◆27| M i d n i g h t C o n f e s s i o n ◆

Willkommen, willkommen ❤
Mir geht es wie bereits verkündet heute etwas besser, sodass wir mit der Lesenacht starten können. Insgesamt werden es vier Kapitel werden und ich hoffe, dass es euch gefällt 😊 potenziell triggernde Inhalte könnten an der Oberfläche angekratzt werden, demnach seid ihr vorgewarnt. Ich wünsche euch viel Spaß. Das nächste Kapitel erscheint um 21:30 Uhr

P.S. Da ich wie gesagt krank war, konnte ich auch keine vollumfängliche Korrektur der Kapitel vornehmen. Fehler können also durchaus vorhanden sein.

P.S.S. Kritik ist nur erwünscht, wenn sie konstruktiv ist. Falls ihr also Kritik ausüben wollt, dann bitte in einem angemessenen Ton und bitte begründet, sonst kann ich nichts daraus lernen.

Eine Beichte ist immer eine Schwäche. Die düstere Seele bewahrt ihre eigenen Geheimnisse und nimmt ihre eigene Strafe schweigend hin.

|Dorothea Dix|

Vier Sekunden.

Exakt vier Sekunden benötigte ich um zu begreifen, dass die Realität achtlos durch meine Finger entglitt. Vier verdammte, sich endlos langziehende Sekunden in denen ansatzweise durchsickerte, dass ich keiner Halluzination zum Opfer erlag, sondern mit einer Wahrheit konfrontiert wurde, die mein komplette Wissen über den Haufen warf und jene zurück in den Naturzustand katapultierte.

Was war gut und worin unterschied es sich vom Bösen?
Gerecht und ungerecht?
Richtig und falsch?
Und noch viel wichtiger: Wer war er... Iván? Etwa ein gewissenloser Racheengel, der keineswegs davor zurückschreckte unfaire Mittel für seine Tatausführung zu verwenden oder ein unter dem Deckmantel der Ungerechtigkeit verweilender Richter, der für die Gerechtigkeit seiner erbrachter Opfer in einen unerbittlichen Kampf zog? Unmöglich.

Letzteres durfte nicht wahr sein, denn das würde bedeuten... Nein. Nein, es musste sich um ein Missverständnis handeln.

Schon beim bloßen Gedanken an ein alternatives Ende von der Geschichte des vermeintlichen Bösewichts durchfuhr meinen ganzen Körper ein Zittern und ich konnte nicht umhin, als die Lider zu senken und erneut auf die Polizeimarke zu schauen, welche ich eisern in meinen Fäusten vergaben, hatte, als bestrebte ich die damit einhergehende Offenbarung zu untergraben. Dieses Vorhaben scheiterte allerdings kläglich, als Silvanas vorherigen Worte auf der Rückfahrt zum Anwesen in meinem Kopf widerhallte.

«Ich, wir haben immer für die Gerechtigkeit gekämpft. Wir sind uns alle ähnlicher als du dir einzugestehen vermagst, Alington Mädchen.»

Hatte sie mir mit diesen Worten einen Hinweis geben wollen? Den Hinweis, dass Iván Polizist war?

Ich erschauderte als ich die Worte im Geiste wiederholte. Polizist... er war Polizist gewesen. Instinktiv fragte ich mich, ob Tian und Silvana dieses Amt ebenfalls innegehabt hatten, schließlich war die Sprache im Auto von einem 'wir' gewesen und nicht nur von Iván.

Aber das konnte alles nicht sein! Iván und ich, wir konnten nicht auf ein und derselben Seite stehen. Könnt ihr nicht?, meldete sich eine verräterische Stimme in meinem Unterbewusstsein zu Wort. Was wenn es anders herum ist, Amalia. Wenn er auf der richtigen Seite ist und du diejenige bist, die sich auf der falschen befindet?

Stopp! So schnell mich die Zweifel auch heimsuchte, desto schneller vertrieb ich sie mit meinem unerschütterlichen Glauben an meine Familie. Ich musste in diesem Chaos irgendetwas Essenzielles übersehen haben, irgendetwas was auch die anderen nicht... Mein Atem stockte und meine ordentlich zurecht gelegten Gedanken fanden sich mit einem Mal zu einem kläglichen Haufen an unüberschaubaren Verstrickungen zusammen, als sein schwerer Atem hauchzart über meinen Nacken strich. Meine nackten Füße gruben sich ungewollt in den Parkettboden unter mir ein. Der von dem Druck meiner Zehen erzeugte Schmerz prallte an mir ab, doch als hätte es dabei irgendwann einen Teil meiner Gehirnfunktionen wieder wachgerüttelt, befreite sich mein Kampfgeist aus seinen Fängen und setzte zur Tat an.

Einen lauten Knall herbeiführend, schmiss ich die Marke auf den Holztisch und griff stattdessen nach der zuvor aus meinen Händen fallen gelassene Waffe, ehe ich mich umdrehte und mit dem Lauf direkt auf seine linke Brusthälfte zielte. Direkt über sein Herz.

Ich erstarrte in meiner Bewegung. Angsterfüllt verharrten meine nun vor Panik weit aufgerissenen Augen auf meinen Fingern, welche sich ungeschickt an dem schweren kleinen metallischen Gegenstand festklammerten. Alleine diese unbeholfene Geste machte nur allzu deutlich, dass die Waffe und ich keine Einheit bildeten. Wir waren nicht füreinander bestimmt. Wir waren kein Team. Leg das Ding weg, Amalia. Lass die verdammte Knarre fallen.

Doch die Stimme der Vernunft geflissentlich ignorierend, verstärkte sich mein Griff um die Waffe und mein apathischer Blick wanderte zwischen der Schussöffnung und seiner sich hebenden und senkenden Brust hin und her. Jener Brust, in der ein lebenswichtiges Organ verweilte, in der ein Leben seinen Ursprung hatte. Doch nach allem, was heute Abend passiert war, nach allem was er mit Florentina und dann mir angetan hatte, konnte es sich da, unter diesem schicken Hemd, das seine muskulöse Statur besonders zur Geltung brachte, wirklich um ein klopfendes Herz handeln?

