◆15| P l a y o r D i e◆
Der Dieb mag lügen, der Diebstahl nicht.
|türkisches Sprichwort|
«Stop. Stop ! Ich komme zurück. Ich komme zurück, hörst du ! Tu ihm nichts... ich... ich werde zurück kommen», krächzte ich, nachdem mein panischer Schrei explosionsartig die ganze Luft aus meiner Lunge herausstieß.
Mein Herz hämmerte flatternd, sodass es sich danach anhörte, als würden lauter kleine Flügelschläge gegen den Wind ankämpfen und sich bemühen in der Freiheit Fuß zu fassen. Doch verloren sie dabei jedes Mal aufs neue den entscheidenden Triumphzug und wurden mit dieser Niederlage bestatten wieder nach hinten dirigiert. Bestürzt über die möglichen Szenarien, die sich unmittelbar hätten abspielen können, wenn ich nicht meine Stimme wiedergefunden hätte, verkrampfte ich mich, ehe mein Körper mit von der Angst erzeugten Lawine wachgerüttelt wurde.
Er hätte es getan...
Jeden weiteren Atemzug, den ich nun betätigte hätte Raúl tot sein können... genauso wie Mr. Howard.
Als mir diese Nacht und das ganze rote Blut wieder vor Augen fielen, Jons versteinerter Ausdruck, der auf seinem Vater gerichtet war, da war es plötzlich um mich geschehen und die ganzen Ereignisse erzeugten eine turbulente Karussellfahrt, die mir den Magen quer drehten, sodass ich mich jeden Moment lauthals übergeben wollte. Mir war kotzübel und der bittere Geschmack von Eisen klebte an meiner Zunge, der meinen Mageninhalt noch weiter anstachelte sich aufwärts zu begeben.
Gerade noch rechtzeitig presste ich mir hingegen die freie Hand auf den Bauch und rang durch die Nasenlöcher nach Sauerstoff.
Rein, raus... Rein raus. Langsam, nur langsam...
«Bitte... bitte er darf ihn nicht töten.» Meine schrilles, schwaches Flehen hallte an meinen Ohren wieder. Es klang beinahe wie ein unklares Rauschen, das eine Signalstörung zwischen meiner Aufnahmefähigkeit und meinem von mir gegebenen Worten ankündigte. Als würde ich meinen Mund bewegen, die Stimme hingegen jemand anderem im Hintergrund gehören. Beinahe leise, kapitulierend...
Nachdem auch nach Sekunden kein einziger Ton am anderen Ende der Leitung ertönte, aber auch kein markerschütternden Schuss gefallen war, löste sich langsam aber sicher der feste Knoten in meiner Brust auf und ich redete mir ein dies, als ein gutes Zeichen zu werten. Zumindest wollte ich fest daran glauben, andernfalls würde ich komplett den Halt unter den Füßen verlieren.
«Dreh dich um und geh.»
Der messerscharfe Ton in seiner auffordernden Stimme ließ mich zusammenfahren, ehe ich vor Erleichterung die Luft ausstieß, die ich seit jeher angehalten hatte.
Gott sei Dank. Oh Gott sei Dank... Raúl war in Sicherheit.
Nicht einen Moment länger zögernd, kehrte ich meinem eigentlichen Ziel den Rücken zu, ohne Bedenken und losgelöst von jeglichen Gefühlen, also völlig mechanisch.
Das unbekannte Handy lag immer noch in meiner Hand, doch hatte ich meinen Arm seitlich von mir herunterbaumeln lassen, da mein Körper mir sich just, wie eine flüssige Substanz vorkam, die ihre nötige Konsistenzgehalt verfehlt und sich nun aufgelöst hatte. Es fühlte sich so an, als verwandelten sich die festen Knochen meines Skeletts zu Blei, sodass Verstand und mein Körper von völlig gegensätzlichen Polen angezogen wurden. Ich war absolut hin- und hergerissen.
Mit jedem Schritt setzte ich meinen Weg unbeirrt fort und warf dabei keinen einzigen Blick nach hinten, da sich seine Drohung, die er laut und deutlich angesprochen hatte, wie ein Mikrochip in mein Gehirn eingepflanzt hatte.
Raúl... Er hätte ohne mit der Wimper zu zucken auf Raúl geschossen...
Vor den quietschenden Eisentoren angekommen, hob ich schließlich den Blick an und bemerkte, dass das Taxi mit dem ich zuvor hierhergefahren war, nicht mehr da war, sondern dass sich an ihrer Stelle ein weißer altmodischer Kleinwagen, ein Cabriomodell, vor mir auf dem Platz eingefunden hatte. Mit einem kurzen flüchtigen Blick auf die hellen Haare erkannte ich, ohne meine Augen eine Sekunde länger dort haften zu lassen, dass es sich um Silvana handelte, die die Hände fest um das alte Gerüst des Lenkrades geschlungen hatte und auf dem Fahrersitz sitzend auf mich wartete. Flüchtig drang die Empfindung in den Vordergrund, dass mir meine Spucke hochkam, das sich durch einen harten Stoß in meiner Brust bei ihrem Anblick, um einiges verstärkte. Wie konnte sie bei all dem mitmachen ? Wie hatte ich auch nur minimal davon ausgehen können diesem Menschen zu vertrauen ?
Sie erwiderte meinen Blick einige Sekunden lang schweigend, ehe sie sich über die Mittelkonsole bückte und ihren Arm ausstreckte, um mir die Beifahrertür sperrweit zu öffnen, ehe sie ihr unerträgliches Schweigen fortführte, indem sie sich wieder nach vorne drehte und ohne jegliche Miene kund zu tun, einfach nur aus der Frontscheibe blickte.
Widerwillig und das Gefühl verspürend bei jeder meiner Bewegungen am ganzen Leibe zu zerfallen, überbrückte ich die wenigen Schritte zum Auto, ließ mich nieder auf meinen Sitzplatz und knallte absichtlich mit einem zu energischen Schwung die Tür hinter mir zu, dass es sie augenblicklich zusammenzucken ließ.
Sie blickte nicht in meine Richtung, als sie im Anschluss die Hand auf meine Seite ausstreckte und mir ihre Handinnenfläche wie ein Silbertablett entgegenhielt.
«Das Handy», sagte sie und deutete auf das Gerät, was sich noch in meiner Hand befand und durch das ich all die Befehle und die Drohungen zu hören bekommen hatte. Meine Gedanken befanden sich so gefährlich nah an der Klippe des Abgrundes, dass mir erst jetzt auffiel, dass ich nicht einmal aufgelegt hatte, Er mich also weiterhin hören konnte, in jeder meiner Atemzüge, jeder meiner Bewegungen und in jedem gemachten Schritt. Plötzlich fühlte sich das kleine Teil in meiner Hand wie eine steinharte Bazuka an, dessen Schwere ich nicht länger ertrug, sodass ich ihre dies schnell in die Hand drückte.
