◆18| C o u n t d o w n (P a r t II)◆

Alles, was gegen das Gewissen geschieht, ist Sünde.

|Thomas von Aquin|

Mit dem Betreten der Cafeteria nach geschlagenen 15 Minuten in der ich zum Glück niemandem begegnete, den ich kannte, setzten wir uns abseits an die hohen Panzerglasfenster von dort aus wir einen Blick nach draußen auf die grüne Landschaft des Campuses werfen konnten, auf den so viel wert gelegt wurde. Äußerst unsanft faltete ich meine Hände zusammen und presste sie beim Sitzen an meine Knie. Der davon ausgehende Druck sollte mich stets daran erinnern, dass ich Silvana gegenüber auf der Hut sein musste. Gleichzeitig versuchte ich aber auch das mulmige Gefühl zu beseitigen, dass bei ihrem Auftauchen unmittelbar aufgetreten war. Denn Silvana hatte mich aus meinen illusionären Tagträumereien gerissen und mir erneut vor Augen geführt, dass der Tag, an dem ich meine Familie hintergehen würde immer näher rückte und dass der morgige Tag ungeduldig an meiner Tür klopfte und schrie: Heute ist es soweit, heute wirst du hinter dem Rücken deiner Familie handeln.

Unerträgliche Bedrücktheit war noch ein milder Ausdruck meiner zugrunde gehenden Gefühlswelt. Ich konnte nicht in Worte fassen, wie sehr mich die ganze Situation erdrückte und belastete.

Die Blondine warf ihren langen Pferdeschwanz nach hinten und rückte ihr feinen Blazer zurecht, der ihren heutigen Menswear Look anzüglich unterstrich und der zudem ihren zärtlichen femininen Gesichtskonturen ausgesprochen gut stand. Sie sah aus wie ein Engel. Erstaunlich nur, dass niemand bis heute die versteckten Teufelshörner gesehen hatte, dachte ich in Gedanken und musste urplötzlich aufgrund dieser Absurdität lächeln.

Silvana, die mich auf der gegenüberliegenden Seite permanent im Auge behielt, zog verdutzt die Augenbrauen zusammen. Die ganze Zeit über hatten wir kein Wort miteinander verloren, da sie mir womöglich Zeit oder den Vortritt lassen wollte. Wie gültig von ihr.

Doch, dass meine erste Reaktion, nach der verstrichenen Zeit ein Lächeln von mir sein würde, das wäre ihr so wenig wie mir dann wirklich nicht in den Sinn gekommen.

Anstatt aber mit einer Frage darauf entgegenzuwirken, mich auszufragen, was denn so lustig sei, holte sie urplötzlich die Hand unter dem Tisch hervor und ich erkannte eine kleine mitternachtsblaue Schachtel in ihrer zur Faust geballten Hand, die sie in meine Richtung schob und sie vor mir ablegend kommentarlos öffnete.

Zum Vorschein kamen ein Paar Ohrringe, die aus funkelnden unterschiedlich großen Diamanten bestanden. Eine Blumenform, die sich an meine Ohrmuschel anschmiegen sollte bestand aus einem Diamant, das von kleinen weiteren am Rande umzingelt worden, sodass alle zusammen betrachtet, wie eine Blume aussahen. Unterhalb dieser waren durch kleine kaum erkennbare Karabinerhaken zusätzlich in einer Oval förmigen Fassung weitere Diamanten angebracht. Keinen Zusammenhang  erkennen könnend, nahm ich die teuer wirkenden Schmuckstücke zwischen meine Finger. Ich wollte zunehmend wütender werdend den Kopf anheben und sie fragen, ob das ein schlechter Witz von ihr war, aber da setzte sie auch schon zu einer Erklärung an.

«Diese Ohrringe wirst du morgen Abend zu deinem Kleid tragen. Ich habe ein Chip darin installiert, sodass du unsere Anweisungen jederzeit mit anhören kannst. Wir werden und damit direkt mit dir in Verbindung setzen.»

Ich atmete tief aus, blickte auf das Ding nieder, welches sich nach ihren Worten plötzlich so schwer in meiner Hand fühlte.

Sie werden an der Veranstaltung nicht teilnehmen und doch würde ich jederzeit ihre Stimmen wahrnehmen können.

Diese Vorstellung ähnelte so sehr dem Bild eines Puppenspielers, der seine Holzfigur wie eine Marionette von oben herab abspielte, sodass eine schreckliche Gänsehaut mich einholte.

Ich schluckte hart.