Ich spürte, wie sich meine Augenbrauen von der Schwere dieser Entscheidung maßlos überrollt, hinunterdrückten; wie meine Lippen von der gewaltigen Last, welche er mir auf mittelbarem Wege aufbürgte, zu beben begannen.

Kein Mensch ist auf Anhieb grausam... dachte ich an meine eigenen Worte, die ich mir nach jeder Fallbesprechung in der Strafrechtsvorlesung immer wieder vor Augen führte. Jedes krankhafte, abartige Urteil hatte seine Ursprünge und jeder Mensch hat demgegenüber seine Gründe vorzuweisen.

Und meine Beweggründe diesen tödlichen Gegenstand in der Hand zu halten, der gegen all meine Prinzipien verstieß, resultierte schlichtweg aus der räumlichen Nähe, die wir zueinander herstellten. Ich hatte ihn gespürt, ihn. Seinen Körper, seine Augen, seinen Duft und Atem... auf mir und trotz dass die Waffe in meinen ausgestreckten Armen zwischen uns eine klaffende Lücke erzeugte, wurde ich es nicht los. Ich spürte ihn immer noch, überall. Es war, als hätten seine Fingerspitzen, sein sich nach Kokain auf meinem Rücken verzerrender Atem eine unauslöschliche Spur auf mich gelegt. Ich wollte nie, nie wieder in eine Situation getan, in der ich nicht Herr über meinen Geist und meinen Körper war. Alleine der Gedanke an diese ähnliche Lage von vor einigen Stunden trieb mich einem erneuten Anfall entgegen.

Völlig verstört von diesem Werdegang in meinem Kopf erschwerte sich mein Atem. Langsam, angestrengt, als litt ich an einer Sauerstoffzufuhr, die mit jeder Sekunde Schimmer wurde.

Dass er dabei weiterhin untätig blieb und nichts gegen mich unternahm, sondern mich mit seinen auffordernden Blicken durchbohrte, gestaltete die Sache für mich nicht gerade einfacher. Denn obwohl ich mich auch jetzt dagegen sträubte ihn anzusehen, signalisierte mein Körper mir, dass sein Fokus ununterbrochen auf mir lag und dass seine penetrante Aufdringlichkeit einer konkludenten Aufforderung die Waffe einzusetzen gleich kam.

Das war genau das, war er wollte. Ich sollte handeln. Erschieß mich. Lass es mein Blut sein, in dem deine Unschuld ertrinken wird, sprachen seine Augen zu mir.

Unwillkürlich drehte sich mir der Magen um, als sich seine Aufforderung sich mir aufdrängte und eine große Ladung an Emotionen sprudelte förmlich aus mir heraus.

Wie konnte er nur...

Meine bröckelnde Fassade, die Rationalität, in die ich durch meine lähmende Angst hineingezwängt wurde, löste sich auf und bereitete langsam meiner überaus empfindlichen Seite mitfühlend die Arme aus. Was tat ich hier überhaupt? Zeitgleich mit der Erkenntnis klopfte mein Gewissen an meine Türen mit der Aufforderung und das sich vor mir anbietende Bild gab mir den Rest.

Das konnte ich nicht tun. Ich konnte und ich würde nicht auf ihn schießen. Er konnte mich nicht zu einem Zielobjekt formen, das ich nicht war. Und hatte ich nicht in diesem Bordellzimmer genau das darlegen wollen? Das ist nicht seine Marionette war, an dessen Fäden er über mein Schicksal bestimmen konnte.

Der Griff um die Waffe lockerte sich und meine Hände begannen unkontrolliert zu beben. Auch mein Gegenüber sah meinen Entschluss dahinschwinden, denn bevor sich meine Finger endgültig von dem steinharten Material lösen konnten, schoss seine Hand nach vorne und umwickelte den Lauf der Waffe. Von der Furcht verleitet, welche durch diese abrupte Handlung regelrecht durch die Decke meiner Selbstbeherrschung krachte, verstärkte ich meine Verbindung mit der Waffe von erneutem. Verleitet wurde ich insbesondere von der schrecklichen Vorstellung, dass er die Waffe jeden Moment an sich ziehen und diese gegen mich verwenden würde. Zu meinem Erstaunen allerdings tat er das nicht.

Perplex blinzelte ich, als ich sah, wie er den minimalen Abstand zwischen sich und der Waffe überbrückte und die Spitze der Waffe nun geradewegs auf seine Brust drückte.

«Schieß...»

Moment Mal...W-Was?

Ich schluckte hart. Dann ganz langsam schüttelte ich den Kopf, um ihn zu signalisieren, dass das, was er von mir verlangte nicht geschehen würde.

Nein! Nein, verdammt.

Meine mehr als eindeutig negativ ausfallende Reaktion missbilligend, schlangen sich seine Finger fester um die Waffe und seine Fingerknöchel stachen weiß hervor. Diese Geste untermalte seinen Entschluss. Er hing an der Waffe, wie als hätte er ein Anrecht auf die Kugel, die in diesem tödlichen Gegenstand verweilte und lediglich ein kleines Fingerspiel meinerseits voraussetzte.

Um seinen Standpunkt nochmal klar zu demonstrieren, zog er mich mit der Waffe noch dichter an seinen Körper heran und sein schönes Gesicht war bereits zu mir heruntergeneigt, sodass sein warmer schwerer Atem meine Schläfe streifte. Augenblicklich verkrampfte ich mich und im nächsten Moment suchte mich ein Blitzlichtgewitter an Erinnerungen heim. Die Luftzüge an meinem Rücken, das Geräusch als er das Kokain durch die Nase zog, seine Lippen auf meinem Tattoo... Meine Gedanken überschlugen sich und ich war kurz davor hier auf der Stelle in seiner Gegenwart eine Panikattacke zu erleiden. Innerlich krachten meine Mauern zusammen, äußerlich machte sich diese Existenzkrise jedoch nur durch das auffällige Zittern meines ganzen Oberkörpers bemerkbar, das sich in dem dünnen weißen Nachtkleid in feinster Weise kaschieren ließ. Letztlich war es die Überbrückung der Distanz zwischen, woraufhin mein Körper mit einem heftigen Zucken reagierte.