«Hey, ich habe sie. Wir machen uns auf den Weg.»
Mit diesen knappen Worten legte sie das Handy anschließend in das Seitenfach an ihrer Tür und reichte mir stattdessen im Gegenzug darauf mein eigenes Handy wieder zurück. Meine Freude diesbezüglich hielt sich jedoch deutlich in Grenzen, weshalb ich es kommentarlos an mich nahm und es in meine Jackentasche verstaute. Ein Blick aus dem Fenster und der verschwommenen Landschaft, die stetig abstrakter wurde, bestätigte mir, dass Tränen meine Sicht betrübten und sie jeden Moment wie eine Flutwelle auf mich einfallen würden. Ich schluckte den bitteren Beigeschmack der Hilflosigkeit, die sich in meinem Hals verfangen hatte, runter und beobachtete dabei schweren Herzens, dass wir von Mal zu Mal einen größeren Abstand zu meinem Zuhause herstellten... und damit auch gleichermaßen eine große Kluft in meiner Seele hervorriefen.
So kurz davor, Ich war so kurz davor gewesen, dachte ich verbittert und doch war meine Niederlage schon vom meinem ersten gemachten Atemzug bereits hervor bestimmt gewesen. Sie hatten es bewusst auf dieses Weise inszeniert, hatten mich schon die ganze Zeit über anvisiert gehabt und sich prächtig daran ergötzt, wie ich mich den ganzen Weg durchgekämpft hatte. Im Endeffekt war ich ein einsamer Goldfisch in einer leerer Glaskugel, den sie hatten absichtlich zappen und zucken, kämpfen und doch haben fallen lassen. Das war barbarisch...
Ich wusste nicht, wohin wir fuhren. Ich war sowieso zu sehr in meinen eigenen Gedanken versunken, woraufhin ich nicht einmal mitbekommen hatte, welche Kreuzungen sie überquert, welche Straßen sie passiert hatte. Ich fragte mich nur, wie ich den Fängen dieses Spinnennetzes, dass sich um mich herum geschlungen hatte entkommen konnte und am allermeisten stellte ich mir die Frage, was sie dazu motivierte dies mit mir anzustellen.
Nachdem ich Silvana eine Zeit lang ignoriert hatte, obwohl ich gesehen hatte wie sie mir von der Seite aus Ab und An verstohlene Blicke zuwarf, richtete ich nun wieder mein Gesicht geradeaus auf die Straße. Ich spürte, wie sie sich langsam anspannte, als meine Augen sich mit einem Mal mit ihren verfingen.
«Was habt ihr mit mir vor ?», fragte ich kalt und zu meiner Verwunderung antwortete sie sogar.
«Das kann ich dir zu diesem Zeitpunkt nicht verraten.»
«Warum tut ihr das ?», startete ich einen erneuten Versuch und auch da seufzte sie gepresst auf. Ihre Fingerknöchel traten mit einem Mal weiß hervor, als sie den Druck auf dem Lenkrad verstärkte, derweilen meine Augen fest darauf hafteten.
«Auch darüber kann ich dir keine Auskunft geben...»
Meine Haltung blieb unberührt. Ich verzog nicht das Gesicht, wimmerte nicht vor Verzweiflung auf. Irgendwie hatte ich mir schon gedacht, dass sie mir nichts verraten würde.
Einige Sekunden lang blieb es still, ehe ich nochmal zu sprechen anfing. Dieses Mal war meine Stimme nicht mehr als ein Flüstern, aber dennoch gefasst.
«Wird er mich töten ?»
Dass ich so ruhig war, erstaunte mich selbst, denn obwohl mein Innerstes bei dieser Frage tobte, brachte mein Stolz es nicht über sich, ihr zu zeigen, wie sehr mich diese Antwort darauf erschreckte. Ich musste nicht sagen, wen ich mit er meinte, denn wir beide wussten nur zu gut, wer die eigentlichen Zügel in diesem verstrickten Spiel in den Händen hielt.
Silvana Gesichtsausdruck, der gleichgültiger nicht sein könnte, wandelte sich urplötzlich. Ihre Pupillen vergrößerten sich kaum merklich wie die einer Katze und ihre Wangen hingen schlaf herunter. Außerdem sprach ihre nun steinharten Statur ebenfalls für sich.
Sie antwortete mir nicht und doch hatte ich das Gefühl, als wäre ihre Reaktion die ehrlichste Antwort, die sie mir seit unserer ersten Begegnung gegeben hatte.
Mein Hals brannte, weil eine Barriere tief in mir verhinderte, dass meine Verzweiflung an die Oberfläche gelangte.
Also schwieg auch ich... wohl wissend, dass vielleicht am Ende dieser Reise auch mein eigenes Ende auf mich wartete.
***
Als ich das nächste Mal aus meiner Trance gerissen wurde, war es der Wagen, der ruckelnd zum Stehen kann und mich leicht nach vorne katapultierte. Silvana blickte nicht auf, sondern schaltete den Motor aus und zog den Zündschlüssel mit einem Rascheln raus, an den mehrere Anhänger befestigt waren und dessen lautes Klappern an meinen Nerven zerrte.
Dann öffnete sie ihre Tür, was ich ihr ebenfalls gleich tat und ausstieg. Ganz zu Beginn der Fahrt hatte ich noch versucht den Weg im Gedächtnis beizubehalten, im nächsten Augenblick hatte ich dies hingegen wieder infrage gestellt, da ich nicht genau wusste was dies bezwecken sollte... Der rote Punkt, der sich auf der Stirn von Raúl hin und her bewegt hatte, kam mir erneut in den Sinn. Nichts würde ich damit erreichen können, wenn ich dadurch erst recht das Leben meiner Liebsten in Gefahr bringen würde. Und diese Menschen, die Mr. Howord das Leben genommen hatten, die würden erst recht keinen weiteren Atemzug verschwenden es auch bei Raúl gleich zu tun.
Nachdem ich die Autotür zugeschlagen und mich umgedreht hatte, legte ich meinen Kopf in den Nacken und blickte mich in der Umgebung um. Ich verzog die Augen zu Schlitzen und bemühte mich zurechtzufinden. Nichts als verlassene leer stehende Gebäude säumten von der einen Seite zur anderen Seite an. Wir mussten uns außerhalb oder am Rande von London aufhalten, schlussfolgerte ich, denn anders konnte ich mir diese Stille um mich herum nicht erklären.
«Komm, folge mir», waren die nächsten Sätze, die erstmals wieder von Silvana erfolgten und mich somit aus meinen Gedanken rissen.