«Und... und was genau muss ich machen ?», sprach ich die Frage aus, die mir seit jeher den Kopf zerbrach. Ich hatte mit ihnen lediglich vereinbart, dass ich dieses Gemälde aus dem Besitz meiner Familie, den Alingtons entnehmen und es zu ihnen bringen würde, doch auf welche Art und Weise dies umgesetzt werden sollte, war mir bis zu diesem Augenblick immer noch ein Rätsel. Wie sollte ich meine Familie und all die Gäste täuschen? Wie sollte ich unbemerkt ein unbezahlbares Gemälde aus unserem Haus herausschmuggeln ? Wie war all das möglich ?

Silvana lehnte sich in ihrem Stuhl zurück.

«Deine einzige Aufgabe ist es nicht auffallen. Mehr verlangen wir im Moment nicht von dir. Was du konkret machen musst, wirst du morgen von uns erfahren.»

Nun war ich wütend. Wie stellte sie sich das vor ? Wie sollte ich herumspazieren und ein Duplikat gegen das Original austauschen ? Sah ich etwa aus als würde ich in meiner Freizeit ständig einen Diebstahl nach dem anderen begehen ?

Ich bückte mich über den Tisch vor und zischte auf.

«Das bringt mich nicht weiter. Wo bekomme ich das Duplikat her ? Wie soll ich ein Gemälde von den Augen all der Securityleuten und Kellnern verstecken? Wie stellst du dir das vor ?»

«Lass das ruhig meine Sorge sein. Vertrau mir, niemand wird etwas merken", sprach mir Silvana unwirsch ins Wort und schien überhaupt nicht beeindruckt von meiner Sorge, dass uns jemand erwischen könnte. Ihre Ruhe und ihre letzte Aussage stachelten mich weiter an. Silvana realisierte jedoch Sekunden später erst, dass ihre Wortwahl beinahe den Rahmen der Absurdität sprengte.

«Ich soll euch, dir vertrauen ? Ist das nicht der Grund, weshalb ich genau in dieser misslichen Lage bin. Du bist doch schuld daran, dass sie mich in diese Situation gesteckt haben !»

«Es wäre so oder so passiert, Amalia. Ganz gleich wie, auch ohne mich wäre Iván an dich ran gekommen», sagte sie, aber ich ließ mich nicht davon hinwegtäuschen, dass sie dadurch einfach ihre Schuldgefühle besänftigen wollte.

Ich antwortete ihr nicht, sondern verschränkte meine Armen vor der Brust und blickte aus dem Fenster, weil mir zunehmend schlecht beim Anblick ihrer unbesorgten Miene wurde. Selbst das herrschende trübe Wetter konnte nicht annähernd an meine just vorhandenen Gefühle ran kommen gestand ich mir ein, als ich den Blick über die Landschaft schweifen ließ.

Silvana vor mir seufzte auf.

«Hör zu... es tut mir leid, ok ? Doch mir bleibt keine andere Wahl. Ich...»

«Keine andere Wahl ?» Ich selbst erkannte wie schrill und hoch meine eigene Stimme klang.

«Du selbst warst doch diejenige, die gesagt hat, dass ihr nicht aus Zwang an seiner Seite seid, sondern wegen eurer Loyalität ihm gegenüber bei diesem krankhaften Spiel teilnimmt.»

Sie reagiert mit einem erneuten Seufzer.

«Du verstehst das nicht», gab sie beinahe verzweifelt von sich.

«Ja ! Genau, ich verstehe es nicht, denn ihr klärt mich nicht auf. Ich muss ein Gemälde stehlen und weiß nicht einmal, was für einen Zweck das haben soll. Ich muss mich gegen meine Familie stellen. Und während ich alles offen auf den Tisch lege, gibt ihr euch immer noch gedeckt. Findest du nicht auch, dass ich mittlerweile das Recht dazu habe, wenigstens zu erfahren, wozu mein Diebstahl gut sein soll ? Wozu es dienen soll, damit dieser Künstler Moreno aus dem Gefängnis entlassen wird ? Und in was für einer Verbindung steht ihr zu ihm ? Das weiß ich bis zu diesem Zeitpunkt immer noch nicht. »

Atemlos legte ich eine kurze Pause ein anschließend ich mit flehenden Augen zu Silvana blickte.

«Ich bitte dich, wenn du auch nur ein bisschen Güte besitzt... kläre mich auf ! Das schuldest du mir.»