Ihm entging dies nicht. Und obwohl ich ihn nicht ansah, spürte ich, wie sich um seine bereits angespannten Gesichtszüge ein weiterer dunkler Schleier legte. Betätigt wurde dies, als er seine nächsten Worte ganz leise, aber mit einer Kälte und Härte vortrug, welche meinen Körper zum Erstarren brachte.

«Ich werde dich nicht anrühren. Nicht nochmal. Nicht, solange du es nicht willst.»

Es war als würde er mit dem Aussprechen der Worte zeitgleich Blei schlucken. Sie kamen ihm sehr schwer über die Lippen und mit jeder weiteren Silbe, so schien es mir, wuchs die Wut in seiner Stimme. Aber warum? Bereute er es etwa? Tat es ihm leid, was er diesen Frauen zugemutet und mir im Anschluss angetan hatte? Konnte es sein, dass er zur Einsicht gekommen war und mit dem heutigen Abend verstanden, einen Schritt zu weit gegangen zu sein? Auch wenn alles in mir dagegen ankämpfte, hob ich ganz langsam den Kopf und ließ meinen Blick bedächtig über seinen Oberkörper entlang wandern.

Die Hände zu Fäusten geballt und hinter seinem Rücken verschränkt, wie um mir zu demonstrieren wie ernst er es meinte, sprach Anspannung aus jeder Pore seines Körpers heraus. Trotz der schlechten Lichtverhältnisse erkannte ich aus dem Augenwinkel, dass er seine Fingerspitzen so fest in seine Haut bohrte, dass sich rote Flecken um seine Haut herum breit machten. Es wirkte so als würde er... meine Augenbrauen wanderten in die Höhe, als ich begriff.

Es war als würde er sich selbst in gewisser Weise bestrafen wollen, indem er meine Nähe suchte, es sich aber strengstens untersagte, mich auch nur ansatzweise zu berühren.

Überwältigt von einer Welle des Schwindels, stolperte ich kurzzeitig nach hinten gegen den Tisch, doch Iván, der meinen Unmut zu spüren schien, packte das Gewehr am anderen Ende und sog mich wieder zurück. In dem Augenblick, als ich unbeholfen nach vorne schwankte, rutschten meine Finger an dem Metall der Waffe aus. Ich zischte kaum merklich auf und verzog das Gesicht aufgrund des brennenden Gefühls, welches sich in meinen Fingerspitzen breit machte. Und obwohl es ein kleiner Ausrutscher war, bemerkte ich das Blut im selben Moment, als Iván seinen Blick nun deutlich aufmerksamer auf meine Hände richtete. Der Ausdruck, der auf seinem Gesicht beim Anblick meiner völlig kaputten, gerissenen Fingernägel, an denen vereinzelt Blut tropfte, beschwor Scham in mir hervor. Zwar gab es keinen Anlass dazu. Meine zerschundenen Fingernägel waren die Signatur seiner Skrupellosigkeit gewesen, da ich einen Moment von der Angst geblendet, dass der Gürtel mich treffen würde meine Hände hatte herunterbaumeln lassen und sie krampfhaft in dem Bettgerüst festgenagelt hatte.

«Wie.ist.das.passiert», durchbrach seine raue Stimme jedoch meinen Gedankengang und ich fühlte, wie ich errötete. Ich konnte nicht umhin, als bei der Erinnerung daran seinem messerscharfen Blick auszuweichen. Woher diese plötzliche Verlegenheit kam, was mir unbegreiflich, aber ich wollte und konnte mit Iván nicht über die Ereignisse im Zimmer sprechen. Zu sehr fürchtete ich mich vor dem boshaften und freudigen Ausdruck in seinen Augen, den mein Leid bei ihm hervorrief. Das konnte er von mir nicht verlangen.

Wie es schien, musste er dies auch nicht. Der Gebrauch von meinem Schweigerecht hatte ihm auf die Sprünge geholfen um eins und eins zusammenzuzählen und als ich schon glaubte, dass er mir weiterhin ununterbrochen auf die Hände starren würde, mahnte er seine Kiefer und die Dunkelheit seiner Augen umgab mit einem Mal seine ganze Aura.

Der Wandel, der sich von einem Augenblick auf den nächsten Vollzog und die gefährliche Aggressivität, die sich abrupt in der Luft verbreitete, ließ kurzzeitig meinen Entschluss ihm nicht zu antworten anzweifeln. Doch dann ergriff er erneut das Wort.

«Mach schon. Erschieß mich.» Seine Worte klangen derart gefasst und entschlossen, dass ich einen Moment lang die vorliegenden Umstände vergaß und ihm ungläubig entgegenblickte.

«Nein...», flüsterte ich. Um Gottes willen, nein! Zorn stieg in mir auf.

«Tu.Es.», knurrte er, den Kopf diesmal gefährlich nah zu mir heruntergeneigt. Obwohl diese Bewegung von Iván eindeutig, als Abschreckungsmaßnahme gedacht war, hinderte mich nichts daran, meinen erstaunlich selbstsicher klingenden Worten Gehör zu verschaffen.

«Ich werde dich nicht bestrafen!»

Er erstarrte augenblicklich, was mich zum Weiterreden anspornte. Vielleicht, sprach ich mir Mut zu. Vielleicht war ich wirklich auf dem richtigen Weg. Vielleicht konnte ich doch an sein, mir zuvor unbekanntes Gewissen appellieren, um dieser Situation zu entkommen.

«Das ist es nämlich, was du willst, oder? Du willst, dass wir quitt sind...»

Er schwieg immer noch und ich kannte keinen Halt mehr, denn nun flüsterte ich nicht mehr.

«Ist das die Moral dahinter? Dein immerzu währender Kodex: Auge um Auge, Zahn zu Zahn... Glaubst du wirklich, dass das etwas an der Situation von vorhin ändern würde? Was du mit diesen Frauen gemacht hast... wozu du mich genötigt hast.»