Mit nur wenigen Schritten erreichte ich sie. Silvana stutzte kurz und ihrem Gesichtsausdruck nach zu urteilen, lag ihr etwas auf der Zunge, dass sie jeden Moment loswerden wollte. Dann wagte sie es endlich mir wieder in die Augen zu blicken.
«Wenn wir drin sind... dann...» Sie stoppte, blickte gen Himmel und kratzte sich unschlüssig, wie sie ihre nächsten Worte ausdrücken sollte, am Hinterkopf.
«Es gibt kein Entkommen, kein Platz, wo du dich verstecken kannst. Er wird dich finden... also tu, was er sagt und wehre dich nicht dagegen. Glaube mir, du willst seine Wut nicht auf dir spüren.»
«Hält er euch auch gefangen ?», fragte ich nach ihren merkwürdigen Worten unvermittelt und spürte wie die Hoffnung in mir auf kroch. Vielleicht hatte Silvana nur aus Angst so gehandelt, vielleicht waren sie und dieser Tian gezwungen worden ihm zu dienen. Wenn wir uns zusammentaten, dann könnten wir vielleicht...
Ein kalter und entschlossener Blick von Silvana ließ meine Gedanken hingegen abrupt erschlaffen. Nun klang ihre Stimme reserviert, beinahe arrogant, als sie ihr Kinn anhob und auf mich mit leicht geschlossenen Augenlidern nieder blickte.
«Wir sind keine Gefangene. Tian und ich kennen Iván unser Leben lang. Er ist unser Freund. Wir sind aus Loyalität hier.»
«Ihr tötet also aus Loyalität Menschen ? Ist das nicht irgendwie paradox, Loyalität und Mord in denselben Kessel einzuwerfen ?», gab ich nun ebenfalls spitz von mir und verschränkte die Arme vor der Brust.
Silvana schnappte hörbar nach Luft, öffnete sogar den Mund einen kleinen Spalt auf und wollte meiner Aussage entgegenwirken, doch da lenkte sie eine Bewegung etwas abseits von uns ab und sie hielt in ihren eigenen Gedankengänge inne. Ihrem Blick über meine Schulter hinweg folgend, sah ich, dass aus einem der Eingänge der leeren Lagerhallen eine große Silhouette hervorragte und uns bedeutete rüber zu kommen. Silvana fasste mich, die Lippen dabei aufeinander gepresst, im nächsten Moment einfach am Arm und schleifte mich mit sich. Ich schaffte es nur mit knapper Not mit den Schritten ihrer langen Beine mitzuhalten, da ihre Fingernägel in meiner Haut ein brennen verursachten und der Druck auf meinen Hinterkopf sich erneut, trotz des Verbandes, bemerkbar machte.
Ich war verärgert, doch sie ließ mich kein einziges Mal gewähren selbst zu laufen, sondern zerrte mich mit Absicht hinterher. Anscheinend waren meine Worte nicht ganz unbeschadet an ihr vorbeigerauscht.
Nachdem wir uns dem dunklen Genäude mit der bereits abgefärbten Farbe genähert hatten, da erkannte ich auch, wer sich direkt davor positioniert hatte. Die guten zwei Meter von Tian ragten vor uns auf und auch das spöttische Lächeln würde ich aus tausend Metern Entfernung wiedererkennen. Denn dafür hatten sich die schmerzhaften Erinnerungen, wie er mich mit diesem Lächeln bedacht hatte, als ich mich mit dem ganzen Blut auf meinen Kopf herumgequält hatte, zu sehr in mein Gedächtnis gebrandmarkt.
«Na, hat dir der kleine Spaziergang gefallen ?», fragte er an mich gewandt, doch ehe ich eingreifen konnte, schnitt ihm Silvana das Wort ab.
«Lass das Tian. Wo ist Iván ?» Urplötzlich wurde er beim Erwähnen seines Namen wieder ernst und das Lächeln verschwand aus seinem Gesicht.
«Er ist drin.»
Er trat zurück und gewährte uns somit ein wenig Platz, um das Lager zu begutachten. Von draußen aus war es hingegen schier unmöglich etwas anderes als sie Farbe Schwarz auszumachen. Tiefe, dunkle... alle Energie aufsaugende Schwärze.
Silvana neben mir räusperte sich kurz, ehe sie eintrat. Ich folgte ihr dicht, wobei ich einen ganz klaren Abstand zu Tian suchte, dessen Blick mich erdolchte.
Als wir drin ankamen, war das Erste was ich verspürte ein Würgereiz. Irgendein grässlicher Gestank, den ich nicht einordnen konnte, etwas zwischen verfault und verbrannt fand seinen Weg zu mir und mit knapper Selbstdisziplin als auch einer gewissen Sturheit hielt ich mich davon ab das Gesicht zu verziehen.
Während Tian mit einem Anmut vor uns lief und Silvana und ich ihm hinterher gingen, wobei ich dennoch versuchte einen ausreichenden Abstand zwischen uns herzustellen, blickte ich mich lauernd um, in der Hoffnung, womöglich doch noch einen rettenden Ausweg zu finden, oder zumindest annähernd eine Möglichkeit, um hier wegzukommen.
Ja und dann ?, feixte meine innere Stimme spöttisch. Was willst du dann tun ? Erst durch das nach Hause gehen würde ich doch alle ins offene Messer laufen lassen. Selbst Sanjana und ihre Familie waren nicht mehr sicher.
Ich spürte, wie mein Mechanismus vor Anstrengung ratterte und wie die Verzweiflung anschleichend und stetig in mir ausstieg.
Wie konnte es sein, dass meine Welt voller Farben plötzlich so abblätterte und ich selbst zwischen schwarz und weiß nicht Mal mehr unterscheiden konnte ? Ich fühlte mich blind und verloren in einer Welt von deren Schattenspiele ich verschlungen wurde, dass aus unsicheren Umrissen und Konturen bestand. Alles was für mich greifbar war, war plötzlich so weit außer Reichweite, dass ich mir wie ein neugeborenes zappelndes Kind vorkam, was sich in seinem Strampelanzug herumwälzte.
Silvana hielt mich augenblicklich noch stärker am Oberarm fest, als ich unbemerkt, dass unsere männliche Begleitperson vor uns zum Stehen gekommen war, weiter laufen wollte und dabei unmittelbar im ihm eingelaufen wäre. Doch bevor ihre Finger einen intensiven Kontakt mit meiner Haut herstellen konnten, wirbelte ich herum und entriss ihr meinen Arm.
Ich wollte ihre Hilfe nicht. Insbesondere ihre nicht. Ich war verwirrt, war frustriert, konnte oben und unten nicht unterscheiden, womöglich lag sogar die Welt auf dem Kopf und ich würde es nicht mitbekommen, aber eins spürte ich mit absoluter Intensität, und zwar das mein Stolz sich dieser Bürde nicht beugen würde zum Narren gehalten zu werden.