Unschlüssig spielte Silvana mir ihren rot lackierten Fingernägeln herum, derweilen ich sie mit einem kummervollen Ausdruck bedachte. Ihre unsichere Haltung und ihre leicht nach unten verzogenen Lippen waren ein Indiz dafür, dass ich sie mit meinen Worten schwächer gestimmt hatte. Nun musste ich nur noch weiter am Ball bleiben, um ihre harte Schale zu knacken. Auch wenn ich Silvana nicht traute, war ich doch nicht auf den Kopf gefallen, um zu wissen, dass sie der goldene Schlüssel für einige brauchbare Antworten war.

Tian hatte es gefallen mich leiden zu sehen, ihn hätte ich also nicht weich klopfen können und von Iván brauchte ich erst gar nicht anzufangen. Seine Verachtung mir gegenüber war jederzeit präsent. Bei den beiden würde ich mit meinen Bemühungen nur unnötig Zeit verlieren. Ich musste all meine Karten also auf Silvana spielen, denn auch wenn ich nicht sexistisch sein wollte, hatte ich doch meine Zuversicht darauf beruhen lassen, dass sie eine Frau war. Sie würde ein großes Maß an Mitgefühl vorweisen, ganz gleich wie sehr sie dies auch zu verbergen intentionierte. Ich würde dieses Gefühl aus ihr entlocken und sie für meine Vorteile nutzen.

«Bitte...», rief ich also nochmal mit Nachdruck aus und setzte alles in meinen Blick ein. Elias hatte früher einmal gesagt, dass meine schokobraunen Augen eine immense Wärme ausstrahlten, dass jeder sich beim Anblick dieser wohlfühlen und das Gefühl der Vertrautheit übermittelt bekommen würde. Silvana war meine einzige Chance, um in Erfahrung zu bringen, was hier genau ablief.

«Iván ist wie ein Bruder für uns. Damals in unserer Kindheit waren wir in Kolumbien Nachbarn.... unsere Väter waren beste Freunde.»

Ich hielt den Atem an und erstarrte plötzlich in meiner Bewegung, weil ich nicht fassen konnte, was gerade geschah. Oh mein Gott, sie sprach!

«Ich weiß gar nicht, womit ich anfangen soll», sagte sie nun mit belegter Stimme und knetete vor Nervosität ihre Hände. Aus diesem Blickwinkel sah ich ihr genau an, dass sie gerade, die tief in ihr gut behüteten Erinnerungen aus ihrer geheimen Kammer rausholte und sich einem Déjà-vu Film hingab, der sie vor allzulanger Zeit auf Nimmer wiedersehen den Rücken zugekehrt hatte.

«Tian und ich sind Geschwister. Er ist knapp eineinhalb Jahre älter als ich. Als die Situation sich in Kolumbien aufgrund der Guerillakriege verschärfte, verließ unsere Mutter uns und ging wieder zurück in ihre Heimat nach Russland. Unser Vater zog uns alleine auf, hat uns aber nie den Mutterverlust spüren lassen. Warum, denn auch ? Wir hatten ihn, Mutter und Vater zugleich, und wir hatten Iván und seinen Vater, die ein Teil unserer Familie wurden. 1998, Tian war fast neun und ich acht Jahre alt. In Kolumbien wurde die innere Anspannung zunehmend betäubender, toxischer, zerstörerischer... und als der neue Präsident Pastrana sein Amt antrat gehörten Überfälle, Bombenanschläge und Aufstände zum Alltag. Die Guerillakriege hatten ein schwarzes Tuch über das ganze Land gelegt. Ein endloser Albtraum zog sich wie eine schiefe, ohrenbetäubende Oktave in die Läge.»

Silvana packten ihre eigenen Worte so sehr, dass sie angespannt Luft aus ihrer Lunge ausstieß und sich die Lippen mit ihrer Zunge befeuchtete, um weiter sprechen zu können.

«Mein Vater war ein gewöhnlicher Bürger. Er verdiente mit harter Arbeit und Fleiß sein Geld, um uns über Wasser halten zu können. Er... Er war ein guter Mann. Doch eines Morgens bekamen wir die Nachricht, dass... dass er auf den Weg zum Bäcker das Opfer eines erneuten Bombenanschlags wurde. Er hatte nichts damit zu tun, sondern war zu einem falschen Zeitpunkt am falschen Ort gewesen ! Wir durften seine verbrannte zerstückelte Leiche nicht sehen und auch wenn Iváns Vater nie darüber ein Wort verloren hat, nachdem er aus dem Leichenhaus zurückkehrte, hatte der Schock und die Fassungslosigkeit, die in dem Moment sein Gesicht geziert hatte alles dargelegt, was wir wissen mussten. Unser Vater war aufgrund der Verbrennungen nicht wiederzuerkennen.»