Ich schüttelte vehement den Kopf. Es dauerte einen Wimpernschlag lang, bis meine Selbstsicherheit, die ich mit jeder Silbe, die über meine Lippen gekommen und mich ermutigt hatte, dahinflog. Eine mickrige Sekunde, in der ich glaubte zu ihm durchgedrungen zu sein und eine weitere, bis er mit so einer geschickten Handbewegung, die Waffe problemlos auf meinen Händen befreite und der Lauf nun in meine Richtung richtete. Der Lauf der Waffe zielte nun auf meine linke Brustseite.

«Es geht mir nicht um die Bestrafung, sondern um die Wiederherstellung der Gerechtigkeit, hast du das immer noch nicht begriffen? Du hattest die Wahl zu entscheiden und wie immer hat die Gerechtigkeit versagt.»

In dem Augenblick, als ich heimlich in seine Richtung sah, betrachtete er die Wand hinter mir, die Wand, auf der seine ganze Vergangenheit abgebildet war. Ich erkannte die dunklen Schatten unter seinen Augen, die Erschöpfung in den schönen aber blassen Gesichtspartien...
Einen Moment lang erschlagen von diesem Anblick, wusste ich nichts auf seine paradoxe Denkweise zu erwidern, doch ich bekam auch nicht die Gelegenheit dazu, denn bereits da trat er bewusst einen weiteren Schritt nach vorne und zwängte mich damit zwischen sich und den Tisch hinter mir - wohl wissend, dass diese Nähe meine Panik auf das dreifache damit maximierte.

Einen lauten Atemzug betätigend senkte ich den Blick, der nun geradewegs seine Brust traf. Dieser hob und senkte sich auf eine unnatürliche und äußerst unrythmische Weise und ich empfand es so, als würde ich gerade meinem Spiegelbild entgegenblicken. Denn in diesem Augenblick schlugen unsere Herzen im Einklang. Nicht gegeneinander, sondern miteinander.
Stolpernd, hastig und unkontrolliert... bemüht dem jeweils anderem Hämmern auf der gegenüberliegenden Seite nicht in die Quere zu kommen.

Ob es an diese Parallele lag oder an der Tatsache, dass es mitten in der Nacht war und mein Verstand deshalb versagte, vermochte ich nicht sagen, aber erst als die letzte Silbe meine Lippen verlassen hatte, erkannte ich, dass ich gesprochen hatte.

«Warum bist du kein Polizist mehr?»

Von all den Fragen, die mir auf der Zunge lagen, die zum Teil sogar dringender und wichtiger waren, war es ausgerechnet diese, die mich am meisten beschäftigte, ja mich innerlich sogar noch unruhiger werden ließ. Auch wenn ich es nicht zuzugeben oder gar laut auszusprechen vermochte, wusste ich tief im Inneren, dass es gerade egal war, in welche Schwierigkeiten mein Vater uns mit jenem Prozess verfrachtet hatte, was sie mit diesem Pablo Gonzalez zu tun hatten und woher es das Tattoo meiner Familie kannte. Ich musste mir wohl oder übel eingestehen, dass es mir in diesem Augenblick nur um ihm ging.

Um den Mann vor mir, in dessen Augen sich ein Meteoritenschauer widerspiegelte und der so viel Dunkelheit ausstrahlte, dass selbst einem Schatten ein Gastauftritt vergönnt war.

Ein Mann, der im Alleinsein Zuflucht und in der Grausamkeiten seinen Lebensretter gefunden hatte. Jedes Mal, wenn ich glaubte, er besäße ein wenig Güte, setzte mir meine Gutgläubigkeit noch tiefere Verletzungen zu. Obwohl ich mir auch über die harten Konsequenzen meiner Frage im Klaren war, brannte ich darauf eine Antwort zu ergattern. Denn ich wollte es wissen. Ich wollte wie dieses Puzzelbild des skrupellosen Mannes, das ich vor Augen hatte, in mit der Rolle eines Polizisten, eines Gesetzeshüters und Dieners vervollständigt werden sollte

Er antwortete mir nicht, überging wie ich nun mit einem flüchtigen Klimpern meiner Augenbrauen feststellte meine Frage und blickte stattdessen weiterhin auf die Zeitungsartikel an der Wand wie als... da realisierte ich es.

Er quälte sich. Mit all diesen Bildern, mit all diesen Ereignissen, die dadurch noch präsenter wirkten, hatte er sich seine eigene Vorstufe der Hölle geschaffen. Seine persönliche Folterkammer.

Etwas in mir tief in mir drin ertrug diesen Gedanken nicht. Und als ich die Leblosigkeit in seinen Zügen und die Resignation in seinen Augen vernahm, als würde er in weiter Ferne auf etwas blicken, was ihm verwehrt und womit er sich abgefunden hatte, da krümmte sich mein Herz und rollte sich seinen Kummer absorbierend zusammen.

«Bitte...», flüsterte ich, während meine Lippen sich vor Trockenheit kaum noch öffnen ließen. Bitte was?, fragte ich mich im nächsten Moment, als ich es auch schon ausgesprochen hatte.

Bitte hör auf mit diesem Spiel?
Bitte lass mich gehen?
Bitte tu meiner Familie nichts an? Oder war es doch eher bitte sieh mich an und quäle dich nicht mit den Dämonen deiner Vergangenheit?

Als würde sich mein Gegenüber genau dieselbe Frage stellen, wanderte sein benebelter Blick beinahe schon überrascht in meine Richtung. Wenig Sekunden lang inspizierte er mein Gesicht, seine Augen fuhren sanft über meine Wangen bis zu meinen Lippen hinab, wo sie schließlich anhielten. Dann hauchte er mir die nächsten Worte gegen die Lippen:

«Bitte was, Amalia?»

Wie ein defekter Motor ratterte mein Herz ungleichmäßig beim Klang meines Namens aus seinem Munde und wie ein verführerischer Duft war ich kurz davor ebenfalls von dem Nebel angezogen einen Schritt in seine Richtung zu betätigen und damit die minimale Lücke zwischen uns zu schließen. Iván, der meiner Körpersprache entnahm, was ich im Inbegriff war zu tun, lehnte nun seine Arme gegen den Holztisch hinter mir, sodass er mich vollkommen umzingelte.

Ich schluckte nervös und drehte den Kopf zur Seite, sodass ich aus dem Augenwinkel auf den Zeitungsartikel mit der Gerichtsverhandlung stieß.