Denn Silvana und er... hatten genau das bezweckt. Sie waren beide vor meinen Augen gewesen, während der Vorlesungen, im selben Gebäude. Sie hatten sich in die Augen gesehen in dem Wissen, dass sie Verbrecher waren, die sich unerlaubten Zutritt in jede meiner mir gehörigen Sphären verschafft hatten. Sei es meine Sozialsphäre, indem sie meinen beruflichen Werdegang heimlich überwachten, in meine Privatsphäre, indem er auf die Beerdigung der Howards gekommen war, sich mit meinem Vater ausgetauscht und sich mit ihm unterhalten hatte, bis sie hin zur letzten Instanz, nämlich meine Intimsphäre. In die war er nämlich in dem Moment eingedrungen, als der Schuss während des Balls stattgefunden und der lauten Knall durch sie verursacht wurde, den ich nie wieder vergessen können würde.
Bilder dieser Ereignisse fielen mir wieder ein, wie er mich eingekesselt und mir befohlen hatte zu atmen. Wie er meine Angst gesehen hatte... meine Angst um Delilah. Er war Zeuge meiner größten Schwäche geworden und genau damit hatte ich mir unbemerkt selbst den nötigen Kopfschuss verpasst. Ich war schon die ganze Zeit über seine Mantra gewesen, die er hinter verschleierten Augen mit einer solchen Genugtuung und Verhöhnung betrachtet hatte, dass man meinen könnte, meine durchlebte Folter diene ihm als essenzielle Nahrung.
Ich schüttelte den Kopf, doch zu mehr kam ich nicht, denn Tian blickte über seine strafen und ausgeprägten Schulterblätter hinweg zu uns rüber oder nach seinen Blicken zu urteilen zu mir, alsdann er von sich gab:
«Wenn dir dein Leben auch nur halb so wichtig ist, dann sprich nicht, wenn es er nicht von dir persönlich verlangt.»
Ich gab keine Regung von mir, als von beiden Seiten die Blicke auf mich einströmten. Wie lauter kleiner Ladungen erzeugten diese Blicke Stromschläge auf meiner Haut. Als wäre ich eine Quelle, die sie magisch anzog und sich bewusst selbst Schaden zufügen wollte.
Doch ich weigerte mich gegenüber diesen fremden Menschen, zu reagieren, die alles andere als nur das Beste für mich wollten und nur darauf warteten, dass ich unterging.
Während ich diesen Entschluss im Nachhinein fasste, hatte ich meine Augen absichtlich wenige Zentimeter von Tian weg gerichtet und war dadurch auf die durchsichtige dreckige Fassade des Eingangs aufmerksam geworden, die keine Tür enthielt, sondern von verschiedenen Streifen bedeckt wurde, sodass man die Fassade dahinter kaum ausmachen konnte.
Ich konnte die auf eine Antwort wartenden ungeduldigen Blicke spüren und als Tian realisierte, dass ich ihm nicht einmal des Blickes würdigte, da schnaubte er auf und wollte auf mich zukommen, bis sich Silvana von der Seite zu ihm stellte.
«Tian...», sagte sie in einem Ton, der ihn besänftigen sollte. Ein stummer Blickkontakt erfolgte durch den sie sich ohne Worte und ohne dass ich etwas mitbekam verständigten. Denn Tian ließ seine Haltung, jeden Moment eingreifen zu wollen, fallen und mit einem letzten feindseligen Blick zu mir, schob er die Barriere mit einem lautem Rattern und viel Kraft darauf verlagernd zur Seite, ehe wir nun den Raum betraten.
Mit dem Vollbringen der ersten Schritte und meinem wachsamen hin- und her wandernden Blick, der sich jedes Detail merken wollte, korrigierte ich mich hingegen schnell in meiner Wortwahl.
Das hier war kein Raum. Es war ein Lager. Während die Fassade des verlassenen Gebäudes den Eindruck erweckte, als würden hier gelegentlich Obdachlose hausen, verblasste diese Vorstellung mit einem Blick auf das innere dieses Grundstücks.
Ich musste mich streng am Riemen reißen, um vor Erstaunen nicht die Augen ganz weit aufzureißen, derweilen ich die frisch gestrichenen Wände begutachtete an denen große Pläne angebracht waren. Mit einem Blick auf jede der vier Wandseiten erkannte ich, dass pro Wandseite ein bis zwei Landkarten angebracht waren auf denen sich Notizen überhäuften, die aus dieser Entfernung und aufgrund der krakeligen Schrift nicht auszumachen waren.
Ich versuchte den Kopf nicht allzu sehr zu bewegen, da ich nicht noch tiefer in eine aussichtslose Lage hineingeraten wollte. Je weniger ich sah, desto besser. Mehr Indizien, die auf mich einströmten bedeuteten zwangsweise mehr Kenntnisnahme meinerseits und das entfernte mich immer weiter von meiner Freiheit.
Doch so sehr ich mir dies auch bewusst einredete, erwischte ich mich doch dabei wie meine Blicke hin und her huschten.
Wien, Paris, Italien... Mein Blick haftete einen Augenblick länger, als beabsichtigt auf den verschiedenen Punkten die miteinander auf der Karte verbunden waren und auf der einen Pinnwand sah ich plötzlich ein Bild, welches mir recht bekannt vorkam. Casino dell'Aurora Pallavicini Rospigliosi...
Das berühmte Casino von Rom war darauf abgebildet. Dies wusste ich auch nur, weil ich es in einem Prospekt gelesen hatten, als wir vor einigen Jahren einen Familienurlaub nach Italien gemacht hatten, der leider ohne Raúl stattfinden musste, weil er erst neu in Havard begonnen hatte. Was hatte das jetzt unter diesen Pinnwandeinträgen zu suchen ? Wie von selbst huschte mein Blick auf der Suche nach Antworten zurück zu den Pinnwandeinträgen über Wien und auch da erkannte ich, was der Hauptaspekt dieser Stadt war. Die Wiener Staatsoper. Diese war in einem grellen Ton mehrmals umrandet und durch einige unleserliche Notizen umzingelt worden.
Grübelnd und äußerst irritiert darüber, was all das zu bedeuten hatte, legte sich eine Furche auf meine Stirn, die sich hingegen noch tiefer zog, als ich ein noch weitere Details an all den Stationen wahrnahm. Unmittelbar unter all diesen präzisen Ausarbeitungen ragte etwas hervor, was an die Wand gelehnt war. Erkennen konnte ich zwar nicht, um was es sich dabei handelte, da diese jeweils von einem weißen Laken bedeckt wurden, die den Anschein erweckten als wären sie erst vor kurzem hierher deponiert worden, doch die Umrisse, die trotz dessen nicht verschleiert werden konnten, zeigten unverfehlbar, dass es sich um unterschiedlich große Quadrat förmige oder rechteckige Tableaus handelte. Zumindest erfasste ich dies so, ob es sich wirklich um welche handelte, war rein spekulativ.
