Jeder hat sein Päckchen zu tragen (Kurzgeschichtenwettbewerb von sweet_predator)

So schön warm, genüsslich wälze ich mich noch einmal herum. Das gleichmäßige „Klong" aus dem Hintergrund, was meine Kinder immer wieder aus dem Schlaf reißt, stört mich inzwischen überhaupt nicht mehr. Es ist Teil unseres Lebens geworden.

Genießerisch strecke ich alle Beine auf einmal in die Höhe, bis es knackt und kracht.

Das tut gut. Dann wollen wir mal.

Mit einem gehörigen Ruck rolle ich mich einmal herum und richte mich auf. Ohne die Wärme meiner lieben Frau, die immer noch selig vor sich hinschlummert, ist es doch recht frisch hier unten. Zugegeben, es ist dunkel, die Decke ist undicht und der Wind pfeift uns immer öfter um die Ohren. Aber wir hätten es eindeutig schlechter treffen können. Die Nahrung ist gut und der giftige Nebel würde uns hier unten nicht erreichen.

Langsam taste ich mich vorsichtig zu meinen Kleinen vor. Ich kann ihre Leiber, die sich regelmäßig heben und senken, nur erahnen. Zärtlich streiche ich einmal über den Kopf meines Jüngsten, was habe ich nur für ein Glück. Nie würde ich es riskieren meine Familie so einer Gefahr auszusetzen. Unser Umzug war wirklich bitter nötig.

Nun aber los! Das Essen kommt schließlich nicht von selbst auf den Tisch!

Nach einem kurzen erfrischenden Bad an unserem kleinen Waschplatz, bestehend aus einem runden Wasserloch, mache ich mich auf den Weg und lasse meine friedlich schnarchende Familie hinter mir. Der Tunnel erstreckt sich vor mir und ich folge dem kleinen Lichtschimmer. Mehrfach komme ich an Abzweigungen vorbei, aber ich folge meinen Instinkt und renne immer weiter auf den kleinen Lichtkegel zu.

Als wir vor über einem Mond hierher gezogen sind, habe ich mir Sorgen gemacht, das wir uns oft verlaufen würden, aber inzwischen tragen mich meine Beine spielerisch bis zum Ausgang. Vorsichtig spähe ich ins Freie. Ab jetzt muss ich mich in Acht nehmen. Langsam bewege ich ein Bein nach dem anderen nach draußen, gleichzeitig blicke ich instinktiv immer wieder hektisch umher. Ein kühler Windhauch umhüllt meine vorderen Gliedmaßen und ich erschauere.

In den letzten Wochen ist es wirklich kalt geworden, die graue Jahreszeit ist angebrochen, wie wir sie nennen. Auf der Betonerde trifft man immer öfter auf kleine Seen und der Boden ist oft mit bunten Blättern bedeckt.

Mein kleines Reich breitet sich vor mir aus, ein paar Meter gegenüber reckt sich eine senkrechte Wand in die Höhe und auf dem Boden vor mir liegt, wie jeden morgen, allerlei komisches Zeug herum. Verpackungen aus unessbarem Material, eine Tüte die durch einen weiteren Luftzug fortgerissen wird und schließlich noch ein kleines glänzendes rundes Ding. Nach näherem Betrachten entpuppt es sich als ein glitzernder Stein der in ein rundes Metallstück eingelassen ist. Vielleicht sollte ich den mitnehmen? Ich verwerfe den Gedanken, das Ding ist nicht wirklich rund, rollen wird also schwierig und ich bin ja eigentlich auch auf Essenssuche.

Die Luft scheint rein zu sein, langsam trete ich aus meiner Deckung. Schon meine Mutter predigte mir jeden Tag: „Das du immer gut auf dich Acht gibst! Sicher dich lieber drei mal ab, bevor du dich nach draußen begibst! Ansonsten könnte es das letzte mal sein!"

Warme Erinnerungen an meine Kinderstube durchziehen mich und schnell ist der kalte Wind und das raue Klima vergessen. Meine Mutter war eine tolle Frau, immer hat sie auf uns aufgepasst. Auch wenn sie es nie zugegeben hätte, ich war ihr Liebling! Sie hat mich immer vor meinen älteren, etwas rüpelhaften Brüdern beschützt. Wieder einmal wünsche ich mir, dass ich mehr Zeit mit ihr gehabt hätte. Der giftige Nebel kam für sie viel zu früh. Das letzte mal habe ich sie gesehen, als sie mich aus den Gang gejagt hat, so hat sie mich beschützt und mich gerettet. Alle aus unserer Familie waren schon in Sicherheit, im Grasmeer draußen gut versteckt. Ich habe noch geschlafen und wäre so ehlendlich im Nebel gestorben, doch sie hat mich auf die Beine gezogen, angefeuert und mich so rausgetrieben, nur um dann zu stolpern und es selber nicht mehr zu schaffen. Danach habe ich sie nie wieder gesehen. Schmerz sickert durch meinen Körper und ich atme einmal tief durch, nie wird sie ihre Enkel kennenlernen. Aber das ist bei uns keine Seltenheit, als Diebe, wie uns viele sehen, hat man meist eher eine kurze Lebensspanne.