Ladrón.

«In der Silvesternacht, bist du bei uns eingebrochen. Du hast unser Familienporträt mit dem Worten ladrón verunstaltet und mir bei jeder auch bittenden Gelegenheit weiß machen wollen, wir wären Diebe. Du hast uns beschuldigt. Haben sie genau dasselbe mit deinem Vater gemacht? Haben sie ihn...», doch ich kam nicht weit mit meinen Worten. Sobald ich seinen Vater auch nur erwähnte, spürte ich das kalte Metall der Waffe an meinem Kinn. Durch den Druck dazu genötigt, neigte ich den Kopf leicht nach hinten, sodass Iváns Atem problemlos an meinem Wangenknochen entlang schlängelte.

«Du erwähnst nie, nie wieder meinen Vater im selben Satz, geschweige denn im selben Atemzug mit deiner Familie. Das hatte ich dir schonmal gesagt.»

Die Waffe bohrte sich unnachgiebig in meine Haut und ich zischte auf.

«Iván ich...»

«Verstanden?», flüsterte er, sichtlich bemüht seine Hände weiterhin noch bei sich zu behalten. Plötzlich machte mich seine Reaktion nur umso neugieriger und ließ nun eine weitere Frage in meinen Gedanken aufkommen, die ich so nicht parat hatte.

Was genau wurde denn gestohlen? Die Gemälde spielten zwar eine Rolle, doch vermutete ich ganz stark, dass sie nur einen kleinen Teil des Großen und Ganzen ausmachten. Ehe ich diese Theorien jedoch zusammenfügen und vortragen konnte, ertönte hinter Iván eine Stimme, die uns beide in unserem jeweiligen Vorhaben innehalten ließ. Unsere darauffolgenden Reaktionen hätten allerdings nicht unterschiedlicher ausfallen können. Während ich mich bei dem Gedanken daran nicht mehr mit Iván allein sein zu müssen entspannte, reagierte mein gegenüber zu meiner Verblüffung alles andere als begeistert.

Beim Erwähnen seines Vaters hatte ich bereits das Gefühl gehabt, den Bogen allmählich überspannt zu haben, aber der Klang jener Stimmen hinter uns schien endgültig einen Nerv bei ihm getroffen zu haben. Es fehlte nicht viel und Iváns Gefühle würden überzuschwappen. Zu spät zählte ich diese Auffälligkeiten zusammen, sodass meine vor Schreck geweiteten Augen lediglich den dargebotenen Stummfilm mitverfolgen konnte. Mit einer unnatürlichen Schnelligkeit hatte er die Waffe von meiner Brust genommen und sie mit ausgestreckten Arm geradewegs nach hinten auf seinen besten Freund gerichtet. Ohne die Augen ein einziges Mal von mir zu nehmen, denn sein ruhiger Blick ruhte weiterhin auf meinem Gesicht.

Während mich dieser plötzliche Wandel der Geschehnisse völlig unvorbereitet traf, schien Tian den Verlauf der Geschehnisse erahnt zu haben, denn zeitgleich mit Iváns Umdrehung hatte auch er eine Waffe gezückt, die er seinerseits auf Iván richtete

Einige Sekunden lang geschah nichts, bis ein spöttischer kleines Grunzen hinter Iván erklang.

«Na mein Freund. Konntest du dich endlich von Ihnen trennen und uns mit deiner Anwesenheit zu beglücken?» An Iváns Stirn zuckte eine Ader, doch mein Fokus lag in dem Moment nicht auf ihm, sondern auf Tian, dessen Tonfalls mich mehr als irritierte. Der Zynismus in seinen Worten, die kochende Wut in seiner Stimme, als würde er Iván bewusst provozieren wollen, passten nicht zu dem ruhigen, ausgeglichenen Tian. Zwar konnte er von mir auf jederzeit einen Wandel vollführen, wovon ich ihm aber angesichts des Umstandes, dass eine Waffe auf ihn gerichtet war zu diesem Zeitpunkt eher weniger empfehlen würde.

Den Blick zwischen den beiden nervös hin und her wandern lassend, erspähte ich die dunkle Jogginghose, die unten einen elastischen Hals vorwies, ebenso wie das dunkle Oberteil, das er sich übergestreift hatte. Anscheinend war er nicht schlafen gegangen, sondern hatte auf Iváns Rückkehr gewartet, aber warum? Die Falte zwischen meinen Brauen wurde tiefer. Was war so dringend, dass Tian nicht den morgigen Tag abwarten konnte, um Iván abzupassen? Was hatte ihn seines Schlafes beraubt?

Unabhängig davon was es war, die Energie zwischen den beiden gefiel mir mit jeder Minute immer weniger. Es fühlte sich an als wäre die Temperatur in diesem Raum mit Tians auftauchen und seinem offensichtlichen Motiv einen Streit anzuzetteln in den Keller gesunken.

«Verrate mir doch erst einmal, wo ich als erstes hinschießen soll, mein Freund», spucke Iván ernst hervor. Ich riss den Kopf herum und schnappte erschrocken nach Luft, als ich tatsächlich mit der Entschlossenheit in seinem Gesicht konfrontiert wurde. Unterstrichen wurde dies mit dem verächtlichen Tonfall, den er beim Aussprechen von meinem Freund kund getan hatte. Dementsprechend bestand kein Zweifel daran, dass Iván mit seinem streitlustigen Freund in den Ring steigen würde. Ok, stopp, nun hatte ich wirklich keinen Überblick mehr. Was ging hier vor sich?

Im Gegensatz zu mir schien es jedoch als hätte Tian genau mit dieser Reaktion gerechnet, denn ein beinahe herablassendes Grinsen brachte seine feinen Grübchen zu Geltung. Ach du heilige scheiße... Tian ging wirklich in die Offensive. Aber warum? Hatte er möglicherweise etwas im Pesadillas mitbekommen? Einen anderen Grund konnte es nicht geben. Tian musste etwas wissen, etwas, dass ihn aus der Haut hatte fahren lassen und weshalb er Iván gegenüber in eine eindeutige Angriffsposition überging. Denn so wie er jetzt darauf war, glich dies einem Selbstmordkommando. Seine nächsten Worte bestätigten meine Vermutung.