Zu einer detaillierteren und weiterführenden Analyse hingegen kam ich nicht, denn als ich meine Augen endlich von den breiten langen Wänden, zu beiden Seiten von mir nehmen konnte, da erfror ich urplötzlich wie ein Eiszapfen an Ort und Stelle, indem meine Augen nach vorne schossen.
Das Erste was ich sah waren die pechschwarzen Augen. Das zweite, der Hass und die Mordslust, die dahinter auflauerte und jederzeit bereit war aus seinem Versteck zu schleichen. Ich fühlte mich stumm und taub zugleich, meine Lippen waren versiegelt, als würde durch den bloße Anblick von ihm meine komplette Stimme versagen. Das andere worauf ich unmittelbar danach aufmerksam wurde, war der Gegenstand in seiner Hand, den er wie ein Heiligtum in seiner rauen großen Hand hielt, die wieder einmal um Verbände gewickelt waren. Ich schluckte. Der eiskalte Schweiß klebte an meinem Körper und wartete auf dem entscheidenden Schuss um herunterzufahren.
Beruhige dich...beruhige dich, hallte es in meinen Kopf wieder, als ich das flacher werden meines Atems spürte. In dieser ganzen Miesere wollte ich mir nicht zusätzlich einen Asthmaanfall antun. Beruhige dich... beruhige dich.
«Hat euch jemand gesehen ?»
Er hatte den Blick von mir weggesteift, als wäre ich unsichtbar und hatte sich mit strengem Tonfall an Silvana gewandt, während er vorsichtig über die Waffe fuhr, als würde er seinen besten Freund streicheln. Ich konnte mich lediglich auf diese Bewegung konzentrieren, auch wenn ich wusste, dass mein Starren mehr als auffällig war. Doch er beachtete mich nicht.
Silvana neben mir regte sich. Er hatte sie angesprochen und sie machte einige Schritte vor, kam ihm aber nicht allzu nahe, als er auf einen Stuhl Platz genommen hatte und die Pistole nun mit einem Tuch polierte.
«Nein. Niemand hat Wind davon bekommen, niemand hat sie gesehen. Die Überwachungskameras habe ich bereits davor weitestgehend manipuliert. Das Zeitfenster war perfekt einkalkuliert. Wir waren schon draußen, als die Aufnahmen wieder durch das Original ersetzt wurden.»
Nun schaffte ich es doch meinen Blick von der Waffe wegzureißen, als mich Silvanas Worte an sich zogen. Ich konnte nicht verhindern, dass mich ihre Worte trafen, denn das schränkte die Wahrscheinlichkeit noch mehr ein, dass meine Familie überhaupt Wind von all dem bekommen hatte. Denn obwohl ich es nicht zugeben wollte, hatte immer noch ein Teil meiner Hoffnung gegen diese verzwickte Lage angekämpft. Nun war es aber amtlich: Es gab kein Entkommen. Nicht jetzt und ich wusste auch nicht für wie lange, da ich immer noch nicht darüber aufgeklärt worden war, was hier geschah und warum es geschah.
Meine Zuversicht sank ab und meine Furcht stieg derweilen immer weiter an. Die Aussichtslosigkeit zerstückelte mich in Fetzen und in dem Moment kam ich mir unendlich schwach und erbärmlich vor.
«Hast du Massimiliano angerufen ? Gibt es da was zu berichten ?»
Silvana, wirkte verkrampft, gar streng in ihrer Haltung, als wäre sie ein junges Schulmädchen, dass vor der Klasse ein Gedicht auswendig vortragen musste.
«Das habe ich übernommen», mischte sich nun Tian von der Seite ein und lief im leeren Lager auf und ab.
«Es läuft alles nach Plan. Keine Auffälligkeiten.»
Als keine weiteren Fragen oder Anweisungen folgten und die Stille langsam unerträglich wurde, drehte ich mich wieder zu ihm, nur um zu sehen, dass er mich taxierte. Ich spannte mich augenblicklich an. Moment Mal... hatte er trotz seiner Fragen durchgängig in meine Richtung geblickt um jede kleinste Reaktion an mir zu beobachten ?
Meine Gesichtszüge zuckten und drohten jeden Moment zu fallen, als die Fassungslosigkeit mich ergriff. Wie Adleraugen stachen seine in meine ein, wachsam, präzise auf jede meiner Mimiken abgestimmt.
Dann stand er plötzlich auf, seine Waffe hielt er immer noch in seiner Hand heruntergebaumelt, als handele es sich schlicht weg nur um ein Spielzeug. Und dann kam er auf mich zu.
Silvanas Blick ging über zu Tian und ich wusste nicht, was sie in seinen Augen sah, doch sie trat zurück, sodass er ungehindert auf mich zukommen konnte.
Aus einem inneren Puls heraus reckte ich mein Kinn in die Höhe. Sollte ich doch wie ein verpöntes verwöhntes Mädchen wirken. Ich wurde schon seit längerem von den beiden an der Nase herumgeführt, indem sie mich all die Zeit ausspioniert hatten, indem sie meine Entscheidungsfreiheit erheblich eingeschränkt hatten. Was blieb mir also noch übrig ? Mehr konnte und wollte ich Ihnen nicht geben. Ich ließ meinen Willen nicht brechen, das würde ich nicht zulassen.
Seine Jacke streifte im nächsten Moment meinen Unterarm und ehe ich den Kopf halb nach hinten drehen konnte, stand er plötzlich hinter mir. Sein großer Körper warf einen Schatten über den meinen, sodass ich mich klein und hilflos fühlte. Nicht jetzt ! Nicht jetzt, sprach ich mir zu, als mein Atem wieder abgehakt erfolgte.
Augenblicklich spürte ich leichte Luftzüge an meinem Nacken, dann streifte ein Atemzug dicht mein Ohr entlang.
Er berührte mich nicht. Ich hatte sogar das Gefühl, dass er es absichtlich nicht tat, doch war er mir so nahe, dass nicht einmal ein loses Blatt Papier zwischen uns passen würde.
«Und... wie hat es dir gefallen? Zu sehen, dass du nicht ganz die Schlaue bist für die du dich gehalten hast. Hattest du Angst ?»
Ich schluckte kaum hörbar und blickte geradeaus, derweilen sein zynisches Flüstern in meine Ohren drang. Ich bezweifelte, dass die anderen Miitanwesenden verstanden, was er gesagt hatte und doch waren alle Augenpaare auf uns oder wohl eher gesagt auf mich gerichtet.
Ich schüttelte kaum merklich den Kopf. Ich würde es ihm nicht beichten ... insbesondere schon durch seinen Tonfall nicht, der pure Erheiterung illustrierte. Was stimmte nicht mit ihm ?