Ein harter fester Klotz bildete sich in meinem Hals, derweilen Silvana einige Sekunden lang den Mund schloss und ebenso wie ich über ihre Worte nachdachte
.
Ich war wie versteinert. Zwar hatte ich schon einiges über die Guerillakriege gehört und auch Papá hatte mir einiges von seinen hautnah erlebten erzählt, doch nun nochmal bestätigt zu bekommen, wie es von einem Tag auf den anderen Familien zerstörte... dieser Gedanke machte mich regelrecht wahnsinnig.

Silvana, die seit ihren letzten Worten starr aus dem Fenster geblickt hatte, öffnete den Mund einen kleinen Spalt.

«Iváns Vater hat uns aufgenommen. Als wir völlig alleine standen, nur Tian und ich... nichts hatten, hat er uns willkommen geheißen. Er hat uns mit Liebe und Wärme überschüttet, hat uns genauso wertgeschätzt wie Iván und uns die Chance gegeben mit einer zweiten Familie glücklich zu werden. Verstehst du nun, warum wir für Iván da sind ? Warum wir freiwillig mitmachen ?»

Ich schluckte, ehe ich sie leise fragte:

«Und wo... wo ist sein Vater jetzt ?»

«Ist das nicht offensichtlich ? Iván ist ein Moreno. Sein Vater, Amalia... er ist derjenige, der im Gefängnis sitzt. Iván hat den einzig wichtigen Menschen in seinem Leben verloren. Er möchte seine Unschuld an Licht bringen, genauso willig wie du die Unschuld deiner eigenen Familie beweisen möchtest.»

Ich blieb regungslos. Silvana blickte mich an, als würde sie eine emotionale Reaktion und so etwas wie Verständnis von mir erwarten, doch die konnte ich ihr nicht liefern, insbesondere dann nicht, wenn mir immer wieder Szenarien einfielen, in denen Iván mich schrecklich behandelt hatte. Die Lage mit seinem Vater war selbstverständlich bedauerlich, aber die Methoden, auf die er zurückgriff, erzeugten nicht gerade die Empathie, die ihm zuteile gewesen wäre.

«Also sind die Kunstwerke von ihm ?»

Silvana nickte knapp und ich wusste aufgrund ihrer angespannten Schultern, dass sie mir nicht erlauben würde näher nachzufragen. Obwohl ich gerne gewusst hätte, weshalb sein Vater ins Gefängnis kam, warum und wann das geschah, weshalb sie dafür Mr. Howard getötet hatten, musste ich doch meine nächsten Worte mit bedacht wählen und darauf achten nicht auf das Fußnäpfchen zu treten und sie völlig zu vergraulen.

«Und was genau soll das Gemälde, das in unserem Besitz ist bezwecken ? Ich verstehe ja, dass es sein Eigentum ist, aber allein dafür würdet ihr ganz bestimmt nicht so viel Einsatz zeigen.»

Silvana schwieg, als wäge sie innerlich ab, ob sie weitere Informationen verraten dürfte, oder ob das weitaus mehr den Rahmen sprengen würde.

«Niemand kann mit ihm sprechen. Sein Vater sitzt in Einzelhaft, Besuche sind nicht gestattet außer die von seinem Anwalt. Vor kurzem hat Iván hingegen in Erfahrung bringen können, dass hinter einer diese Gemälde eine Disk angebracht wurde, die Iváns Vater kurz vor seiner Inhaftierung dort versteckt hat und die seine Unschuld unter Beweis stellen soll.»

Nun ratterte es auch in meinem Kopf. Obwohl ich mich fragte, warum Iván ausgerechnet jetzt nach all den Jahren diesen Tipp bekam, warum jetzt, wenn sein Vater doch bereits seit Jahren hinter Gittern saß, hielt ich diese Frage zurück und entschied mich im Gegenzug für eine andere Frage:

«Was genau ist auf dieser Disk vorzufinden ?»

«Das werden wir erst erfahren, wenn du uns das Gemälde zukommen lässt. Verstehst du nun warum das Ganze wichtig, warum wir nicht aufhören können ? Du bist doch ein gerechter Mensch... dann kannst auch du dafür sorgen, dass die Gerechtigkeit seinen rechtmäßigen Platz findet, Amalia Alington.»