Kopfschüttelnd ermahne ich mich zur Vorsicht, ich muss jetzt gut aufpassen. Kriechend arbeite ich mich weiter vor, nun kann ich alles gut überblicken. Weiter hinten höre ich die riesigen Monster vorbeiröhren, lautes Geschrei der Menschen und etwas was klingt, wie eine aneinander Reihung von komischen Klängen. Diese sonderlichen Giganten werde ich wohl nie verstehen. Skeptisch gleitet mein Blick zu einem großen hölzernen Viereck das die Wand gegenüber ziert. Daraus kommen immer wieder diese rosaroten Riesen in weißer Kleidung. Obwohl wir an unserem früheren Heimatplatz wesentlich gefährlicher gelebt haben, habe ich bereits gelernt: Mit diesen Viechern ist nicht zu spaßen. Das Essen direkt vor der Nase zu haben, ist wohl nicht nur ein Vorteil.

Die „Speisekammer" wie sie von uns allen genannt wird, ist ein großer metallener Block, direkt neben dieser hölzernen Tür. Schnell husche ich über den Boden. Ich bin wie ein Blitz, wenn mich jemand sehen würde, wäre ich schneller Weg als er „Pieps" sagen könnte.

Mit einem kräftigen Sprung lande ich direkt vor dem kleinen Loch, das mir als Eingang dient. Nach einigem Gewühl, habe ich mich an die Oberfläche gekämpft und blicke mich um.

Ich bin umgeben von Köstlichkeiten, aber ich muss mich beeilen. Als ich an einer gelben, stinkenden Schale vorbeimarschiere, erblicken meine Augen das, was ich mir am sehnlichsten gewünscht habe! Verheißungsvoll blitzt unter einer weiteren weißen Verpackung ein braunes, lockeres Stück Rinde heraus. Meine Beine rasen voran und schon bin ich an meinem Ziel angekommen. Was für ein Prachtexemplar, meine Kinder werden jubeln wenn sie das hier sehen!

Schnell mache ich mich dran und benutze meinen Mund um einige kleine Ecken abzunagen. Es schmeckt so gut, aber ich reiße mich zusammen.

Erst mal die Familie, ich bin doch schließlich kein Raudi!

Als ich genug Futter gesammelt und in kleine transportierbare Happen zerlegt habe, schleppe ich die erste Ladung Richtung Gang. Die Arbeit ist mühsam, immer wieder muss ich hin und her eilen, mir geht langsam die Puste aus.

Mein Puls rast in meinen Ohren und nach weiteren Minuten schreit mein Körper vor Anstrengung, aber ich gönne mir keine Pause. Jede weitere Sekunde, die ich hier vertrödel, kann lebensgefährlich sein.

Ich bin inzwischen beim letzten Päckchen angekommen. Keuchend kämpfe ich mich wieder nach oben und packe mit letzter Kraft den Brotkrummen in meine Mundwerkzeuge. Langsam drehe ich mich um. Das Bündel ist wirklich groß und unhandlich. Genervt zerre ich an ihm herum und reiße dabei meinen Kopf hoch, dann erstarre ich. Mit einem dumpfen Klong landet das Brot auf dem Boden.

Dieses Stück Holz, es ist auf! Aber das ist nicht meine größte Sorge, ein rosafarbener Riese ist vor der Speisekammer zum stehen gekommen. Selbst für seine Rasse muss er ein wirklich strammes Exemplar sein. Diese Menschen, oder wie sie sich auch nennen, sind mir wahnsinnig suspekt. Wie kann man nur so groß und doch so langsam sein? Nur zwei Beine, was für eine komische Konstruktion und dann damit auch noch das Gleichgewicht halten. Wie konnte sich nur diese Rasse durchsetzten?

Er trägt, wie die Anderen die ich bisher gesehen habe, ein weißen Panzer und eine schlabbrig wirkendes Beinkleid. Dieses ist kurz vor dem abstürzen und scheint mit jedem Schritt weiter nach unten zu rutschen. In seinem beängstigenden großen Mund, steckt ein weißer Stock, der nun als er sich zu mir umdreht, rot aufglimmt. Eine kleine Rauchwolke löst sich von ihm. Steckt sich der Kerl etwa absichtlich in Brand? Was für ein Dummkopf. Mein Blick gleitet von seinem Gesicht zu einem großen Sack, den er gerade nach hinten schleudert. Er holt wohl Schwung.

Als ich realisiere, dass ich mich bewegen sollte, ist es fast zu spät. Ich sprinte los. Ohne auf den Rest meiner Vorräte zu achten, springe mit den Kopf voran durch meinen kleinen gebauten Spalt. Keine Sekunde zu spät, der Aufprall dieses Beutels erschüttert die gesamte Speisekammer und ich falle den Rest meines Weges unkontrolliert hinunter. Verzweifelt versuche ich irgendwo Halt zu finden, aber purzelnd überschlage ich mich und fliege aus dem Loch im Boden und so auf den Beton. Der Aufprall raubt mir jegliche Luft und stöhnend versuche ich den Schmerz, der meinen Körper durchströmt, zu unterdrücken und mich nicht von ihm überwältigen zu lassen. Vollkommen erschlagen bewege ich mich erst einmal nicht mehr, alles dreht sich und mir wird speiübel. Das Rumsen der Füße des Menschens bedeutet, dass er sich wieder in Bewegung gesetzt hat.