Er hatte meine Kopfbewegung bemerkt und doch zischte er wütend an meinem Ohr auf:
«Antworte.» Das Knirschen seiner Zähne zwängte sich zu mir durch und auch wenn sich alles in mir dagegen sträubte, so antworte ich letztlich trotzdem einer starken Stimme bemüht:
«Nein.»
Die Reaktion, die daraufhin erfolgte, versetzte mir hingehen einen Knick. Er lachte. Er lachte provokant auf und als ich dachte der bittere Nachgemack, den sein Lachen abließ, würde nicht abebben, da hielt er abrupt inne und bückte sich erneut runter.
«Ich dachte wir hätten uns darauf geeignet, dass du ab sofort aufrichtig zu mir sein wirst. Brichst du die Regeln, breche ich meine», ehe ich erahnen konnte, was geschah, spürte ich auch schon, dass er etwas an meinem Rücken ansetzte und ohne, dass mir mein Körper gehorchte bäumte sich mein Rücken auf und ein kleiner Schrei verließ meinem Mund, als ich verstand, dass es sich um die Waffe in seiner Hand handelte.
«Verrate mir eins. Als du da vor deinem Bruder standest und erfahren hast, dass du absichtlich frei gelassen wurdest ...und dich nicht rühren darfst, was ging dir da durch den Kopf. Hast du dich machtlos gefühlt, zerdrückt, verloren ?» Plötzlich wanderte er mit der Waffe meinen Rücken entlang nach oben, wie als würde er mich sanft streicheln wollen.
«Was ging in deinem Köpfchen vor? Ich möchte es wissen... verrate es mir. Sofort.»
Seine Stimme klang für einen kurzen Moment nicht mehr ganz so zynisch, denn neben der Brutalität seiner Worte hatte sich auch Neugierde dazugemischt und ich spürte wie er sich lechzte, um eine Antwort auf mir herauszupicken. Wie auch schon am Telefon bemerkt, wollte er sich damit auch nur seinen Spaß erlauben, sich ergötzen. Also drehte ich meinen Kopf plötzlich zu ihm um, unsere Nasenspitzen wären fast einander gestoßen.
Als ich so dicht wie möglich an ihm war und ihn aus der Nähe ansehen konnte, da hätte ich fast meine zurechtgelegten Worte vergessen, doch auch er schien Sekunden lang verstummt. Denn während ich über seine Augen, seine Wange, seine Kieferpartien fuhr, da bemerkte ich, dass er es mir gleich tat. Seine Augen verfingen sich mit meinen und in dem Moment wollte ich nichts weiter, als ihm durch meine Worte auch das Gefühl zu verschaffen, als würde ich ihm mit einer Waffe ebenfalls ein Ultimatum stellen.
«Ich habe mich gefragt...», flüsterte ich und die Luft, die ich ausstieß, saugte er durch seine Mundöffnung ein.
«Wie ein Mensch so sehr hassen kann... wie ein Mensch so vernarrt sein kann seine Opfer in einem Spinnennetz gefangen zu halten, dass er irgendwann durch seine Wut, durch seinen Hass selbst ein Gefangener wird.»
Dieses Mal klang ich ganz klar und deutlich und obwohl ich flüsterte, hatte ich das Gefühl, dass die anderen beiden mich ebenfalls gehört hatten, denn nun wurde es komplett still. Ganz still. Nicht einmal eine Regung, ein kleines Räuspern war auszumachen. Selbst das Atmen war eingestellt worden.
Augenblicklich nahm er die Waffe von meinem Rücken weg und ich spürte, wie er selbst einige Schritte zurücktrat.
Ich atmete erleichtert auf, doch wagte ich es trotzdem nicht mich umzudrehen. Das brauchte ich auch nicht, denn seine Stimme nahm mir die Entscheidung ab.
«Tian... bring es her.»
Ich hörte Fußschritte, ehe er nicht mehr hinter mir stand, sondern vor mir und die Hände hinter seinem Rücken versteckte. Die Waffe war fest in seinen Klauen.
«In wenigen Tagen wird eine Feier bei euch stattfinden. Die Gästeliste ist einige Seiten lang, das heißt also viele Gäste werden erscheinen. Du wirst an dem Abend zu meinen Diensten stehen und...»
Als wir durch Tians Schritte unterbrochen wurden, ging er auf ihn zu und da sah ich, dass Kian ein weiteres Quadrat förmiges Teil in der Hand hielt, der wie die anderen hier verteilten mit einem Laken bedeckt war. Als er vor Tian ankam, blieb dieser stehen und zog den Laken mit einem Ruck runter, sodassl wie ich vermutet hatte, ein Gemälde zutage kam. Doch als ich genauer hinblickte, erkannte ich sogar das Motiv dieses Kunstwerks. Es war das schwarz weiß Gemälde mit der Figur, die die Hand in ihre Brust führte und einen Phönix heraufbeschwor. Es war das Gemälde aus unserem Ballsaal. Das Moreno Bild wovon sie sprachen.
Wie konnte es sein, dass sie es hatten ?
«Das ist ein Duplikat... eine Fälschung. Du wirst an dem Abend der Veranstaltung, das Gefälschte gegen das Original austauschen und es zu mir bringen.»
Plötzlich erstreckte sich ein diabolisches Lächeln auf seinem Gesicht, als würde ihn ein Gedanke komplett erheitert.
«Du wirst deine eigene Familie berauben.»
Und als er genau diesen Fakt aussprach, da spürte auch ich, wie sich die Barriere um mich herum auflöste und ich wieder meine Stimme wiedererlangte.
«Warum... Warum willst du dieses Gemälde ?»
Er verdrehte die Augen und sagte ohne den Blick in meine Richtung zu wenden:
«Ich bin dir keine Rechenschaft schuldig. Du hast das zu machen, was ich von dir verlange.»
Ungläubig blickte ich zu Silvana und Tian in der Hoffnung, dass sie wenigstens imstande waren zu erkennen, wie unfair das war. Warum wollte er dieses Gemälde? Warum sollte ich ihm dies verschaffen? Warum sollte ich meiner eigenen Familie so etwas antun, wenn ich nicht wusste, um was es ging. Das Gemälde bedeutet Papá sehr viel. Es ging mir hier nicht um den materiellen Wert, aber das Gemälde war unser Besitz. Unser und nicht seiner.
Ich hatte diese Spielchen satt. Musste Mr. Howord wegen dieses Gemäldes sterben ? Eine Menschenseele von uns gehen, wegen einer Leinwand mit etwas Farbe? Meine Blut wallte auf, als ich Eindrücke und Schlüsse erfasste, die mich verrückt machten.
«Ich bestehle meine Familie nicht. Dieses Gemälde gehört meinem Vater. Ich bin keine Diebin.»