«Und wie war's? Haben sie dich zufriedengestellt? Haben dir deine Huren gegeben können, wonach du suchtest?» Mit jedem Wort wurde er lauter und mit jeder Silbe wünschte ich mir nichts sehnlicher, als dass er diese Diskussion nicht heute Nacht angefangen hätte. Seine Worte schlugen wie eine Bombe ein und Iván Kontrollverlust stand nicht mehr im Wege.

Um Gottes Willen Tian, was machst du denn da? Bist du lebensmüde?

Es war mitten in der Nacht. Wir waren alle müde. Dieser Abend hatte uns nämlich sowohl physisch als auch psychisch viel zu sehr in Anspruch genommen. Jeden einzelnen von uns. Denn nicht nur ich war den ganzen Abend über von einer Katastrophe in die nächste gesprungen. Mir wurde erst jetzt bewusst, dass der Anblick meines verschreckten Auftretens in dem mit Blutflecken umhüllten Bett auch Silvana und Tian fast vor Sorge umgetrieben hatte. Sie waren zwar nicht auf meiner Seite, aber sie brauchten mich um zumindest aufklären zu können, wofür ihr Vater auf so schreckliche Art sein Leben hatte aufgeben müssen.

Derweilen ich Tian zu signalisieren versuchte mit diesem Umfang aufzuhören, zeitgleich mein Blick zu Iván wanderte, vernahm ich bei Letzterem aufgrund seiner Körpersprache als auch seinem sich verzerrendem Gesichtsausdruck, dass Tian seinem Ziel Iván zum Durchdrehen zu bringen immer näher kam. Kenntlich wurde dies insbesondere durch das im Raum widerhallende laute Knurren von Iván, der sich nun erstmals mit seinem Oberkörper von mir abwendete. Oh nein, nein, nein, nein dreh dich nicht um! Oh bitte nicht, dachte ich als das fiese Grinsen auf Tian Gesicht sich verzweifachte. Jetzt hatte er seinen besten Freund genau dort, wo er ihn haben wollte.

Tian öffnete den Mund, was bei mir alle Alarmglocken in meinem Kopf schrillen ließ, sodass ich schon den ersten Schritt nach vorne machte, um mich zwischen die Beiden zu stellen. Mein Vorhaben wurde jedoch von einem lauten Knall unterbrochen und ich krachte automatisch zurück nach hinten.Ein Schuss. Scheiße ein Schuss war gefallen.

Keuchend krallte ich meine Fingernägel in den Holztisch und hatte die Augen so fest zusammengedrückt, dass ich meinen Nasenrücken nach oben entlang einen Vorgeschmack zu den sich ankündigenden Kopfschmerzen bekam. Und doch schaffte ich es nicht meine Augen wieder zu öffnen aus Angst vor dem grauenhaften Bild was sich in meinem unmittelbaren Sichtfeld erstrecken würde. Zu meinem Erstaunen erklang jedoch Silvanas Stimme und bot mir somit den nötigen Ansporn mich der Realität zu stellen. Schließlich kratzte ich all meinen Mut zusammen und öffnete meine Augen.

Zu dem vorhin dargebotenen Duo hatte sich wie ich vernahm auch Silvana dazugesellt. Vor der Männern stehend, richtete sie aus einigen Metern Entfernung in nur einem hauchdünnen Schlafanzug, das aus ihrer Unterhose und einem locker sitzenden T-Shirt bestand, zwei Pistolen in der Hand haltend, eine in Tians und die andere nun von der Decke hebend, welches ab sofort ein kleines Loch vorwies, auf Iván. Sie hatte also einen Warnschuss abgefeuert. Verärgert und in diesem Moment noch einigermaßen verschlafen, sagte sie bemüht die Wut in ihrer Stimme im Zaum zu halten:

«Wir haben nach 3 Uhr nachts. Seid ihr verdammt nochmal von allen guten Geistern verlassen. Was soll der scheiß? Runter mit den Waffen!»

Ihr wachsamer Blick huschte in meine Richtung und mit einem kurzen Nicken gab sie mir zu verstehen, dass ich zu ihr gehen sollte. Gesagt getan, ehe Iván mich packen konnte, schlängelte ich mich an der Seite vorbei und stellte mich wie ein Kleinkind, dass Angst vor der Dunkelheit hat neben beziehungsweise beinahe schon hinter Silvana.

Mit einer Eindringlichkeit warf sie sowohl Iván und Tian abwechselnd Blicke zu. Die beiden waren aber weiterhin drauf und dran sich an die Gurgel zu gehen. Denn von außen war kaum zu übersehen, dass sie mit ihren Blicken indirekt eine hitzige Diskussion führten. Silvana schien dies auch begriffen zu haben, denn irritiert über ihren plötzlichen Ausschluss aus dem Trio und der ebenso plötzlichen Feindschaft zwischen den beiden Männern schnaubte sie ungeduldig auf und umklammerte die beiden Miniwaffen in ihren Händen fester.

«Heeeeyyy, ich rede mit euch! Was ist in euch gefahren. Ich sagte runter mit den Waffen oder bei Gott ich schieße, damit ihr endlich zur Vernunft kommt.»

«Oh liebe Schwester, der da wird ganz sicher nicht sobald wieder zur Vernunft kommen», warf Tian spöttisch auf, was das Fass nun endgültig zum Überlaufen brachte.

Ein „Jetzt reicht's" hörte ich nur noch, ehe Iván mit einem Brüllen die Waffe zur Seite warf. Tians Augen blinzelten erfreut auf, als er mit wachsender Freude beobachtete, dass Iván mit geballten Fäusten schnurstracks auf ihn zumarschierte. Ich bekam nicht einmal die Gelegenheit mich über die ungewöhnliche Reaktion von Tian zu wundern, da schleuderte er ebenfalls die Waffe zur Seite und ging Iván entgegen. Lediglich ein verzweifelte „Jungs" brachte Silvana noch hervor, da landete aber auch schon die große Faust von Iván mitten in Tians Gesicht. Und dies hatte ein ohrenbetäubendes Knacken zur Folge hatte.