Als ich die Cafeteria verließ, wünschte ich erschöpft von den neu dazugewonnen Informationen eigentlich niemand anderen als Sanjanas gute Laune bei mir.

War die Lage aussichtslos ?
Mehr als das.
Sank meine Laune immer weiter in den Keller ? Auf alle Fälle.

Doch der Verrat, der sich an meinen Gewissen sesshaft- und sich durch dunkle Wolken um mich herum kenntlich machte, lösten sich kaum merklich durch einzelne Hoffnungsstrahlen auf. Durch die Hoffnung, nach diesem Abend endlich meine Familie in Sicherheit zu wissen und nicht als eine Zielscheibe zu der sie aus unglücklichen Umständen degradiert worden waren.

Würde ich mich komplett aus dieser Angelegenheit entziehen können ?
Das wiederum war eine Frage, die mich immer wieder in eine aussichtslose innere Diskussion führte. Auf der einen Seite wollte ich mit dieser Welt nichts zu tun haben, andererseits hatten sie Mr. Howards Tod und vielleicht auch die vieler anderer hervor beschworen. Der Gerechtigkeit könnte erst Genüge getan werden, wenn die Verbrecher dieser Tat ihre wahrhaftige Strafe bekamen. Ganz gleich, welche Motive Menschen auch hatten, dafür ein Menschenleben zu opfern, konnte niemals durch etwas gerechtfertigt werden.

Dieser Gedanke beschäftigte mich so sehr, dass ich selbst, als ich die Universität für heute verwarf und zu Hause ankam, um mich an den Rand des Schwimmbeckens zu setzen und meine Füße ins Wasser gleiten zu lassen, immer noch nicht zur Ruhe kam. Am liebsten wäre ich geschwommen, aber die Wunde an meinem Hinterkopf war noch nicht verheilt, sodass ich mich nicht überanstrengen wollte. Außerdem hatte ich es gut vor meiner Familie zu verbergen gewusst und wenn sich nun das Wasser plötzlich rot färben würde, wäre das Geheim halten meiner Verletzung unmöglich.

Das Wasser beruhigte mich für gewöhnlich, nahm mich gedanklich in eine andere Welt mit. Jedoch fehlte es heute sichtlich an diesem Erfolg. So sehr ich es auch versuchte, die Komfortzonen in der ich mich durch den Kontakt mit dem Wasser fühlte, erreichte mich heute weder seelisch, noch körperlich. Mein Körper glich einer zusammengebundenen Mumie, die sich nicht regen konnte.

Dementsprechend hatte ich kurzerhand, nachdem ich eine kalte Dusche genommen hatte, mich dazu entschieden Jeffrey anzuordnen Sanjana von zu Hause abzuholen.
Ich hatte zuvor heimlich ihre Eltern angerufen, um sie in erster Linie um Erlaubnis zu bitten, ob Sanjana bei mir übernachten dürfte, zumal wir uns sowieso wegen der Veranstaltung morgen bei uns verabreden und uns zusammen für den Abend vorbereiten wollten.

Wie ich eigentlich erahnt hatte, hatten Sanjanas Eltern nur eingewilligt, weil es sich um mich handelte. Die Patels wussten, wie verrückt ihre Tochter sein konnte und dass ich sie umso perfekter mit meiner manchmal zu vornehmen Seite ergänzte.

Jeffrey hatte sich auf dem Weg gemacht und als es eine halbe Stunde später zaghaft an meiner Tür klopfe, bat ich die Person, in dem Wissen, dass es sich um Sanjana handelte, herein.

Ihr starkes blumiges Parfüm breitete sich auf der Stelle in meinem Zimmer aus, sodass ich mich bereits mit einem kleinen schiefen Lächeln von meiner Kommode wandte und sie unbeholfen an der Tür stehen sah.

Trotz des etwas dunkleren Teints der Halbinderin zeichnete sich ein leichter rosaton an ihren Wangen aus, was nicht niedlicher wirken konnte. Sie schien aufgeregt. Anscheinend hatten ihre Eltern wirklich ihr Wort mir gegenüber gehalten, als ich sie darum gebeten hatte Sanjana nicht zu verraten, warum ich sie hergebeten hatte.

«Hey», sagte ich und ging in meinem Nachthemd auf sie zu.

«Hi», sagte sie ebenso unsicher auf mich zukommend. Die merkwürdige Atmosphäre, die sich durch mein heutiges Verhalten und auch die Tage zuvor zwischen uns entladen hatte, zeigte auch jetzt Wirkung.