Augenblicklich fiel mir der Anblick unseres Familienfotos ein. Auf diesem war das Wort Dieb eingeritzt worden. War das auch sein Werk gewesen ?
Jetzt war keine Zeit darüber herumzuspekulieren. Ich war so sehr in Rage, dass ich einfach weiter sprach.
«Wir sind keine Diebe. Ich will wissen, was so wichtig an diesem Gemälde ist, dass so etwas passiert. Was so ein sinnloses Gemälde auslösen konnte, dass Menschen grundlos sterben. Es gehört meinem Vater... er hat... Nein, so etwas tue es nicht. Wir, meine Familie hat niemanden etwas getan, wir sind gerechte Menschen und...»
Bevor ich blinzeln konnte, war er bei mir und bevor ich überhaupt reagieren konnte hatte er mich so fest am Hals gepackt und mich zu Boden gezerrt, dass ich laut aufschrie, als ich mit dem Körper zu Boden krachte. Meine verbundene Wunde am Kopf blutete von erneuten, das spürte ich, als eine Flüssigkeit meine Kopfhaut hinunterprasselte.
«Wag.es.nicht.je.wieder.ein.Wort.darüber. zu.verlieren.dass.IHR.gerecht.seid. Nie. wieder !", schrie er mich an und auf einmal war er über mich gebeugt und richtete die Waffe auf mich. Meine Augen vergrößerten sich.
Silvana Stimme hallte panisch im Hintergrund wieder.
«Iván...Iván lass das.»
Doch er blickte nur mich an, blendete alles aus, so wie ich auch alles um mich herum ausblendete.
«Ich sage dir ein Scheißdreck ! Du bist dumm, naiv, machtlos. Je mehr du strampelst desto mehr versinkt du. Komm, sag es nochmal, sag wie toll und gerecht deine Familie ist. Mach. Gib mir ein Grund damit ich dich erschieße !» Er betätigte den Lauf der Waffe, jederzeit bereit die Kugel auf mich abzufeuern.
Oh Gott... das war's.Elias, Papá, Sanjana, Raúl. Oh mein Gott... Delilah.
«Ey Mann lass es sein.» Auch Tian klang nicht mehr locker, wie man es von ihm kannte. Seine Stimme war belegt, was mir nur weiter Angst einjagte.
Mein Gegenüber schrie wütend auf.
«Warum denn ? Die kleine Dame hier meint doch trotzig werden zu müssen, da bei Daddy andere Spielregeln gelten.»
Er bückte sich nun vor, sein Gesicht dicht über mir, seine Waffe nun direkt auf meine linke Brust über mein Herz gerichtet. Er hatte meine Beine zwischen seinen Schenkeln eingenommen. Ich konnte mich nicht rühren.
«Ich habe aber andere Spielregeln aufzuweisen schlafende Schöne. Mach die Augen auf... wenn du überleben willst, ist das deine einzige Chance. Ich will das Gemälde haben... und wenn ich je wieder höre, dass du sagst, es sei eures dann knall ich dich ab. Spiel oder stirb.»
Dann ließ der Druck seines Körpers ab, doch ich blieb liegen. Ich bekam nur noch mit, wie er mit Silvana sprach, doch ich starrte lediglich zur Decke.
Ich musste das Gemälde stehlen...
«Du kannst aufstehen.»
Diebin. Ich würde eine Diebin werden. Ich würde gegen das Gesetz verstoßen.
«Hey...»
Spiel oder stirb. Steh auf oder geh zugrunde. Brich das Gesetz oder brich die Regeln. Das eine führt zum Tod und das andere... zu meiner Freiheit ? Nein. Ich spürte innerlich, dass ich nicht überzeugt davon war. Irgendetwas sagte mir, dass das nicht alles sein konnte. Würde er mich wirklich am Leben lassen ?
Silvanaa Gesicht ragte über meines auf.
«Hörst du mich ? Ist alles in Ordnung ?»
Ich stand augenblicklich von ihrer Stimme geleitet auf. Von Tian und ihm war nichts mehr zu sehen. Sie hatten das Lager verlassen.
«Ich fahre dich nach Hause. Komm ich helfe dir.»Plötzlich rückte sie sich an mich und wollte mich am Unterarm fassen. Doch ich rutschte direkt zur Seite.
«Nicht ! Lass mich in Ruhe !» Meine Stimme versagte. Das alles war gerade zu viel für mich. Der körperliche Schmerz, der psychische Schmerz, all die Belastungen und der Druck der auf mir herabgelassen wurde, die Stärke, die ich aufbringen wollte. Doch gerade schaffte ich das nicht mehr. Ich drehte den Kopf um, wollte nicht dass Silvana sah, wie sehr ich mit mir haderte und wie sehr meine Unterlippe zitterte.
Sie verstand anscheinend, denn sie versuchte sich mir nicht mehr zu nähern und trotz dass meine Sicht durch das Pochen meines Hinterkopfes verschwamm und ich schwankte, als ich aufstand, gab ich ihr mit der ausgestreckten Hand zu verstehen, dass sie den Abstand zu mir einzuhalten hatte. Stumm verließen wir das Gebäude. Am Auto angekommen, setzte ich mich wieder auf den Beifahrersitz, derweilen Silvana auf er anderen Seite Platz nahm.
Ich war keinen Schritt weitergekommen und fühlte mich noch miserabler als bei meiner Ankunft hierhin, was ich nicht für möglich gehalten hätte. Schlimmer konnte es also immer kommen...Verdammt, was mache ich denn jetzt ?
«In deinem Seitenfach müsste sich ein Tuch befinden, drück dir das an die Wunde, damit das die Blutungen stoppt und du nicht viel Blut verlierst.»
Seitdem wir in das Auto gestiegen waren, hatten wir kein miteinander Wort verloren. Dass ich mich zur Seite gedreht und betrübt aus dem Fenster geblickt hatte, hatte zwar mehr als deutlich dargelegt, dass ich nicht interessiert an einem Gespräch war, dass sie aber nun damit begann, verwunderte mich.
«Warum ? Was interessiert es dich, ob ich Blut verliere oder nicht ? Ihr seid doch sowieso Mörder, habt all das Blut auf euren Händen kleben. Auf das ein oder andere Opfer kommt es auch nicht mehr an.»
Abrupt wurde ich mit dem Oberkörper nach vorne geschleudert und der Gurt bohrte sich in meine Haut ein. Silvana hatte bei meine Worten stark auf die Bremse gedrückt. Nun blickte sie zu mir rüber, ihre Augen glänzten vor Aufgregung.
«Hör auf mich so nennen ! Ich bin kein Mörder !»
Ich drehte mich zu ihr um. Silvana war die schlimmste von allen. Sie war es doch erst die mich in diese Falle gelockt hatte.