Tians Gesicht flog zur Seite und Blut quoll automatisch in Strömen von seiner Oberlippe auf seine Zähne herab. Statt vor Schmerzen laut aufzuschreien, wie jeder von uns es erwartete, entgegnete er dem erneuten Ansturm von Iván mit einem ebenso wütenden Gebrülle und stürzte sich nun seinerseits auf seinen Angreifer. Das pure Chaos brach aus. Jeder Schlag hatte ein Knacken zur Folge, jeder Treffer einen blutigen Pfad in einem Meer aus Schmerz. Der Boden erzitterte regelrecht bei jedem Aufprall des einen Gegenüber dem anderen. In einem Moment war es Tian, der die Oberhand über den Kampf hatte, in der nächsten hingegen Iván, der ununterbrochen auf Tian einprügelte, als gäbe es kein Morgen mehr - wie auch jetzt. Trotz der Platzwunden, die Tian ihm ebenfalls zugefügt hatte und die alles andere als harmlos wirkten, schlug er immer wieder auf Tian ein, den er mit einem heftigen Hieb nun auf den Boden befördert hatte. Silvana starrte die beiden fassungslos an, die Waffen in ihrer Hand baumelten wie Accessoire in den Händen. Ganz Eindeutig konnte auch sie genauso wenig verstehen, was das Ganze sollte wie ich.

Mit einem aggressiven Aufschrei schlug Iván ein letztes Mal zu, ehe seine Faust auf den Holzboden direkt neben Tians Kopf landete. Dann packte er den schlimm zugerichteten Tian am Kragen und zog gnadenlos seinen schlafen Oberkörper dicht zu sich heran, sodass er mit heruntergebeugt Nase an Nase mit ihm war. Sein mörderischer Blick drängte sich damit unmittelbar Tian auf, ohne dass er sich dem auf irgendeine Weise entziehen konnte.

«Du hattest eine Aufgabe. Eine scheiß verfickte Aufgabe», donnerte er ihm mit zusammengebissen Zähnen entgegen. Aber von seiner Tobsucht abgesehen bereiteten mir eher seine Worte sorgen. Wovon redete er?

«Du hättest auf sie aufpassen müssen. Du hättest nicht zulassen dürfen, dass Florentina mit ihr alleine ist, dass ich mit ihr alleine bin.»

Mir stockte der Atem. Was...

Ein kurzzeitiger Schmerz huschte über Iváns Gesichtszüge, ehe diese wieder von seiner mörderischen Haltung eingenommen wurde, denn er rüttelte kräftig an dem beinahe ohnmächtig werdenden Tian.

«Eine Aufgabe. Nur diese eine Aufgabe, Tian. Sie hätte niemals dort sein dürfen.»

Die Worte ließen den leblos wirkenden Tian aufhorchen und seine anschwellenden Augen funkelten bei Iván letzten Worten auf.

«Hätte sie nicht, ja?», polterte er ihm giftig entgegen und ich wusste nicht wie, aber er schaffte es schließlich Iván von sich zu schubsen und sich in Sekundenschnelle aufzurichten. Womit jedoch keiner von uns rechnete war, dass er im nächsten Moment erneut auf Iván losgehen würde. Tians angespannte Körperhaltung verkündete bereits, dass der Ausgang des ganzen in einer weiteren Auseinandersetzung münden würde. Zu meinem Erstaunen blieb er indes einige Meter vor ihm stehen.

«Jetzt hör mir Mal gut zu.» Er tippte mit dem Finger hart auf Iván Brustkorb.

«Du bist krankes Arschloch. Das, was du da mit all diesen Frauen im Zimmer machst, die sich dir freiwillig wie Sklaven unterwerfen, ist absolut hirnrissig.»

Meine Augen weiteten sich bei der Bemerkung. Er... er war nach mir zu anderen Frauen gegangen? Hatte er das, was er Inbegriff war bei mir auszuleben, also bei den anderen Frauen... Frauen, wie Florentina ausgelebt? Und war das der Grund, weshalb er mir jetzt wieder entgegentreten konnte, und zwar weil er sich ausgetobt hatte? Mir wurde schlecht bei dem Gedanken und ich Puls schoss ins unermessliche, als ich begriff, worauf das Ganze hinauslaufen würde.

«Du bist ein narzisstischer...»

Er bohrt ihm demonstrativ den Finger in die Brust.

«verkorkster...»

Noch ein Getippe.

«Egomane.»

Silvana setzte ängstlich einen Schritt nach vorne und fasste Tian trotz der Waffe in der Hand an der Schulter. Mit bedacht hielt sie verunsichert ihren Blick auf den nun still gewordenen Iván gerichtet, der sich kaum rührte, aber dessen Brustkorb sich unnatürlich rauf und runter bewegte und dessen Nasenlöcher sind unnatürlich weit aufblähten.

«Tian, stop.» Furcht und Sorge erklangen in ihrer Stimme mit, wohl wissend, dass Tian sich auf sehr dünnem Eis bewegte und jeden Moment ins eiskalte Wasser zu stürzen drohte. Und trotz all der Signale schob er die Hand auf seiner Schulter beiseite, ehe er tief in die Augen blickte. Die reine Erschöpfung sprach aus ihnen heraus, die sich zusätzlich in seinem niedergeschlagenen Tonfall widerspiegelte.

«Nein Silvana. Weißt du was für Fantasien der da hat?»

Ich erkannte wie Iván erneut die Hände zu Fäusten ballte und auch Silvana entging diese Regung nicht. Nervös nestelte sie ein weiteres Mal an Tians Oberteil, doch er entzog sich ihrem hilflosen Griff.

«Er da», sagte er den Zeigefindern anklagend auf Iván richtend

«sucht sich Frauen aus, die aussehen wie Sie.»

Meine Wangen röteten sich vor Scham und ich zog die Schultern zusammen, als würde ich mich damit in diesem Raum unsichtbar machen können. Silvana stolperte zurück, ein beinnahe verarsch-mich-doch-nicht-Ausdruck verfestigte sich in ihren schönen Konturen, als würde sie Tians Aussage für einen schlechten Witz halten.