Sanjana wäre nie so kleinlaut geblieben. Sie war die lauteste schrillste Person, die ich kannte. Nun wirkte sie wie eine Partymaus, die sich auf einer Beerdigung befand: still, zurückgezogen und verloren.

Sanjana war kein Mensch, der sich schnell vergraulen ließ, doch wenn sie merkte, dass etwas nicht stimmte und man nicht offen mit ihr darüber sprach, dann zog sie sich ebenfalls zurück, weil sie einfach nicht wusste, wie sie mit diesem Menschen umzugehen hatte.

«Was gibt's denn ?», fragte sie und ich trat einige weitere Schritte auf sie zu, ehe ich sie in eine Umarmung zog. Dass sie überrascht war von meiner plötzlichen Offenheit, merkte ich, als sie sich mit einem verwunderten Keuchen zu bekennen gab. Doch nach einer gewissen Eingewöhnung, erwiderte sie es und ließ ihren Kopf auf meiner Schulter ruhen.

«Es tut mir leid», flüsterte ich und meinte es auch aufrichtig. Es tat mir leid, alles tat mir leid, meine Freunde und Familie anlügen zu müssen und meine Emotionen dabei ungewollt bei ihnen herausgelassen zu haben. Das war ganz und gar nicht fair.

Sie strich mir sachte über den Rücken und murmelte:

«Ich weiß.» An dem zarten und lieblichen Ton ihrer Stimme wusste ich, dass auch sie ihre Worte nicht einfach so daher sagte. Sie verstand es, sie verstand es wirklich, obwohl ich so verschwiegen war.

«Du kannst jederzeit mit mir reden, das weißt du, oder ?», sagte sie außerdem und fasste mich nun an den Oberarmen um mich leicht von ihr wegzuschieben, damit ich ihr ins Gesicht blicken konnte. Ich seufzte verzweifelt auf.

«Du bist meine beste Freundin Sanjana. Natürlich rede ich mit dir über alles.» Außer dieser einen Sache, dachte ich in Gedanken, führte diese aber mündlich nicht aus.

Wie als hätte Sanjana das Kämpfen meines inneren Schweinehundes erkannt, legte sie ein Lächen auf und änderte das Thema. Sie hatte erkannt, dass ich nicht sprechen würde und obwohl sie nicht gerade begeistert davon war, ließ sie mir die Zeit.
Genau deshalb war sie meine beste Freundin.

«Ok... ich denke Mal zur Entschuldigung, lässt du heute Abend eine Pyjamaparty steigen», sagte sie nun verschwörerisch grinsend und deutete auf den Tisch voller Süßigkeiten, Schminke und kitschigen DVD-Liebesfilmen, die ich für uns herausgelegt hatte.

Ich lächelte ebenso breit.

«Darauf kannst du Gift nehmen. Heute Abend wird es durch und durch ein Mädelsabend voller Spaß und ohne Sorgen werden.»

Wenigstens diesen einen Abend noch, ehe in 24 Stunden ein Paar voller pechschwarzer Augen mich aus dieser Ruhe entreißen und mich den hungrigen Wölfen zuwerfen würde.

***

Wie der nächste Tag angebrochen und die Vorbereitungen für den Tag abgelaufen waren, an das Alles erinnerte ich mich nur noch vage. Ich hatte gestern Abend noch sehr viel Spaß mit Sanjana gehabt. Wir hatten über Schauspieler geschwärmt, sie hatte mich aus Spaß geschminkt und im Anschluss hatten wir einer ihrer Lieblingsfilme aus ihrer Heimat geschaut. Sobald im Film gesungen würde, trällerte und tanzte sie mit. Auch vollführte sie jede Bewegung mit solcher Übertreibung, dass ich mich schlichtweg vor Lachen nicht mehr einkriegen konnte. Der Abend war sehr schön verlaufen und ich schätzte kleine Augenblicke wie diese sehr, da ich mich ausnahmsweise einmal wie ein normaler Teenager benehmen konnte, dessen Probleme nur daraus bestanden, wie sie die nächste Klausuren zu bewältigen hatte.

Ja... einen kurzen Moment über hatte ich alles verdrängt, bis der Morgen anbrach. Mir war speiübel und ich hatte bereits mit dem Öffnen meiner Augen Kopfschmerzen bekommen, die mich zu Boden zwangen. Innerlich verspürte ich das krampfhafte Bedürfnis mich aus dem Staub zu machen und an den Ereignissen dieses Tages nicht teilzunehmen.