«Ach nein ? Suchst du eine Beschönigung für das was ihr da macht ?»
Silvana öffnete den Mund, ihre Brustkorb hob und senkte sich schnell. Ich sah sie zum ersten Mal so aufgebracht, doch sie brachte keinen Ton mehr raus, sondern zog an der Bremse, legte den ersten Gang wieder an und brauste davon. Ihre Aufgewühltheit sah man ihr in der nächsten halben Stunde an ihren Fahrkünsten an und ich konnte nicht anders als dass mir die Tränen wieder hochstiegen.
Das war gemein von mir, doch ich konnte es einfach nicht verstehen wie sie so tat als würde sie sich um mich sorgen, wenn sie auf seiner Seite war. Wie sie all die Fakten ausblenden konnte und so sich benahm, als ob nichts wäre. Sowas konnte ich nicht.
Ich war immer schon schlecht darin zu Schauspielern und genau deshalb hatte Papa auch nichts dagegen, wenn ich nicht mit vielen seiner Geschäftsleute in engem Kontakt stand. Ich war kein geselliger Mensch. Elias war sehr gut darin und selbst Raúl wickelte jedem mit seinem Charm um den Finger. Ich hingehen war bereits froh darüber, wenn ich fünf Minuten lang Small- Talk führen konnte ohne dabei über die Grenzlinie zu schießen. Wir hatten gelernt wie man sich in der Öffentlichkeit benahm und natürlich setzten wir dies gelegentlich ein, doch meine Ehrlichkeit obsiegte währenddessen immer und immer wieder. Einer der Charaktereigenschaften, die ich von Mamá hatte.
Die restliche Fahrt über sprach Silvana kein Wort mehr mit mir und auch als wir wieder vor unserem Tor ankamen und sie den Motor ausschaltete, blieb es still. Ich blickte aus dem Fenster, sah das große Gebäude, all die Gardienen, die verschiedenen Fenster und ehe ich Einfluss darauf nehmen konnte, stellte ich erneut die Frage, die ich zuvor während der ersten Fahrt schon mal gestellt hatte:
«Wird er mich töten ? Wird er meiner Familie etwas antun ?»
Nun drehte ich den Kopf zu ihr um, auch wenn es hieß, dass sie die Angst in meinen Augen sah. Das tat sie, denn sie erwiderte fest meinen Blick, der wie ich feststellte bei meinem Anblick sanfter wurde.
«Wenn du tust was er will, wird er dich am Leben lassen.»
Mir blieb die Luft im Halse stecken, als ich realisierte, dass sie nur auf den ersten Teil meiner Frage eingegangen war.
«Und meine Familie?», brachte ich keuchend hervor, als ich spürte wie die Panik meine Kehle zuschnürrte.
Sie brach den Blickkontakt ab, blickte geradeaus.
«Ich weiß es nicht.» Ich hätte am liebsten laut aufgeschrien, was sie sich dabei dachte mich so schamlos anzulügen, aber sobald sie diese Worte ausgesprochen hatte, da wusste ich aus einem inneren Instinkt heraus, dass sie es wirklich nicht wusste. Sie sprach die Wahrheit aus.
Sie wusste nicht, was er für meine Familie geplant hatte.
Ich wollte mein Gesicht in meine Hände vergraben und anfangen zu weinen, doch währenddessen lehnte ich mich langsam in meinem Sitz nach hinten und sagte ungläubig nach einigen Sekunden in denen ich das verdauen musste:
«Und das alles wegen eines Gemäldes ?»
Sie seufzte auf.
«Das ist es eben... Es ist nicht nur ein Gemälde.»
Ich wurde hellhörig. Ich erkannte, dass sie noch etwas hinzufügen wollte, aber diesen Gedanken letztlich verwarf. Daran musste ich anknüpfen.
Daraus Kraft schöpfend, positionierte ich mich wieder gerade hin und setzte einen freundlichen Blick auf. Ich musste zumindest erfahren, was da vor sich ging. Im dunkeln zu tappen, würde mich in diesem Labyrinth keineswegs weiterbringen.
«Silvana... du musst mir erzählen, um was es dabei geht. Ich weiß nicht einmal warum ich das tun soll. Würdest du deine eigene Familie bestehlen ohne zu wissen, um was es dabei geht ? Was der Sinn und Zweck der ganzen Sache ist ?»
Sie seufzte wieder und massierte sich die Schläfe, doch ich wusste, dass ich sie geknackt hatte.
«Es ist wichtig, ok ? Wir brauchen dieses Gemälde, da es die Unschuld eines gefangen genommenen Menschen beweisen kann der für uns... für Iván von Bedeutung ist. In dem Gemälde sind Informationen, die uns weiterbringen können.»
Ich runzelte die Stirn. Wie angefachtet durch ihre Worte und auch lebendiger gestimmt, dass sich nun ein kleiner Lichtblick ergab, sagte ich aufgeregt:
«Und dafür braucht ihr das ganze Gemälde ? Warum nimmt ihr nicht einfach die Informationen heraus und lässt das Gemälde, wo es ist ? Und außerdem... mein Vater ist Richter, vielleicht kann er euch helfen, wenn wir ihn um Hilfe bieten. Er würde sich den Fall anschauen, wir würden gemeinsam einen Ausweg für euren Freund im Gefängnis finden, um seine Unschuld zu beweisen. Dann müssten wir auch nicht den Besitz meiner Familie, meines Vaters stehlen.»
Silvana blickte mich an, vollkommen ernst, direkt.
Ich hingehen war so aufgeregt eine Lösung gefunden zu haben, dass mich ihre Ruhe wahnsinnig machte. Warum gestaltete sie das so kompliziert, wenn es auch so einfach ging.
«Und wie stellst du dir das vor, wenn er doch erst durch das Urteil deines Vater ins Gefängnis kam ? Und dieser Gefangen genommen zufällig den Nachnamen Moreno trägt ? Und außerdem... es mag vielleicht der Besitz deines Vaters sein, doch Iván ist der Eigentümer dieses Gemäldes. Ich glaube einer Juristin muss ich den Unterschied zwischen Besitz und Eigentum nicht erklären, oder ? Verstehst du nun, was ich damit sagen möchte ?»
Ich erstarrte zu Eis. Langsam.
Es wurde kälter, die Sicht trüber, mein Körper härter, bis ich mich wie festgenagelt an Ort und Stelle befand.
Ja... dachte ich mir. Ich verstand.
Mein Vater war dafür verantwortlich, dass dieser jemand im Gefängnis saß, doch er besaß gleichermaßen ein Gemälde von ihm und...
Und da gab es noch was, etwas was ich mir nicht eingestehen wollte, das mir aber Silvanas Worte unverkennbar Preis gaben.
Es war sein Eigentum... seins.
Iván war ein Moreno.
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