Komm zu dir!" ertönt die schnarrende Stimme meiner Mutter, wie in Trance kann ich spüren wie sie zärtlich mit ihren Fühlern über meinen Kopf fährt. Mit letzter Kraft fange ich an jeden einzelnen Fuß zu bewegen. Alle noch da? Dann kann es ja weiter gehen!

Schnell rolle ich mich mit einem Ächzen herum. Alles in meinen Körper schreit vor Schmerzen, aber ich schenke dem keine Beachtung. Der Mensch ist vor mir zum stehen gekommen. Seine großen Augen weiten sich noch mehr und sein Mund verzieht sich vor Ekel. Er beugt sich langsam hinab und nun bin ich zum ersten mal Auge in Auge mit einem von diesen Viechern.

Ich sollte fliehen, mich aus den Staub machen! Aber diese Faszination, die dieser Riese auf mich ausübt, fesselt mich an Ort und Stelle. Langsam richtet er sich wieder auf, sein Mund verzieht sich zu einem Strich, dann fängt er an zu sprechen. Ich kann den Sinn dahinter nicht verstehen, aber ein Wort bleibt bei mir hängen. „Kakerlake!" Er spuckt diese Worte so voller Abscheu aus, dass ich schon Angst habe, dass er seinen komischen Stab dabei verliert.

Durch meine Mutter weiß ich, dass uns diese Riesen so nennen. Jetzt ist wohl die Zeit gekommen, mich zu verdünnisieren. Freundlich gestimmt ist er jedenfalls nicht.

Meine Theorie bestätigt sich schnell. Er hebt seinen Fuß, er wird doch nicht?

Ich habe wirklich Glück, dass diese Wesen so langsam sind. Schnell löse ich mich aus meiner tödlichen Starre und gekonnt husche ich los, schlängel mich an ihm vorbei. Keine Sekunde zu spät. Seine Beine heben und senken sich, kommen ohrenbetäubend auf den Boden auf, oft nur Millimeter von mir entfernt. Aber ich bin schneller. Die Erde bebt, meine Beine laufen zu Höchstleistungen auf, ich habe es nicht mehr weit!

Japsend schlittere ich nach links, weiche aus aber er wird immer besser! Mit einem letzten Sprint beschleunige ich noch einmal. Meine Beine verschwimmen vor meinen Augen, mein Herz pumpt verzweifelt aber ich kriege keinen Sauerstoff mehr in meine brennenden Lungen. Bitte, ich will so nicht sterben! Plötzlich höre ich ihn aufkeuchen, es ist ein komischer, erstickter Laut. Er scheint zurückzufallen. Unbeschadet schaffe ich es in mein Loch und wirble gleichzeitig herum um meinen Gegner aus sicherer Entfernung zu betrachten.

Sein Körper wankt gefährlich, er rudert wild mit dem Armen, aber keine Chance. Mit einem großen Donnern kommt er auf den Boden auf. Stille tritt ein. Das Einzige was man hört ist sein und mein wildes Keuchen. Ein kleiner Stein rollt bis vor zu meinen Füßen. Das kann doch nicht sein?! Es ist der kleine glitzernde Edelstein, den ich vorhin noch für meine Kleinen mitnehmen wollte. Er muss auf ihm ausgerutscht sein. Fassungslos mustere ich mein Lebensretter und kann mein Glück kaum fassen. Der wird dann wohl einen Ehrenplatz in unserer Höhle finden.

Erschöpft fange ich an die Brotkrummen zusammenzusammeln und sie Stück für Stück in unseren Tunnel zu schleppen. Als ich einige Zeit später wieder zu meiner, noch schlummernden Familie stoße und mich an meine Frau kuschle, lasse ich die Geschichte noch einmal Revue passieren. Ich glaube fest daran, das meine Mutter da ihre Finger im Spiel hatte. Sie hat diese glänzenden Dinge immer geliebt.

In warmen Gedanken an die Behaglichkeit meiner Kindertage und an meine Familie schlummere ich langsam wieder ein. Das regelmäßige Tropfen im Hintergrund kriege ich bald nicht mehr mit.

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Eine Kurzgeschichte für den Schreibwettbewerb von sweet_predator. Das zugehörige Thema war: Schreibe über eine Stadt.

Ein kleiner Text hat mich dazu inspiriert: Wusstet ihr das viele Kakerlaken monogam leben? Hat mich sehr verblüfft und Zack, schon musste ich darüber schreiben ;D

Über Kommentare, Anregungen und Kritik freue ich mich wie immer sehr :D

(1982 Wörter)

LG Mia

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