Doch das war nicht möglich. Jetzt konnte ich keinen Rückzieher mehr machen.

«So jetzt sind wir fertig. Du kannst die Augen auf öffnen», sagte Sanjana, die in den Aquarell-blauen Elie Saab Kleid steckte, das ich ihr für den heutigen Anlass zur Verfügung gestellt hatte, da ich fand, dass es ihrem Teint viel besser stand als meinem. Sie beäugte mich kritisch, blickte mit dem Stift in ihrer Hand von meinem einen Auge zum anderen, ehe sie sich zufrieden nicktend nach hinten lehnte und meinte:

«Der Kajalstrich ist perfekt geworden. Du siehst fabelhaft aus.»

Mit diesen Worten drehte sie meinen Stuhl wieder um und ich erblickte mich selbst im Spiegel an.

Meine Haare waren zu einer lockeren Hochsteckfrisur gebunden worden. Einige leichte Strähnen fielen herab, sodass meine Schultern nicht von meinen Haaren eingenommen wurden.

Das hautenge jadegrüne Kleid floss bedächtig meinen Körper hinab. Lediglich der beachtliche Schlitz an der Seite zeigte die Gewagtheit dieses simpel wirkenden und doch sehr  modernen Kleides auf.

Wie als hätte Silvana gewusst, was für ein Kleid ich anziehe, passten die Ohrringe von der Form als auch von der Farbauswahl einwandfrei. In dem Augenblick beschlich mich der Verdacht, dass sie sich womöglich sogar vorher diese Information unter den Nagel gerissen haben könnte, was meinen Unmut größer stimmte.

Als ich bemerke, dass selbst Sanjana wieder die Stirn kraus legte, gestand ich mir ein, dass der Abend nicht reibungslos verlaufen würde, wenn ich diese Nervosität nicht in den Griff bekam.

Nachdem wir also am Abend den großen Saal im Ostflügel betreten hatten, da der alte weiterhin aufgrund der Ereignisse am Todestag von Mr. Howord demoliert war und einen Umbau benötigte, hatte ich mich zunächst unter den vielen Gästen nach Papá umgesehen.

Wenn ich mich nicht blicken ließ, würde ich später keine Gelegenheit finden mich in seiner Gegenwart aufzuhalten, da er zumeist in hitzige Gespräche oder Diskussion verwickelt sein würde oder aber eine Rede vor der ganzen Masse halten müsste.

Nachdem ich ihn letztlich erblickt und auch einiger ihrer Geschäftspartner freundlich lächelnd die Hand gedrückt hatte, schlug ich mir zu Beginn so die Zeit um.

Sanjana unterhielt sich mit Elias. Sie hatte nämlich immer wieder in denselben  Fällen in ihren Hausarbeiten oder ihren Klausuren Probleme, weshalb sie schon beim Betreten des Raumes und mit dem gleichzeitigen rüber winken von Elias angedeutet hatte, dass sie ihn da um Tipps fragen wollte.

Während ich Papá nur mit halbem Ohr zuhörte, ließ ich meinen Blick über die schick gekleideten Menschen im Saal gleiten, die alle mit sich selbst beschäftigt waren.

Delilah sollte heute bei Blanca in der Küche bleiben und mit ihr Karten spielen, sodass nur der kleine Carlos als einziges Kind unter den Erwachsenen auffiel.

Clara trug ein wunderschönes Kleid, was ihren ansehnlichen Körper angenehm betonte. Ich war fasziniert, dass sie es trotz der Schwangerschaft geschafft hatte in Form zu bleiben. Manche Menschen waren eben vom Glück gesegnet.

Clara begab sich gerade zu Elias und Sanjana, doch von Raúl hatte ich heute noch nichts gehört.

Ich runzelte die Stirn, als meine Augen weiter nach ihm suchten.

«Meine Herren und Sie Miss, darf ich Ihnen was zu trinken anbieten ?»

Die zustimmenden Laute, der anderen Gäste überhörte ich gekonnt, doch als die Kellnerin sich nun an mich wandte, da entschloss ich mich kurzzeitig mit der Suche aufzuhören.

Ich wollte gerade nach einer der Champagnergläser auf den Tablett greifen, als mein Blick auf die Kellnerin fiel.

Mir stockte der Atem, als mich ein bekanntes Augenpaar anstarrte. Trotz der großen runden Brille und der schwarzen Kurzhaarperücke konnte mich nichts davon täuschen, dass ich dieses Gesicht kannte.