«So ist es doch, mein Freund, oder?», sagte Tian und baute sich nun vor Iván auf, ehe er ihn an den Schultern packte und nach hinten schubste.

«Komm schon, gib es doch zu.»

Ein weiterer Schubser.

«Gib es doch zu, dass du das Alington Madche so richtig hart durchnehmen möchtest.»

Und noch einer.

«Dass du danach gierst ihr erster zu sein.»

Und noch ein letzter, sodass Iván schließlich mit dem Rücken an der Wand angekommen war. Tian entfuhr ein enttäuschtes Seufzen, dann schüttelte er fassungslos den Kopf.

«Wie hast du dir das vorgestellt, Iván? Glaubst du wirklich sie wird dir erlauben sich von dir ficken zu lassen?»

Nun regte sich etwas in Iván Augen und ganz langsam wischte er sich mit dem Handrücken das Blut von seinen vollen Unterlippen. Es war als hätte e mit dieser simplen Geste auch seine komplette Wut weggewischt. Denn Aggression in seiner Haltung wandelte sich zunächst in Teilnahmslosigkeit um, bis sie dann von der Resignation in seinen Zügen ersetzt wurde, die mich unheilvolles erahnen ließ. Er schaute Tian nun erstmals wieder richtig an, wobei die Gefühllosigkeit sein gegenüber genauso aus dem Konzept zu bringen schien. Das und seine nächsten Worte.

«Wer sagt denn, dass ich auf eine Erlaubnis warte...»

Tödliches Schweigen.

Ich schloss gequält die Augen bei diesen Worten und hielt den sich anbahnenden panischen Aufschrei im letzten Moment zurück. Jetzt hatte er es ausgesprochen. Sein Versprechen verkündet und nochmal verdeutlichte, dass sein Abgang im Zimmer rein gar nichts damit zu tun, dass er dieses Vorhaben aufgab.

«Deine Zeit wird kommen», echoten die Worte in meinem Kopf und ich trat einige Schritte nach hinten, weil ich mich plötzlich nur noch mehr schämte, offiziell zu einem Objekt degradiert worden zu sein.

Es dauerte mehrere Sekunden ehe sich vor dem Standbild vor mir überhaupt was änderte. Ich meinte Tians laut keuschen zu hören, ehe er fast schon schwankend einige Schritte nach hinten trat, beinahe umfiel. Und dann tat er etwas völlig Unerwartetes. Er holte aus und verpasste Iván eine Ohrfeige. Atemlos und bemüht zu verarbeiten, was sein gegenüber ihm gerade prophezeit hatte, brachte er mit vor Wut erstickter Stimme lediglich folgende Worte heraus:

«Du bist abgefuckt, Iván. Du bist sowas von abgefuckt», gab er erstickt von sich, trat noch einige Schritte nach hinten um so schien es mir einen größtmöglichen Abstand zu Iván herzustellen und ließ sich von der Wand hinabgleiten, die Beine ausgebreitet, sein Kopf heruntergeneigt, während er sich mehrmals ausgelöst durch die dickten Haare fuhr.

Silvana, deren Gesichtsausdruck ich von hier aus nicht sehen erkennen konnte, da sie jetzt komplett mit dem Rücken zu mir gekehrt war, ließ mit einem Mal die Waffen aus ihren Händen fallen. Es dauerte mehrere Sekunden bis überhaupt etwas unternehmen, aber dann ganz langsam, als könnte sie selbst nicht mehr durch die Wucht von Iváns Worten auf den Beinen stehen, bewegte er sich auf ihn zu. Iván, der Tians Beispiel gefolgt war, hatte sich nun auf der gegenüberliegenden Seite mit dem Rücken an der Wand herabsinken lassen. Mit seinen in den Nacken gelegter Kopf, der an der Wand lehnte, blickte er dem Ebenbild der Ausdruckslosigkeit gleichend auf die Decke. Jeder Außenstehende hätte erkennen können, dass er ebenfalls für heute am Ende seiner Kräfte angelangt war. Mit dem zerknitterten Hemd und den dunklen Haaren, die in einem Durcheinander ausgeartet ihm unsanft immer wieder vors Gesicht fielen, gab er ein Bild ab, das jeden die Worte, die er gerade von sich gegeben hatte, vergessen lassen könnte. Doch das tat keiner von uns.

Vor seinem Seitenprofil anhaltend, ging Silvana ganz vorsichtig in die Hocke und als sie ihre nächsten Worte aussprach, vibrierte ihre Stimme vor unterdrückten Emotionen:

«Iván...»

Keine Reaktion. Sie startete einen zweiten Anlauf.

«Iván..» Doch auch hier starrte er gezielt die Decke an und ernährte damit Silvanas Frust, wie ich nun anhand ihrer an Lautstärke zunehmenden Stimme unschwer erkennen konnte.

«Wir... wir tun sowas nicht. Wir sind keine Vergewaltiger, du bist kein Vergewaltiger.»

Als er sich immer noch nicht rührte, entfloh ein kaum merklichen Winseln ihre Kehle und sie fügte ihrer Stimme Nachdruck verleihend hinzu:

«Unser Job ist es, war es solche Menschen hinter Gittern zu bringen und nicht uns ihre Ideale zu eigen zu machen. Wir entziehen Menschen ihre Freiheit, wir bedrohen, wir töten böse Menschen, ja... aber das, was du da andeutest, das tun wir nicht Iván, ok ? So sind wir nicht.» Ihre Stimme schlug nun einen zunehmend sanfteren Ton und als Iván endlich den Kopf leicht zur Seite neigte und sie unter seinen Augenlidern ansah, konnte ich mir bildlich das hoffnungsvolle Glitzern in ihren Augen ausmalen. Nur für einen kurzen Moment, ehe es durch Iván nächste Worte krachend auf dem Boden aufkamen.

«Silvana...», sagte er völlig emotionslos, ehe er sich von ihr abwandte und mich mit einem mehr als undurchdringlichen, stoischen Blick fixierte. Es folgte zunächst nichts, während seine Augen voller Ruhe auf mich gerichtet waren, bis er zum Vervollständigen des Satzes ansetzte:

«...schließ nicht von euch auf mich. Ich muss aus niemandes Zustimmung warten.»

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