du schuld! Du und dein verdammtes Blut!"
So, jetzt ist es draußen. All das, worüber ich mir Gedanken gemacht habe, ist nun an die Außenwelt gekommen. Und es hat sich wirklich gut angefühlt, das mal herauszulassen. Nichtsdestotrotz ist meine Wut nicht vollends versiegt.
Während meine Gefühlswelt dem Sturm um uns herum gleichkommt, ist Stefan die Ruhe selbst. Auch wenn ich ihn gerade angeschrien habe, bleibt er entspannt und wählt seine Worte mit Bedacht. "Kiara... Ich verstehe, dass du wütend bist und du womöglich auch Angst hast. So ging es uns allen. Aber als ich dich dort in der Bibliothek sah, konnte ich nicht anders. Deine Verletzungen waren zu stark, ich musste dir helfen."
"Und genau das verstehe ich noch nicht", sage ich, wobei meine Stimme wieder eine normale Lautstärke angenommen hat. Stefan's Stimme hat irgendwie etwas Beruhigendes. "In der Schule hast du mich nicht einmal angesprochen. Ich hätte sogar darauf gewettet, dass du nicht einmal weißt, dass ich existiere. Warum war es dir plötzlich so wichtig, mich zu retten? Und überhaupt, warum warst du in der Bibliothek, wo ich dich vorher noch nie gesehen habe?"
"Nun ja", fängt mein Gegenüber an und überlegt sich offensichtlich, wie er fortfahren soll. "Ich lese gerne und brauchte ein neues Buch. Und nach kürzester Zeit habe ich dich gesehen. Ich habe dich sofort erkannt, denn ich wusste sehr wohl von deiner Existenz, und dann habe ich einfach nur auf meinen Instinkt gehört. Wenn ich die Möglichkeit habe, jemanden vor dem Tod zu bewahren, egal wen, nutze ich sie auch."
Aus irgendeinem Grund sagt mir mein Bauchgefühl, dass da noch ein klein wenig mehr dahintersteckt, doch ich unterdrücke das Bedürfnis nachzufragen. Stattdessen schweige ich für einen Moment, um meine Gedanken zu sortieren.
Eigentlich war Stefan's Verhalten sehr beispielhaft. Selbst wenn ich noch so viele Probleme mit den Folgen habe, muss ich mir eingestehen, dass er mir mehr Lebenszeit geschenkt hat. Zeit mit meinen Eltern und Shane. Zeit mit meiner besten Freundin Olivia. Und außerdem kann man sich an die neuen Umstände gewöhnen - bei Caroline und Elena war das irgendwie auch möglich.
Also atme ich einmal tief ein und wieder aus und fasse einen Beschluss: "Na gut, ich glaube dir. Ich hätte dich nicht dafür bestrafen dürfen, dass du mich aus meiner misslichen Lage befreit hast. Tut mir echt leid." Das meine ich auch wirklich so.
Der jüngere der beiden Salvatore-Brüder beginnt zu nicken, und seine Mundwinkel heben sich ein klein wenig. Ich bin erstaunt darüber, dass er sich damit zufrieden gibt. Wären unsere Rollen vertauscht gewesen, würde ich ihm das noch sehr lange übel nehmen. Manchmal kann ich nämlich ziemlich stur sein.
"Aber noch eine Sache", merke ich an. "In Zukunft möchte ich, dass wir alle komplett ehrlich zueinander sind. Keine Geheimnisse mehr." Ich hebe ihm meine Hand hin.
"In Ordnung", entgegnet er darauf. "Keine Geheimnisse mehr. Versprochen." Doch anstatt meine Hand anzunehmen, kommt er einen Schritt auf mich zu, legt seinen Arm um meinen Nacken und zieht mich an seine Brust.
Es fühlt sich zunächst etwas komisch an, da ich ihn nicht besonders gut kenne. Aus diesem Grund spüre ich auch Hitze in meine Wangen steigen. Doch nach wenigen Sekunden fühle ich mich geborgen. Als ob seine Arme einer Schutzmauer gleichen und mich vor allem Bösen schützen würden.
Als ich mich von ihm befreie, weil es mir doch irgendwann zu viel wird, fällt mein Blick auf seinen Oberkörper, den ich vorhin völlig ausgeblendet habe. Ich war viel zu sehr auf meine Wut fokussiert, als dass ich Stefan's Aussehen Beachtung geschenkt hätte. Aber nun stelle ich fest, dass das weiße ärmelfreie Shirt, das er trägt, ebenfalls durchnässt ist und seine Muskeln sich darunter abzeichnen. Ich erwische mich dabei, wie ich einen Augenblick zu lange darauf starre.
Er selbst bewirkt aber, dass ich mich wieder seinem Gesicht zuwende, indem er vorschlägt: "Wollen wir von hier verschwinden? So langsam habe ich echt genug vom Regen." Er schmunzelt, und ich auch muss grinsen. "Wir können noch einen Abstecher in die Wohnung von Damon und mir machen. Aber ich kann dich auch nach Hause bringen, wenn dir das lieber ist."
"Ich würde gerne nach Hause. Irgendwie bin ich ziemlich platt und meine Familie macht sich bestimmt auch schon Sorgen, weil ich bei dem Wetter nicht zuhause bin und nicht Bescheid gegeben habe, wo ich stecke", erkläre ich ihm, woraufhin er mit einem kurzen Okay antwortet.
Folglich laufen wir zu seinem Auto, das er ganz in der Nähe geparkt hat, und er fährt mich nach Hause. Die Fahrt über sprechen und lachen wir noch ein wenig, und als wir angekommen sind, verabschieden wir uns mit einer erneuten Umarmung.
Es ist, als wäre nichts zwischen uns vorgefallen, und bin wirklich froh darüber. Denn auch wenn ich noch nicht besonders viel über ihn weiß, weiß ich jetzt ganz sicher, warum er allen ein so guter Freund ist.
~~~~~
Und damit wäre die Szene, die ich schon von Anfang an im Kopf hatte, im Kasten🙈
Heute hab ich die Folge von The Originals angeguckt, in der Stefan auftaucht, und ich hab mich so gefreut, ihn zu sehen😍
Jedenfalls hoffe ich, das Kapitel hat euch gefallen❤️
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