Die Kellnerin war Silvana. Silvana, die in einem weißen Hemd mit Papillon und einem Beistiftrock vor mir stand und mir ein Glas anbot.

Aufdringlich blickte sie mir in die Augen, versuchte dies aber vor den anderen zu verbergen, indem sie mich herzhaft anlächelte. Einen Moment war ich gewillt zu glauben, dass dieses Lächeln echt war. Dann verwarf ich diesen Gedanken aber schnell wieder.

«Und Sie Miss ?», fragte sie immer noch lächelnd und beugte sich leicht runter, ehe sie mir das Silbertablett entgegenstreckte auf dem einige Gläser aufgestapelt waren. Ich griff instinktiv nach dem Champagner. Zwar wollte ich einen kühnen Kopf bewahren, aber dass Silvana mich im Auge behalten würde, damit hatte ich nicht gerechnet. Aufmerksam haftete mein Blick auf ihr, doch in dem Moment bemerkte ich, dass ich sie schon viel zu lange angestarrt hatte, ohne das Glas an mich zu nehmen.

Falls ich die Aufmerksamkeit von Papá neben mir und seinen Geschäftspartnern nicht auf mich ziehen wollte, musste ich auf der Stelle reagieren. Ich streckte die Hand aus und nahm lächelnd ein Glas in die Hand, ehe ich so tat, als würde ich die Person vor mir nicht weiter beachten.

Nachdem sie einen letzten Blick auf mich werfend wegging, atmete ich tief aus. Eine erneute Ladung an Panik stieg an und mir wurde plötzlich unbeschreiblich warm. Eilig nahm ich einen Schluck aus meinem Glas, anschließend ich mitbekam, wie Papá darauf aus war mich in das Gespräch zu involvieren.

Irgendwann hielt ich es nicht mehr länger aus entschuldigte mich bei Papá und den anderen Gästen mit der Ausrede, dass ich noch was zu erledigen hatte, ehe ich das Glas fest umklammert und wie hypnotisiert den Saal überquerte und auf den Buffettisch zulief an dem Silvana gerade die Törtchen ordnete.

«Bleib ja da wo du bist. Wir dürfen nicht zusammen gesehen werden !»

Ich stoppte, als ich die Stimme in meinem Kopf wahrnahm. Es war der Chip durch den Silvanas Stimme zu mir durchdrang. Obwohl sie den Blick kaum von ihrer Aufgabe genommen hatte, hatte sie bemerkt, dass ich geradewegs auf sie zulaufen wollte.

Tief atmete ich eim, ehe ich mich unauffällig etwas abseits des Saales begab. Silvana kriegte es vielleicht hin ihre Lippen unbemerkt zu bewegen, doch solch eine Gabe besaß ich nicht.

In einer steifen Position stehend, wollte ich gerade antworten, als sich plötzlich jemand dicht neben mich stellte und ich erschrocken zusammenfuhr.

«Du...», stieß ich atemlos aus, als sein betörender Eigenduft und der darunter schwelgende Tabakgeruch auf mich einwirkten.

Seine Miene kaum verziehend, ließ er den Blick aufmerksam über die Menschen gleiten, anschließend er sein Sakko glättete. Er hatte sich sogar rasiert, fiel mir auf, als ich seinen nun ebenmäßigen Dreitagebart vor mir sah. Die feinen Barstoppeln waren kurz und doch ausreichend, um nicht zu glatt zu wirken.

«Du starrst. Ich mag es nicht, wenn mich Menschen anstarren», kommentierte er kühl, was meinen Kopf wieder nach vorne manövrierte und ich an meinem Champagnerglas nippte, um mir nicht anmerken zu lassen, wie sehr sein Erscheinen mich aus dem Konzept brachte.

Das Auftauchen von Silvana hatte mich bereits verwundert, aber das er, ausgerechnet er sich ebenfalls hierher traute, in dieses Haus, zu einer Veranstaltung meines Vaters... das entzog mir all die Kraft, die ich für diesen Abend benötigte.

Wie als hätte er das leichte Zittern meines Körpers und meine immer flacher werdenden Atemzüge bemerkt, bildete sich unwillkürlich ein boshaftes Lächeln um seine Mundwinkeln, das begleitet wurde von seiner rauen Stimme.

«Hast du etwa gedacht, ich verpasse das ganze Spektakel ? Es hat doch erst jetzt angefangen richtig spaßig zu werden. Augen auf Miss Alington, it's Showtime.»

Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top